Stones In Exile (2010)
Ein Sommer voller Rock n’roll-Hedonismus im Zeichen von Sodom und Gomorra unter der Sonne des Mittelmeers…
Aufgrund der hohen Steuerbelastung in ihrer englischen Heimat verlegten die Bandmitglieder der Rolling Stones ihre Wohnsitze Anfang der Siebziger ins deutlich günstigere Frankreich, in welchem man jedoch alsbald Anpassungsprobleme – seien es nun die ungewohnte Milchqualität (und Milch braucht der Engländer bekanntlich für seinen „Fünf-Uhr-Tee“!) oder die fremde Sprache – und den ‚Homesick-Blues‘, besonders Seitens des Schlagzeugers Charlie Watts und des Bassisten Bill Wyman, bekam. Nichtsdestotrotz lebte die damals schon „größte Band der Welt“ ein weiterhin fettes Leben im sonnigen Süden: Sänger Mick Jagger heiratete Hals über Kopf seine erste Ehefrau Bianca, der neu zur Band gestoßene zweite Gitarrist Mick Taylor empfand staunenden Auges alles als ein einzig großes, luxuriöses Abenteuer, Leadgitarrist Keith Richards lebte nach dem Slogan „Wir gegen die Welt – fickt euch!“ zusammen mit Model Anita Pallenberg und Kind in der angemieteten Nobelvilla Nellcôte in Villefrance-sur-Mer an der Côte d’Azur und ließ es sich gut gehen. Klar, wenn man Marseille mit seinen illegalen Verlockungen auf der einen, Italien und die dortige Mafia auf der anderen Seite hat, lässt sich der Rock-and-Roll-Lifestyle der alten Heimat ohne größere Probleme auf die neue, zeitweilige übertragen…
Als 1971 die Aufnahmen zum Nachfolger von „Sticky Fingers“ (No. 1 sowohl in den britischen als auch in den US-amerikanischen Charts) beginnen sollten, man jedoch – auch nach langer Suche – kein geeignetes Studio in Südfrankreich fand, richtete die Band sich mit Produzent Jimmy Miller – auch aus Bequemlichkeit – eines im Keller von Richards Villa ein. Und siehe da: wohl nie waren die Rolling Stones kreativer und produktiver – klar, schließlich hockte man bei Sonne und allerlei legalen und illegalen Substanzen auf einem Haufen (die Behausung von Watts etwa lag circa sieben Autostunden entfernt) und konnte dem Anderen – so seltsam sich das auch lesen mag – wohl am ehesten dadurch entfliehen, indem man gemeinsam Musik machte, besonders nachts und im Normalfall auch in zwölfstündigen Endlossessions. Und glaubt man den Schilderungen von Augenzeugen, so muss es ein wahres Bild für die Götter der Unterwelt gewesen sein: Alkohol und alle erdenklichen Drogen gingen praktisch nie zur Neige, immer waren Menschen anwesend, Freunde wie Fremde – und sie waren überall, ebenso wie Manager, Köche, Bedienstete, Junkies. Nicht umsonst fallen Begriffe wie „La dolce vita“ oder „Fellini“. In all der gelebten Rock n’Roll-Dekadenz waren Kinder anwesend, während Drogen vernichtet, innere Dämonen geboren und ausgetrieben und nicht selten acht Musiker gleichzeitig – neben der Rumpfband aus Jagger, Richards, Watts, Wyman und Taylor waren auch Saxofonisten und zahlreiche Gastmusiker wie Dr. John oder Billy Preston anwesend – sinn- wie sinnfreie Rocksongs für die Ewigkeit auf zahllose Bänder bannten. Als der Sommer vorübergegangen und nicht wenige Instrumente scheinbar unbemerkt entwendet waren, und die örtliche Polizei anfing, gegen die Band wegen Drogenbesitzes zu ermitteln, hätte man wohl kaum einen besseren Zeitpunkt erwischen können, um sich nach Los Angeles zu verziehen und das Doppelalbum in den dortigen Sunset Sound Recorders Studios fertigzustellen.
„Exile On Main St.“ mag kein „Hit-Monster“ sein (obwohl etwa mit dem Glückspiel-Song „Tumbling Dice“ mindestens einer der Stones-Evergreens enthalten ist), stellt jedoch aufgrund der Gesamtatmosphäre eines der dichtesten, rohsten, kreativsten und besten Alben im Gesamtkatalog der Rolling Stones dar. Schon damals spaltete das 13. Studioalbum der britischen Band, welche in diesem Jahr ihr 50jähriges Jubiläum feiert, Fans wie Kritiker, hat jedoch auch nach 40 Jahren erstaunlich wenig Patina angesetzt und wurde vom „Rolling Stone“ (sic!) – nicht eben zu Unrecht – auf Platz sieben der „500 besten Alben aller Zeiten“ gesetzt.
In Stephen Kijaks einstündiger Dokumentation „Stones In Exile“ kommen neben Augenzeugen wie der Band selbst, die sich bezüglich ihrer musikalischen Wurzeln und Interessen, welche gestern wie heute bei Richards und Watts klar tief im Blues des US-amerikanischen Südens, bei Jagger jedoch – welch‘ Wunder – eher im Pop liegen, äußern, Anita Pallenberg oder Produzent Jimmy Miller, auch Don Was (Musiker und Produzent), Caleb Followill (Kings Of Leon), Will.I.Am (Black Eyed Peas), Jack White (The White Stripes, The Dead Weather…), Sheryl Crow, Regisseur Martin Scorsese und Charakterschauspieler Benicio Del Toro zu Wort. Wer also einen passenden Einstieg in den nicht eben kleinen Stones’schen Musikkosmos und/oder mehr über die Entstehungsgeschichte zu „Exile On Main St.“ erfahren möchte, dem sei diese Dokumentation, die auch viele ikonographische Fotos der Aufnahmesessions enthält, wärmstens empfohlen.
Wer noch mehr Einblicke gewinnen möchte, dem seien darüber hinaus die 2010 erschiene, remasterte Doppel-CD-Edition des Albums, welche zehn bis dato unveröffentlichte Stücke enthält, oder das Box-Set „Ladies & Gentlemen
„, welches neben der Dokumentation auch den Konzertfilm „Ladies & Gentleman…The Rolling Stones“ sowie Bonus-Material und einige Fan-Gimmicks (Reproduktion des Original-Filmposters, Reproduktion des Fanschals, der auf der Filmpremiere verteilt wurde, zwei Frames aus der 35mm-Filmkopie) enthält, nahe gelegt – wird nämlich hier und da für vergleichsweise kleines Geld „rausgehauen“ (ich selbst habe die Box für gerade einmal die Hälfte des eigentlichen Preises in einem holländischen Elektrodiscounter auftreiben können)…
Hier der Trailer zur Dokumentation…
…und das bereits oben erwähnte Stück „Tumbling Dice“, welches von „Exile On Main St.“ stammt:
Rock and Roll.