Das Album der Woche


 Woodkid – The Golden Age (2013)

Woodkid - The Golden Age (Cover)-erschienen bei Island/Universal-

Man schließe die Augen und stelle sich einmal folgendes Bild vor: der Held der Geschichte erhebt sich taumelnd aus einem Berg voll Asche und Unrat. Nur langsam wagt er, die schmerzenden Augen zu öffnen, merkt jedoch schon bald, dass durch all die Rußwolken längst nur spärliches Sonnenlicht fällt. Er wendet den Kopf, erst zur einen, dann zur anderen Seite, und blickt doch überall aufs gleiche Elend: brennende Baracken, in sich versunkene Gebäude, in deren Mitten höchstens noch einzelne Pfeiler aus Metall und Stahl ragen und so trotzig von besseren, heileren Zeiten erzählen. Bei Gott, er mag sich partout nicht daran erinnern, wie er hier her gekommen ist – in diese grausame Kulisse, an diesen trostlosen Ort. In seinem Herzen macht sich ein seltsames Gefühl breit, eines, das er wohl noch nie gefühlt haben mag… Ist es Angst? Gleichgültigkeit? Oder gar dieser sagenumwobene innere Frieden, vom dem ihm die älteren Trunkenbolde als Kind so oft selig für sich hin lallend erzählt hatten? Während er sich noch diesem innerlichen Überschwang hingibt, meint er, in einiger Entfernung eine Gestalt durch den Nebel waten zu sehen. Ist sie es? Ist sie zurückgekommen? Oder spielt ihm sein eigener Verstand Streiche, so kurz vor dem Ende?

Woodkid-Album-Trailer-The-Golden-Age

Nein, der Franzose Yoann Lemoine ist wahrlich keiner, dem es beliebt, kleine Brötchen zu backen. Das stellte der Absolvent der Lyoner Kunsthochschule bereits in der Vergangenheit unter Beweis, als er – als Creative Director – Musikvideos von Größen wie Rihanna, Taylor Swift, Lana Del Rey oder Katy Perry wahlweise in kunstvolle Schwarz-Weiß-Settings tauchte oder ihren Songs das gewisse episch-opulente optische Etwas verpasste. Und auch seinem ersten eigenen Stück „Iron“, welches sich nun auch auf dem Debütalbum wiederfindet, ließ er vor zwei Jahren das ganz große Kino angedeihen: wehende Fahnen, wilde Tiere, Krieger und Schlachtszenen – ein monumentaler erster Eindruck in unter vier Minuten. Dass bei dieser Visitenkarte alsbald Computerspiel- (für „Assassin’s Creed: Revelation“), wie Sportartikel- (Nike) und Modehersteller (Dior Homme) an die Tür des Mittzwanzigers klopften, ist bei all diesen höchst sylischen optischen Bewerbungsschreiben kaum verwunderlich…

Yoann Lemoine

Und doch stellt die mittlerweile 30-Jährige seine Kunst stets in den Vordergrund und wagte auch – und gerade – bei seinem Debütalbum „The Golden Age„, welches nun unter dem Künstlernamen Woodkid erscheint, keinen Schnellschuss. In mehrjähriger Arbeit schrieb er Songs, von denen es vierzehn letztendlich aufs Album geschafft haben, türmte aus deren introspektiven Piano-Skizzen heraus wahrhaft opulente Orchesterwerke auf, nahm hier und da in Frankreich mit den verschiedensten Orchestern auf – vom Orchestre National de France über das Ensemble Orchestral de Paris bis hin zum Orchestre de la Police – und fügte schlussendlich digitale Spuren im Heimstudio hinzu. Und so klingt beinahe jede der insgesamt 49 Minuten vor allem: groß, episch und monumental. Lemoine lässt japanische Daiko-Trommeln zum imaginären Kriegsbeginn aufspielen, Fanfaren die Schlacht einläuten, Songs im Percussion-Schweinsgalopp über Berge und Felder jagen („The Great Escape“), Streicher mal bedeutungsschwanger aufheulen, mal tränenreich seufzen, während er selbst am Piano Geschichten vom Verlust der Unschuld, dem Wiederfinden inmitten der Adoleszenz, vom Hoffen auf Liebe („The Great Escape“), vom Warten auf Liebe („I Love You“) oder von (un)längst verlorener Liebe („The Shore“) erzählt. Mit einer Stimme, die stets an den grandiosen androgynen Klaus Noomi-Wiedergänger Antony Hegarty (Antony & The Johnsons) erinnert, dessen engelsgleiches Timbre jedoch nie ganz erreicht, sind Lemoines cinematoscopische Weisen zwar voller plakativer Krieg- und Frieden-Metaphorik, hüllen den Hörer jedoch in ein sanftes Tuch aus melancholisch märchenhaften Geschichten, die an ferne Welten aus „Games Of Thrones“ oder Tolkiens „Herr der Ringe“ erinnern. Damit das Ganze am Ende nicht zu einem faulig riechenden Mittelalter-Revival gerät, mischt Lemoine dem ganzen grundpoppige Motive („I Love You“) oder moderne Synthesizerschleifen (etwa in „Boat Song“) bei.

Man merkt, dass Yoann Lemoine für sein Woodkid-Debüt nichts übers Knie brechen wollte, denn „The Golden Age“ ergibt ebenso als großes Ganzes einen Sinn, wie auch die Songs als Einzeltitel kleine in sich geschlossene Einheiten bilden – man höre sich nur „Stabat Mater“ an, bei dem sich das Orchester – sogar in diesem sowieso schon überhöhten Kontext – zu unglaublich monumentalen Höhen aufschwingt, und am Ende gar noch von einem Chor abgefangen wird! Carl Orff meets Stanley Kubrick! Zu jedem der vierzehn Stücke laufen Szenen vor dem inneren Auge des Hörers ab, genau so, wie es der Soundtrack-Fan Lemoine beabsichtigt hat. Und für all jene, die unter akuter Fantasiearmut leiden mögen, hilft er mit den – natürlich – selbst verantworteten cineastischen Begleitvideos zu seinen Stücken selbst nach und lässt darin Traumwelt um Traumwelt zur Musik entstehen. Doch auch er weiß, wie er kürzlich in einem Interview zu Protokoll gab: „Wenn der Song gut ist, dann ist er gut. Der Song steht immer über dem Video, weil die Leute in erster Linie das Lied hören wollen. Du wirst kein gutes Musikvideo hinbekommen, wenn du keinen guten Song hast. Meiner Meinung nach kannst du in einem Video so viel machen, wie du willst. Und wenn ein Video den Song zerstört, war er einfach nicht gut genug.“ – It’s the song, not the singer.

Woodkid++at+studio

„The Golden Age“ bietet dem Hörer 49 Minuten gelungen orchestrierte Realitätsflucht. Und obwohl das Multimedia-Wunderkind Lemoine sein großes Ziel, sich mit seinen weihevoll melancholischen Songs eine eigene „kleine“ Nische zu schaffen, erreicht hat, ist das Album als Ganzes doch schlussendlich ein gehöriger Overkill an Opulenz. Denn wer mag all den höchst kunstvoll angereicherten Zucker, der aus beinahe jeder einzelnen Minute des imaginären Kriegsgeheuls von „The Golden Age“ dröhnt, schon über die Maßen oft über sich ergehen lassen? „The Golden Age“ ist der potentielle Soundtrack von Michel Gondrys filmischer Version des „Herrn der Ringe“. Oder zu einer melancholischen Apokalypse-Verfilmung von Spike Sponze. Alles in allem jedoch: feinster cinematoscopischer Kopfkinobalsam für die Seele.

Die Erstausgabe des Albums wartet übrigens als Spezialausführung in opulenter Buchform auf…

Special Edition

 

 

Wer Woodkids erste Erwähnung hier auf ANEWFRIEND (im Februar diesen Jahres) noch einmal nachlesen mag, der kann das gern hier tun…

…und sich hier die bereits empfohlenen tollen Videos von Yoann Lemoine zu seinen eigenen Songs (genauer: zu „Iron“, „Run Boy Run“ und „I Love You“) zu Gemüte führen:

 

Auch wahnsinnig beeindruckend ist dieser Livemitschnitt der Stücke „Baltimore’s Fireflies“ und „Stabat Mater“ aus dem Le Grand Rex, Paris:

 

Wer ein wenig mehr über die Person hinter Woodkid erfahren mag, der kann sich gern dieses Interview von Highsnobiety TV mit Yoann Lemoine ausschauen:

 

Rock and Roll.

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Ein Gedanke zu „Das Album der Woche

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