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Das Album der Woche


Foo Fighters – But Here We Are (2023)

-erschienen bei Roswell/RCA/Sony-

Ein in vornehmem Weiß gehaltenes Album. Von den Foo Fighters. Jetzt, ausgerechnet. Natürlich ließe sich das Ganze trefflich in eine ausführliche popkulturelle Ahnenreihe setzen, schließlich haben Größen wie die Beatles bekanntlich ein solches „Weißes Album“ in ihrer Diskografie, Weezer (die heftigst daran werkeln, die komplette Farbpalette albumzubetiteln) ebenso, selbst die vom Feuilleton seit eh und je für ihren Hamburger-Schulenen Diskurs-Rock geliebten Tocotronic haben eins aufzubieten – und wer nun noch den Proll-Sprechgesangsfeilbieter Haftbefehl oder die unterbelichtete Scheißband titels Böhse Onkelz erwähnt, bekommt mindestens eine Woche tonfreien Stubenarrest. Doch Popkultur hin oder her, Popkultur beiseite. Denn anstatt auf Paul McCartney, John Lennon und Co. zu schielen, dürften die Foo Fighters mit dem einerseits stylish-cleanen, andererseits recht sparsamen Langspieler-Artwork-Konzept wohl etwas ganz Anderes im Sinn gehabt haben, schließlich steht das Weiß – nebst dem „the light the dead see“ – auch für einen Neuanfang, für ein von nun an zu füllendes leeres Blatt, für eine trotzige Geste entgegen aller Trauer, ein bewusste Bekenntnis zum Weitermachen, ohne genau zu wissen, wie man eigentlich weitermachen soll. Es steht für die Fassungs- und Orientierungslosigkeit, mit der sich die sonst eher von Erfolgen verwöhnte US-Rockband vor nicht allzu langer Zeit unvermittelt konfrontiert sah. „But Here We Are“ – tja, trotz alledem stehen wir nun hier. Was war passiert? Wir erinnern uns…

„I’ve been hearing voices / None of them are you / Late at night, I tell myself / Nothing this good could last forever“: Im März 2022 starb Taylor Hawkins, und mit ihm nicht nur der langjährige Schlagzeuger der Foo Fighters, sondern auch ein integraler Teil der Band und einer von Dave Grohls engsten Vertrauten. Auch deshalb war lange Zeit verdammt unklar, wie es mit einer der größten Rockkombos unseres Planeten weitergehen würde, ja sollte. Aber Frontmann Dave Grohl wäre nicht Dave Grohl, wenn er als erprobtes Stehaufmännchen nicht für nahezu alles einen Ausweg im Ärmel hätte – oder zumindest ein Ventil, ein Pflaster, irgendetwas gegen den Schmerz eben. Schon das selbstbetitelte 1995er Debüt, welches das damals als „Ex-Nirvana-Drummer“ bekannte Allround-Talent im Alleingang einprügelte, wurde bekanntlich aus einem ganz ähnlichen Verlust geboren. Wenn man so mag, schließt sich mit „But Here We Are“ nun also in gewisser Weise ein gigantischer Kreis. Das elfte Foo Fighters-Album steht nicht nur im Zeichen Hawkins‘, sondern verarbeitet auch den Tod von Grohls Mutter Virginia im August des vergangenen Jahres. Und ähnlich wie damals eine ungestüme Post-Grunge-Platte die Leere füllte, die Kurt Cobain zurückgelassen hatte, liefern die Foo Fighters – und das sowohl sich selbst als auch ihren Fans – auch heute einen Rettungsanker in schweren Zeiten: Krankten Vorgängeralben wie „Sonic Highways“ oder „Concrete And Gold“ noch an der aufgehenden Schere aus großen Ideen versus mangelnder Inspiration, spielen Dave Grohl und seine Band nun – so zynisch sich’s im ersten Moment auch lesen mag – deutlich befreiter auf und liefern ein zwar selten spektakuläres, aber äußerst gelungenes Werk ab, dem man die Hingabe – und natürlich auch die Last – in beinahe jeder Sekunde anhört. Es heilt vielleicht nicht. Aber es hilft.

Eigentlich wolle er nach dem vor allem durch seine Überproduktion ohnehin schon aus der Reihe tanzenden, 2021 erschienenen „Medicine At Midnight“ ein „wahnsinniges Prog-Album“ kreieren, hatte der mit allerlei Kreativprojekten eh dauerbeschäftigte Grohl 2022 noch frech angekündigt. Dann jedoch starb sein Best Buddy, sein Foo’scher Beatgeber, plötzlich, im Alter von gerade einmal fünfzig Lenzen, mitten im nach Corona erst wieder angelaufenen Tourneebetrieb, allein in einem Hotelzimmer in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. Und anstatt gramgebückt das Handtuch zu werfen (ohnehin eine Option, die man Grohl, Bassist Nate Mendel, den Gitarristen Chris Shiflett und Pat Smear sowie Keyboarder Rami Jaffee kaum zugetraut hätte), schüttelten sich die Foos ebenso kurz wie tränenreich, veranstalteten im September 2022 zwei großartige, starbesetzte Tribute-Konzerte für ihren verstorbenen Freund in London und Los Angeles – und besinnen sich auf ihrem ersten „Post-Hawkins-Album“ ganz auf ihre Stärken, drehen die Amps nicht selten auf Anschlag und bleiben die meiste Zeit erfrischend bodenständig. Ein Mittelfinger an das olle Arschloch Schicksal? Haben Dave und Band einmal mehr in Töne gebannt – und schauen dennoch ab und an mal zurück auf frühere Werke. So hätte sich etwa „Under You“, das zu Gitarrenwänden a là Hüsker Dü  ganz explizit Grüße an Taylor Hawkins aussendet, auch gut auf dem 1999 veröffentlichten Langspieler „There Is Nothing Left To Lose“ samt dessen verwaschenem Sound gemacht (welcher übrigens damals der erste mit Ex-Alanis Morissette-Schalgzeuger Hawkins an Bord war). Der Titelsong schraubt sich wild und euphorisch nach oben, packt die altbekannten „Ooooh“s aus und stellt eindeutig klar, dass die Foo Fighters sich trotz der Umstände keineswegs ins Jammertal zurückziehen möchten. Ähnlich konsequent kommt „Nothing At All“ daher, das sich im Refrain von einer zackigen New-Wave-Nummer in einen Grungerocker verwandelt und dem nicht im Traum einfällt, einfach so klein beizugeben. Dennoch verfällt die Band nicht in tumbe Durchhalteparolen, sondern trotzt in Rrrrrock getaucht tapfer und überlegt allen Widrigkeiten – wer genauer hinhört, kann sich an so mancher Stelle einer Gänsehaut kaum erwehren. Richtig melancholisch wird es erst nach hinten raus: „You must release what you hold dear“, fordert Grohl auf klassischer Steigerung im dezent beatles’esken „Beyond Me“, bevor er sich zum Schluss doch noch ein wenig austoben will.

„Hey kid, what’s the plan for tomorrow?“: Wie man sich ganz Prog-mäßig an einen aus mehreren Teilen bestehenden Zehnminüter wagt, beweisen die Foos mit „The Teacher“. Obwohl der Spannungsbogen nach dem ersten Drittel ein wenig ausfranst (und die Herren daraufhin einfach zuerst träumerisch, dann psychedelisch, dann nahezu halsbrecherisch weiterrocken), zählt hier vielmehr der Inhalt, schließlich ist Dave Grohl hier einmal mehr nicht der von Fanmassen umjubelte Rockstar, sondern der Sohn – und tut das, was man seinen Eltern gegenüber wohlmöglich viel zu selten macht: Er bedankt sich für alles, was ihm seine Mutter Virginia, die tatsächlich bis zuletzt als Lehrerin gearbeitet hat, beigebracht hat. Das mag nicht frei von Kitsch sein – wie sollte es auch –, trifft einen in seiner Unverstelltheit jedoch noch unmittelbarer als etwa das Titelstück. Vermutlich wird “The Teacher” selten bis nie auf einer Setlist der Foo Fighters auftauchen, auf “But Here We Are” ist der Song aber zentral. Er appelliert, nicht bis zum Tod einer geliebten Person zu warten, ehe man sich daran erinnert, was man alles an ihr hat(te). Das Stück fordert dazu auf, Dankbarkeit für die vielen kleinen Dinge zu zeigen; für die flüchtigen Momente, denen man zunächst keine Bedeutung beimisst, die einen aber letztlich als Mensch ebenso ausmachen wie die Erfolge und Glanzlichter: „You showed me how to breathe / Never showed me how to say goodbye“. Auch das in diesem Sinne als Geschwistersong durchgehende „Show Me How“, in dem die Foo Fighters tatsächlich gelungenen Dreampop wie aus dem Lehrbuch präsentieren, widmet sich der Verstorbenen und liefert mit Unterstützung von Grohls Tochter Violet am Mikro (die bereits im Zuge der Tribute-Shows ihr weltweit bestauntes großes Bühnendebüt ablieferte) noch dazu einen echten „family effort“, eine kleine Staffelstabübergabe an die nächste Rock-Generation. Das alles funktioniert tadellos – gegen derartige kleinere Experimente beeindrucken „The Glass“ mit seinen pulsierenden Riffs und treibendem Schlagzeug oder der Albumopener „Rescued“ weniger, sind aber immer noch grundsolides Foos-Futter (während der Fünfer wiederum ausgerechnet im sich hinter ein paar Gitarrenriffs versteckenden „Hearing Voices“ einfach klingt wie irgendeine Formatradio-Mainstreamcombo). „Is this happening now?“ – Gelebt wird im Hause Grohl auch 2023 vor allem im Hier und Jetzt.

Im Studio eingetrommelt hat Dave Grohl die Platte – hörbar – selbst, zur Live-Besetzung ist mittlerweile Profi-Schlagzeuger Josh Freese dazugestoßen, der im Laufe seiner über dreißigjährigen Karriere „an 250 bis 300 Alben“ (laut eigener Schätzung) mitgewirkt und bei zig Bands und Künstler*innen von den Vandals über A Perfect Circle bis hin zu Nine Inch Nails, Chris Cornell, Guns N’Roses, Kelly Clarkson, The Offspring oder Sting ausgeholfen hat – eine gute, eine offensichtliche Wahl für die großen Rock-Bühnenbretter. Aber schlussendlich gehört dieses elfte Foo Fighters-Album ganz dem Frontmann. „Rest“ schüttelt zwischen Bedroom-Demo und erhabenem, beinahe schrägem Noise-Finale kurz vor Ende der knapp fünfzig Minuten noch einmal sämtliche Fesseln ab und beschließt „But Here We Are“ mit einer tröstenden Entwarnung: „You will be safe now“. Klar, die ganz, ganz großen Arena-Momente mögen hier selten sein (und sich ja dank Evergreens wie „Everlong“, „All My Life“, „The Pretender“, „Best Of You“ oder „My Hero“ auch längst auf jeder Konzert-Setlist wiederfinden), die Foo Fighters zeigen sich vielmehr roh, direkt, unmittelbar – und zwar mit keiner kreativen Kehrtwende (die durfte auch niemand ernsthaft erwarten), dafür jedoch mit so einigen Trademark-Essenzen ihres Schaffens. Dabei halten sie optimistisch die Köpfe über Wasser: Das erste Album unter den veränderten Umständen ist schlussendlich weder ein Requiem noch ein Nachruf geworden, sondern ein entschiedener Blick nach vorn. Und selbst wenn die bandinternen Nackenschläge am Ende kein durchs Optische befeuertes Meisterwerk erzeugt haben (aber dennoch eines der besten und wichtigsten der Bandgeschichte), so bleiben doch ein Appell – „Gebt niemals auf!“ – und eine freundliche Erinnerung: nämlich, was Musik zu leisten imstande ist, wenn der Rest der Welt soeben unvermittelt über einem zusammengebrochen ist.

  

  
  

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Sunday Listen: Palila – „Mind My Mind“


(gefunden bei Facebook)

Ornithologen wissen’s vermutlich, der wenig(er) zwitschernde Rest darf mit diesem Fakt gern (s)eine Allgemeinbildungslücke füllen: Früher hieß der Schwarzmasken-Kleidervogel einmal Palila – und das ist dann auch der Name, den sich die Hamburger Matthias ‚Mattze‘ Schwettmann und Christoph Kirchner für ihr gemeinsames Bandprojekt aussuchten, als sie selbiges anno 2019 ins Leben riefen und etwas später – mitten in der Pandemie – dann noch durch den hauptberuflich als Musikjournalist arbeitenden Schlagzeug-Veteranen Sascha Krüger ergänzten. Apropos „Pandemie“: Als Palila nach zwei EPs im November 2021 ihren Debütlangspieler „Rock’n’Roll Sadness“ auflegten, war die vermaledeiete Weltstillstandspause noch in vollem Gange – und somit gebührt dem umtriebigen Trio nun die „Ehre“, zu den wenigen Bands zu gehören, die dieser Tage bereits ihr zweites Corona-Album vorlegen.

Mind My Mind“, was sich in etwa mit „Achte auf meine Gedanken“ übersetzen ließe, ist jedoch glücklicherweise kein Werk geworden, welches sich die Pandemie zum expliziten Thema macht, sondern eines, das eher einen Gegenentwurf zu Dauerstreminglangeweile, Dosenravioli und leeren Klopapierregalen darstellt. Dabei beschäftigen sich die beiden Songwriter Schwettmann und Kirchner viel mit den inneren Gedankenwelten, welche bereits im Coverartwork schematisch angedeutet werden und resümieren in Songs wie dem melancholischen Opener „Planet C4DCB“ oder „Minnesota Winter“ (einem Song über das Saufen, wie Mattze attestiert) auch viel über das Musikerleben.

Kreativkopf Schwettmann, der auch als Gitarrist und Sänger fungiert, verarbeitet in den neuen Stücken zudem seine Scheidung und fügt in Songs wie etwa „Try To Fail Again“ noch einige sozialkritische Gedankengänge aus persönlicher Sicht bei, die im besten Falle in motivierenden Erkenntnissen gipfeln – wie der, dass man aus Fehlern durchaus lernen kann. Das Textliche ist Palila also schon irgendwie wichtig – aber keineswegs der wichtigste Grund, warum die Jungs zusammen spielen. Das sind vielmehr die „geilen Songs“, wie Schlagzeuger Sascha Krüger anmerkt, der allein derentwegen aus der musikalischen Frührente zurückgekehrt ist und sich Palila angeschlossen hat.

„Palila spielen Musik für Menschen mit Leben auf der Uhr und schmerzhaften Erinnerungen im Gepäck. Mit echten Gründen für Wehmut und Melancholie, die sie in ihren Sound packen.“ (die Band über sich selbst)

Freilich mag es nicht der Sound der Stunde sein, den die drei Hanseaten von Palila da auf ihrem zweiten Langspieler präsentieren. Dafür ist er (der Sound) jedoch hemmungslos vereinnahmend, nahezu unkaputtbar – und vielmehr zeitlos denn retro. Zudem gibt sich die Combo gar nicht erst große Mühe, einen Hehl aus all den zahlreichen musikalischen Präferenzen und Inspirationsquellen zu machen – und plündert sich umso munterer durch die Musikhistorie. So listen die Jungs zum Beispiel Wilco, Big Star oder die Replacements als Vorbilder auf und lassen auch dementsprechende musikalische Referenzen in ihr tönendes Tun einfließen. Dazu kommen noch so einige Acts aus der Zeit den Grunge- und Indie-Rock-Szenen der seligen Neunzigerjahre: mal klingen Buffalo Tom an, mal Hüsker Dü oder die frühen Smashing Punpkins – und gaaaaaanz viel Dinosaur Jr. sowie Nada Surf. Nur bei Neil Young ist sich das Dreiergespann nicht ganz so einig, denn während Schwettmann und Bassist Kirchner bekennende Fans sind (und Schwettmann auch fast genauso schön wie „Uncle Neil“ knödeln kann, wenn er denn nicht gerade ebenso windschief trällert wie J Mascis), hält Krüger den kanadischen Folkrocker mit US-Pass für – Frevel, Frevel! – überbewertet und bemüht sich aus Leibeskräften gegenzusteuern, wenn die Sache denn mal zu sehr in Richtung Crazy Horse abzudriften droht… Und am Ende sind wohlmöglich gerade solche kleinen geschmacklichen Dissense das Palila’sche Erfolgsgeheimnis, denn im fad-bloßen Emulieren von bereits Gehörtem sieht das Trio nicht seine Aufgabe. Songs wie „Restless“, das bereits erwähnte „Try To Fail Again“ oder auch das tolle, von pulsierenden Bassläufen getriebene „Circles“ gefallen gerade deswegen, weil hier nicht ein Stil bedient, ein Vorbild zitiert oder eine musikalische Idee verwirklicht wird, sondern immer alles schön munter kombiniert, gedoppelt und vervielfältigt wird, bis dabei am Ende ein eigenständiger potentieller kleiner Hit ums Eck lugt – mindestens. So oder so bekommen alle geneigten Ohren hier klassischen Indie Rock vom Feinsten präsentiert – hymnisch und melancholisch, mit positiven Enden und hartnäckigen Melodien.

   

 
 
 

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Song des Tages: Sir Chloe – „Hooves“


Mit den Pixies oder Beck auf Tour zu gehen und mit Harry Styles (ja, genau dem Harry Styles) befreundet zu sein, noch bevor man sein Debütalbum veröffentlicht hat, kann schon für mächtige Vorschusslorbeeren sorgen – Millionen von Spotify-Streams hin oder her. Da stellt sich – halb logisch, halb selbstverständlich – die Frage: Wie gut ist diese Band, die von solch hochgelobten und einflussreichen Künstlern unterstützt wird, nun wirklich? Und zumindest im Fall von Sir Chloe kann ebenjenes Fragezeichen mit einem fixen „Tatsächlich gar nicht mal übel!“ beiseite gewischt werden.

Gänzlich neu ist die 2017 gegründete Newcomer-Band um Sängerin, Songwriterin und Gitarristin Dana Foote, zu der noch Gitarrist Teddy O’Mara, Bassistin Emma Welch, Keyboarder Austin Holmes und Schlagzeuger Palmer Foote gehören, freilich nicht, schließlich machte man bereits 2020 mit der EP „Party Favors“ sowie dem viralen Mini-Hit „Michelle“ auf sich aufmerksam. Seitdem hat das aus dem US-amerikanischen Vermont stammende Quintett fleißig an ihrem Sound-Outfit und neuen Songs gewerkelt. Das Ergebnis: ihr nun erschienener Debüt-Langspieler „I Am The Dog„, der sich klanglich irgendwo zwischen Neunziger-Grunge, St. Vincent und PJ Harvey positioniert – in elf recht kompakten Akten, die zwar nie die Vier-Minuten-Marke reißen, dafür jedoch umso düsterer schimmern, faszinierendst einlullen, und an den richtigen Stellen narkotisch zubeißen.

Mit am besten beweist all das die vorab veröffentlichte Single „Hooves“, in welcher Sir Chloe reichhaltige Wandteppiche aus düsteren Gitarren, melodischen Akkordwechseln und der lasziv-lässigen Stimme von Leadsängerin Foote weben, in deren Berge sie sich anschließend kopfüber hinein stürzen. Liest sich enigmatisch? Nun, dazu passen denn auch Dana Footes Textzeilen: „I don’t wanna hold hands / I don’t wanna hold hands / You’ve been chewing my hair / Over and over again“.

Gleichsam symbolträchtig und rätselhaft gibt sich das dazugehörige Musikvideo, bei dem Molly Hawkins und Grant Spanier Regie führten – hochstilisierte Bilder, eine dezent grungy Ästhetik sowie ein Hauch von Mystik inklusive. Es beginnt mit einer Szene, in der Foote allein in einem roten Raum in weltbester „Twin Peaks“-Optik steht und ein Lamm auf ihren Schultern trägt. Während der Song immer intensiver gerät, wandert die Sir Chloe-Frontfrau mit dem an die junge Madonna erinnernden Porzellanpuppengesicht anschließend durch eine Reihe weiterer Räume und manische Montagen, in denen ihr eine wachsende Anzahl von Schafen und Lämmern als einzige Gesellschaft dient. David Lynch hätte es wohl kaum besser hinbekommen.

Wen all dieser optische Mystizismus und das in manchem Moment doch recht schroffe Klangoutfit nicht längst in die Flucht geschlagen haben, der sollte auch den anderen Songs von „I Am The Dog“ durchaus (s)ein Ohr leihen, denn die Platte eignet sich sowohl als Untermalung eines schwülwarmen Roadtrips als auch als Soundtrack für bierselige Abende im heimischen Garten und schafft es, sowohl die helle Sommersonne als auch den dunklen Abendhimmel in sich zu vereinen. Die Empfehlung „Die sollte man im Auge behalten!“ mag zwar oft etwas vorschnell Verwendung finden, doch wenn Sir Chloe ihren derzeitigen Weg fortsetzen, werden sie wohl nur schwerlich zu übersehen sein…

  
 

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Das Album der Woche


Alex Lahey – The Answer Is Always Yes (2023)

-erschienen bei Liberation-

Alex Lahey wurde in ihren bisherigen dreißig Lebensjahren wohlmöglich bereits recht oft mit dem unschön-finalen Wort „Nein“ konfrontiert. So beschreibt sie selbst, wie sie schon früh ihr Außenseitertum spürte und es sich für sie als queeres Migrantenkind so anfühlte, als sei die Welt einfach nicht für sie gemacht. Verwunderlich ist es dennoch nicht, dass ihr drittes Album nun den Titel „The Answer Is Always Yes“ trägt, schließlich hat Laheys Musik die Umarmung anderer verlorener Seelen schon immer über die eigenen Tauchgänge ins Jammertal Selbstmitleid gestellt. So verwies etwa der ziemlich genau vier Jahre zurückliegende Vorgänger „The Best Of Luck Club“ auf empathische Kneipengespräche in dessen Aufnahmeort Nashville. Und obwohl die neuen zwei Handvoll Songs den glasklaren Upbeat-Indie-Rock-Sound der ersten beiden Alben ein wenig hinter sich lassen, zeigt sich bei „The Answer Is Always Yes“ das offene Ohr für andere Menschen bereits im Entstehungsprozess, da die Australierin hier zum ersten Mal externe Songwriter integrierte, unter anderem den umtriebigen Iren Jacknife Lee (U2, Snow Patrol, Editors). Ja-Sagen bedeutet für Lahey eben nicht dumpfes Abnicken, sondern ständige Weiterentwicklung und Vorwärtsbewegung, und vor allem den unbedingten Willen, allen Widrigkeiten zum Trotz das Beste aus dieser so oft so absurden Welt und diesem unvorhersehbaren Irrgarten namens „Leben“ zu machen. Ihr unkomplizierter Indie-Pop-Rock vermittelt diese Beharrlichkeit trotz tendenzieller Kantenglättung mithilfe von roher Emotionalität, ohne dabei die dunkleren Momente des Daseins unbeachtet im Schatten stehen zu lassen.

Zu Beginn der knapp 35 Plattenminuten strahlt die Sonne Melbournes jedoch noch herrlich wolkenfrei durch die Platte. Zwar schneidet eine Laufsteg-fertige St.-Vincent-Gitarre durch die Handclap-Strophen des eröffnenden „Good Time“, doch bläst der Refrain jedes windschiefe Dach wieder gerade. Ganz ähnlich wie bei der eh dauerarschcoolen Annie Clark könnte man in manchem Moment fast meinen, dass Alex Lahey die Sonnenbrille längst auf der Nase festgewachsen sei. Und überhaupt: Die Hooks bleiben auch 2023 das Herzstück des Songwritings der Aussie-Indierockerin, dessen Einfachheit man nie mit Banalität verwechseln sollte – damit würde man vielsagenden Zeilen wie “Everyone is a bit fucked up / But they think they’re okay”, welche das Album wohl nicht ganz ohne Grund eröffnen, auch einfach unrecht tun. Apropos Tiefgang bei genauerem Hinhören: das an Wet Leg erinnernde „They Wouldn’t Let Me In“ etwa behandelt kurz vor Schluss schlaglichtartig, wie ihre Teenager-Zeit von Ablehnung und Ausschluss geprägt war – und bildet den daraus gewachsenen Frust mit knorrigem Post Punk samt Sprechgesang, Gang-Of-Four-Riffs und borstigem Bass ab, der sich jeder Auflockerung verweigert. Nicht das einzige Mal, dass „The Answer Is Always Yes“ seine erlösenden Ausbrüche hinauszögert: Das Emo-Storytelling von „The Sky Is Melting“ baut sich Schicht für Schicht auf und entfesselt seine ganze melodische Wucht erst am Ende nach einem Piano-dominierten Intermezzo. Die Laut-Leise-Dynamik versteht auch das akustisch beginnende „Permanent“, wenn es in der zweiten Hälfte auf kathartische Weise den Strom anstellt. In solchen weniger konzisen Songs beweist die Musikerin auch ohne radikale Stilbrüche die Dehnbarkeit ihrer Pop-Formel. Zudem dürfte der Flair-Verweis auf den My Chemical Romance’schen Song „Summertime“ in “Makes Me Sick” höchstens all jene verwundern, die Laheys vor einiger Zeit für den australischen Radiosender triple j eingespielte fantastische Coverversion des MCR-Gassenhauers „Welcome To The Black Parade“ sträflichst verschlafen haben.

In „Congratulations“ wiederum singt sie zu voll aufgedrehtem Fuzz und dezentem Grunge-Gestus über zwei ihrer Ex-Freundinnen, die beide unabhängig voneinander in kurzer Zeit heirateten, und die von dieser Neuigkeit ausgelösten Gefühlstumulte. „I’m doing just fine without you“, heißt es da – ob nun sarkastisch oder aufrichtig, das bleibt analog zu den formulierten Glückwünschen unklar. Und Zeilen wie „If I don’t care, then why do I / Still think about you all the time?“ verdeutlichen, dass die Urheberin sich selbst, aller triefenden Ironie zum Trotz, nicht so sicher ist. Zum Leben gehört eben auch die Erkenntnis, dass selbiges nicht immer rosig verläuft. An anderer Stelle gibt es jedoch weder Kompromisse noch Missverständnisse: „You’ll Never Get Your Money Back“ äußert schon im Titel verdammt eindeutige Worte, bevor feinste Indie-Disco-Gitarren loslegen, und das auf den Punkt gespielte „Shit Talkin'“ kotzt sich in der wohlmöglich eingängigsten Hook des Albums über Lästermäuler aus. Doch jeder Hauch von Misanthropie ist verschwunden, sobald die passionierte Menschenfreundin im triumphalen Titelstück-Closer zu Saiten-Krach und sich auftürmendem Schlagzeug das Glas erhebt – als würde sie noch immer an jenem Tresen in Nashville sitzen und verständnisvolle Schulterklopfer mit denjenigen austauschen, die solche genauso wie sie selbst gebrauchen können: “I just want a good time / Don’t care how, but I know everybody needs it”. Amen. Eine ehemals punkrockende deutsche Kapelle sang einst recht gleichsam trefflich: „Und grad deswegen: Auf das Leben! Also noch ein Bier und noch eine Geschichte? „The anwer is always yes.“

     
  

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„Allemagne Zero Points“ – Nicht ganz, aber fast.


Hach ja, der ESC. Da kann sich der Gesangswettbewerb formally known asGrand Prix Eurovision de la Chanson“ noch so sehr wandeln und häuten und rundumerneuern, ein paar Dinge haben schonbar seit Jahr und Tag Bestand: Peter Urban moderiert die ganze Chose in der übertragenden ARD zwar stets etwas großväterlich, aber mit ehrlicher Pathosbefreitheit runter, die Wettbüros behalten mit ihren Prognosen nahezu immer recht – und Deutschland, Germany, l’Allemagne holt sich mit hinterletzten Plätzen beim Lied- und Gesangswettstreit der Europäischen Rundfunkunion, an welchem aus unerfindlichen Gründen seit 2015 auch der zwar ferne, jedoch scheinbar gefühlt nahe Nachbarstaat Australien teilnehmen darf, alljährlich immer neue peinliche Nackenschläge ab (freilich nur kurz vom erstaunlichen Sieg anno 2010 mit Lena Johanna Therese Meyer-Landruts Stefan-Raab-Überhit „Satellite“ sowie den rückblickend überaus respektablen 8. beziehungsweise 4. Plätzen für Künstler wie Roman Lob und Michael Schulte unterbrochen, die dann wiederum 2012 und 2018 stattfanden). Nagt’s am teutonischen Selbstverständnis, dass man für solche Niederlagen nicht mal mehr einen Fussball oder irgendwelche Wirtschaftsprognosen benötigt? Dass man über die potentiellen Gründe für die scheinbare Abneigung gegen „uns Deutsche“ ganze Bücher lang vortrefflich mutmaßen und debattieren könnte? Ach, lohnt nicht, Darling! Ein, zwei Traditionen sollten sich bewahren…

Und dieses Jahr? Triumphierte gestern eine Frau, die ein fleischfarbenes, wohl aus ihrer eigenen Lederchaiselongue zusammengeschustertes Outfit, Henna-Verzierungen und sehr, sehr lange Fingernägel trug, selbst in den Momenten der größten Spannung wie Billie Eilishs von Schlaftrunkenheit und nebulösen Stoffen achtsam sedierte ältere Schwester wirkte und sich auf der großen Bühne aus einer engen „Sonnenbank“ (Peter Urban) befreite. Loreens Lied „Tattoo“, mit viel Zielbewusstsein von ganzen sechs Autoren geschrieben, beginnt nicht gänzlich ohne Absicht mit einer fast schon Abba’schen Wendung: „I don’t wanna go / But baby, we both know/ This is not our time / It’s time to say goodbye.” – noch mit das Beste an der auf Finalsieg getrimmten Drei-Minuten-Nummer. Sei’s drum, die schwedische Musikerin ist jetzt der einzige Mensch neben Johnny Logan, der den Eurovision Song Contest zweimal gewonnen hat – erstmals 2012 mit „Euphoria“ (welches, so viel Ehrlichkeit sollte im Vergleich mit dem diesjährigen Stück nunmal sein, doch deutlich mehr Ohrwurmpotential besaß).

Und dahinter? Belegte der Finne Käärijä, rein optisch ein irrer Hybrid aus dem teutonischen Hippe-di-Hopp-Rapper Haftbefehl und CSD-Techno-Freund, mit der populistischen Gaga-Tanzroutine „Cha Cha Cha“ den zweiten Rang. Noch weiß man, dass diese ulkige Type sich zu Beginn des Bühnenvortrags mit irrem Blick und massig Elan aus einer Bretterbude befreite und, schenkt man dem vorangegangenen Vorstellungseinspieler Glauben, scheinbar recht gern in einer Riesenradkabine sauniert. Wird wohl alles schnell vergessen werden… Apropos „raus aus dem Hirn-Zwischenspeicher“: Auf dem dritten Platz landete die Israelin Noa Kirel mit „Unicorn“, deren auf ansehnliches Tanzspektakel gemünzte Inszenierung irgendwo zwischen J.Lo, Shakira und Ariana Grande zwar wahrscheinlich die überzeugendste des diesjährigen Show-Wettbewerbs war. jedoch offen ließ, was all das nun mit „Female Empowerment“, also mit weiblicher Selbstermächtigung, zu tun hatte. Andererseits: Einhörner will einem ja auch keiner näher erklären, also sei’s drum, is‘ alles nur schön anzuschauende Schau für den juxen Moment. Und: genau diese Treppchen-Platzierungen wurden von den Buchmachern eben vorher angekündigt. Gähn.

Praktisch war außerdem, dass der „Eurovision Song Contest“ ausgerechnet bei den Brexitern in good ole England stattfand, schließlich hatte sich das Augenmerk der gut behüteten Promi-und-Unterhaltunsgwelt ja erst eine Woche zuvor für die lang geplante Inthronisierung von Prinz, ähm… König Charles III. dahin gerichtet. Kaum waren also die Krönungsfeierlichkeiten in London abgeschlossen, verlagerte das öffentliche Interesse einfach den Schauplatz etwas weiter nördlich: Der ESC wurde von der BBC in Liverpool stellvertretend für die im Vorjahr – wohl auch mit einem guten Überpfund Solidarität – erfolgreiche Ukraine ausgerichtet, da solch ein Wettbewerb in einem im Krieg befindlichen Gebiet wohl keine allzu gute Idee abgegeben hätte. Daher erfuhr der geneigte Zuschauer eine Woche lang, dass Liverpool die Geburtsstadt der Beatles ist (ach nee!) und dass die Bürger von Liverpool keine Engländer, sondern „Liverpudlians“ und „Scousers“ sind – und stolz darauf (ach so!). Außerdem sind sie herzlich (ach ja?). Und hierzulande wurde die Stadt am River Mersey nur in einem Satz erwähnt, wenn dieser daraufhin auch „Jürgen Klopp“, neben Ratebespaßler Günther Jauch aktuell Deutschlands sympathischstes Werbemaskottchen Nummer eins, enthielt.

Aber ich schwof einmal mehr ab… Camilla und Charles eröffneten also die prall mit Fahnen wedelndem Publikum gefüllte Arena bei den Royal Albert Docks, und am Anfang der Fernsehübertragung spielten unter anderem Herzogin Kate und Andrew Lloyd Webber auf dem Piano einige Kadenzen von „Stefania“, dem ukrainischen Gewinnersong des letzten Jahres, bevor das experimentell gekleidete Kalush Orchestra das Lied auch noch einmal in der Halle aufführte. Und jetzt haben wir genug von der Flöte – und zwar auch von selbiger, die der kleinwüchsige Mann zwischen Trommlern und Amazonen für Moldau blies! (Ein „Skandal“ ist übrigens nur das, worüber man, bei allem Irrsinn dieser Tage, nicht selbst mit einem Auge zwinkern kann…)

So kommentierte sich Peter Urban in seiner letzten ESC-Sendung vier Stunden lang tapfer durch die Postkartenansichten von Rathäusern, Brücken und Bibliotheken von Großbritannien, den jeweiligen 26 Finalbetragsländern und der Ukraine. Die Toiletten, hatte Urban vorher angemerkt, lagen dicht an der Sprecherkabine. Pickepackene 240 Minuten, 14.400 Sekunden dauerte die Show, die durch das Abfragen der sogenannten Jury-Stimmen aus jedem Land traditionell einmal mehr gen Ende etwas in die Länge gezogen wurde (obwohl die Verantwortlichen hier mittlerweile gewinnbringend gekürzt haben). Wenig überraschend einigten sich diese „Experten-Jurys“ mit überwältigender Mehrheit auf Schwedens Loreen – und dieses Votum wurde, ebenso wenig überraschend, auch von der öffentlichen Meinung, den Publikumsstimmen, der Vox Populi, nicht wirklich gewendet. Hinter Loreen und Finnlands technoider Antwort auf Haftbefehl, Käärijä: ein großer Abstand zum israelischen Pop-Sternchen Noa Kirel und dem Italiener Marco Mengoni mit „Due Vite“, nebst dem hübsch anzuhörenden Schweizer Betrag einem der wenigen traditionellen Lieder im Wettbewerb.

Apropos „Zum ESC bestellen wir uns ’ne Pizza!“: Italien ist das einzige Land der „Big Five“, also der immer schon qualifizierten europäischen Staaten, das schlußendlich auf dem Tableau reüssierte. Frankreich und Spanien, Großbritannien und Deutschland scheiterten mal mehr, mal minder spektakulär mit – wie soll man’s schreiben? – gewollten Beiträgen, die am Ende nahezu keiner wollte. Chris Harms, der Sänger von Lord Of The Lost, liest immer die letzte Seite eines Buches zuerst. Daher hätte auch er gern vorher gewusst, wie der Wettbewerb schlussendlich ausgeht. Mit dem letzten Rang für selbige Lord Of The Lost nämlich. Die Dark-Rock-Band aus Hamburg-St. Pauli wirkte wie aus Versehen in die große Arena geraten. Harms rief „Liverpool, make some noise!“ in eine Halle, in der seit zwei Stunden nur ausgelassener Lärm herrschte. Am Ende waren „Blood & Glitter„, rote Lack’n’Leder-Outfits (die vor allem den Frontmann wie eine neu entdeckte Moskito-Abart aussehen ließen), Feuershow, an der stählernen Rammstein-Fibel geschulte Rrrrrrock-Rifferei und Screamo-Einlagen mickrige 18 Pünktchen wert – da kann die fünfköpfige Truppe wohl, bei aller Mittelmäßigkeit ihres Songs, am wenigsten für. (Noch lustiger war übrigens der Fakt, dass zwei der insgesamt drei Jury-Punkte ausgerechnet aus dem verschrobenen Island kamen und der Präsentator der Punkte seine astreine S&M-Vermummung nicht ablegte. Ach, Island…) Vielleicht war die Reimbarkeit des Titels auf „Glatt und bitter“ zu sehr böses Omen? So nämlich kommentierten Olli Schulz und Jan Böhmermann, ja nicht erst seit gestern beste „Fest & Flauschig“-Podcast-Buddies, das Stück ahnend für den österreichischen ORF. Vielleicht hätte der NDR, anstatt Lord Of The Lost (die den Vorentscheid knapp vor Ikke Hüftgold gewannen und Liverpool somit nur hauchdünn vor einer Überdosis Ballermann-Verblödung bewahrten), wohl eher Böhmermann und seinen tatsächlich verdammt guten, einmal mehr ebenso toll musikalisch ausstaffierten wie mit einem Augenzwinkern garnierten Songbetrag „Allemagne Zero Points„, der mit seiner Veröffentlichung vor ein paar Tagen freilich bewusst zu spät kam, gen England schicken sollen? Nun, verehrte bundesdeutsche Auswahljury: der „blasse dünne Junge“ wäre doch ’ne Idee fürs kommende ESC-Jahr! Schlimmer kann’s nun eh kaum noch kommen… Und nehmt Barbara Schöneberger bitte, bitte endlich den Schlüssel zu ihrem Kinderkirmes-Ankleidezimmer weg! Und bitte, bitte, bitte haltet es nie, nie, nie wieder für eine gute Idee, Elton die Jury-Punkte präsentieren zu lassen, schließlich mag nun mindestens halb TV-Europa denken, dass der ehemalige Raab-Sidekick der schönste und witzigste Mann aus Teutonien sei. Wie wär’s denn mit Ingo Zamperoni? Oder meinetwegen eben Günther Jauch oder Jürgen Klopp?

Natürlich, erst hinterher ist man wirklich schlauer, und auch die diesjährigen geprügelten Hunde von Lord Of The Lost wissen, zumal als Söhne Hamburgs, nun: Du kannst vieles planen, aber der wandlungsfähige Eurovision Song Contest ist in manchem Moment wie die hohe See.

Und wo, kurz vor Ende dieses von Zeitgeist geprägten Artikels erneut der Name der Hansestadt fiel, hier noch etwas Wissensvermittlung: Mit insgesamt 2.500 Brücken ist Hamburg Europas Stadt mit den meisten Brücken und stellt Venedig, welches über lediglich rund 400 Brücken verfügt und damit in dem Ranking nur den fünften Platz belegt, klar in den Schatten. Wusste man? Oha, Chapeau! Und bei aller Nähe zum Wasser sei mir da noch ein letzter Brückenschlag gestattet, denn nun geht – ohne eine Träne, dafür mit amtlicher Würde – der deutsche Kommentatoren-Bootsmann, der jede Ausgabe des ESC seit 1997 mit seiner bestens bekannten Stimme sowie mit dem ein oder anderen zutiefst ehrlichen Einwurf begleitete, von Bord – und das sei ihm, auch schon stolze 75 Lenze alt, freilich gleichsam gestattet wie gegönnt. Passenderweise verabschiedete sich der noble Peter Urban daher gestern ohne Umschweife: „Es war mir ein Vergnügen und eine Ehre. Ihr Peter Urban.“ Wegen zweier Dinge wird er ab dem kommenden ESC-Jahr vor allem fehlen: Peter Urban war niemals borniert. Und er war (beinahe) niemals pathetisch. Im Zweifel waren das die bemerkenswertesten deutschen Leistungen beim wohlmöglich pathetischsten Fest der Welt (nach der Krönung).

  
  

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Das Album der Woche


ARXX – Ride Or Die (2023)

-erschienen bei Grand Hotel Van Cleef/The Orchard/Indigo- 

Dass in Brighton im Süden Englands zwischen Sehenswürdigkeiten wie dem Palace Pier oder dem Royal Pavillon irgendetwas ungemein Kreativförderndes zu wirken scheint, dürfte schon lange als offen zur Schau getragenes Geheimnis gelten. Gleichzeitig ist das beschauliche und bunte Städtchen in East Sussex auch als eine der europäischen Hochburgen für die LGBTQIA+-Szene bekannt. In Fällen wie dem des Duos ARXX kommen diese beiden Brighton-Trademarks zusammen: Hanni Pidduck und Clara Townsend kredenzen auf ihrem Langspiel-Debüt „Ride Or Die“ schnörkellosen, herzerwärmenden und queeren Wohlfühl-Indie-Pop, der ebenso in der Garage zuhause ist, wie er polternd durch die lokalen Indiediskos fegt. ARXX setzen dabei ganz auf simple und eindeutige Songs, die sich jedoch trotz ihres direkten Zugangs den absolut komplizierten Emotionen widmen. Sie besingen fiesen Herzschmerz, geistige Gesundheit, amouröse Anwandlungen, aber auch queeres Selbstverständnis, und verpacken das alles ohne nennenswerte Ausfälle in hinreißende kleine Hits.

Ob die vergangenen Liebhaber*innen nun wie in „Baby Uh Huh“ zu dezent HAIM’schen Harmonien in eine bessere Zukunft verabschiedet werden oder sich die chaotische Affäre auf ihrem herausfordernden Höhepunkt befindet, das Duo setzt immer wieder klare Akzente: So zieren ARXX sich beispielsweise nicht, den gepflegten Dance-Punk im Titelstück durch eine schon beinahe Queen’eske Choreinlage zu unterbrechen, der sie im „Outro“ eine Reprise spendieren. In „What Have You Done“ grätscht ein geradezu unverschämtes Schweinerock-Riff durch den fluffigen Indie-Pop, während Pidduck sich aus dem Staub macht und wiederholt das ein oder andere verzweifelte „Sorry“ zurücklasst. Stücke wie „Deep“ hingegen lassen mit Polyrhythmen im Handgepäck den Rock’n’Roll zugunsten einer ausgelassenen, elektronischen Tanzflursause absichtlich links liegen. Dennoch wirkt „Ride Or Die“ wie aus einem Guss und fühlt sich nur selten nach einem jener aus hunderten Singles zusammengepuzzelten Debütalben an, wie sie in den Zweitausendern für britische Hype-Acts noch gang und gäbe waren. Pidduck und Townsend spielen, Newcomer hin oder her, die noch recht junge Essenz ihres musikalischen Schaffens gekonnt nach außen.

„It’s a long, long dance till the end of the night“: ARXX sind immer auf der Suche, browsen mit grellen Cocktails in den Händen durch Brightons Nachtleben, auf dass die nächste Romanze weniger an die Substanz gehen möge und irgendetwas von ihr bleibt. Damit sie wie in „Stuck On You“ dann höchstmelancholische Balladen über die Begegnungen schreiben können und keine angepissten Breakup-Songs benötigen. „Iron Lung“ schaltet am Ende trotzdem in den Riot-Grrrl-Modus und zertrümmert zwischen Crossover und Royal Blood pogend den ganzen Laden, was als Erinnerung dafür sorgt, dass man es hier aller Niedlichkeit und allen pointierten Synth-Einsätzen zum Trotz immer noch mit Alternative Rrrrrrock zu tun hat. „Ride Or Die“ erinnert mit massig Ohrwurmtauglichkeit und Abwechslungsreichtum in petto mitunter daran, was Tegan And Sara mit mehr Krach anstellen würden, oder angenehm an „Box Of Secrets“, das Debüt von Blood Red Shoes (oder meinetwegen an die frühen Gossip). Tanzbarer Indie Rock mit lediglich Schlagzeug und Gitarre aus dem Küstenstädtchen funktioniert 2023 nämlich noch genauso gut wie 2008. Es gilt weiterhin: Brighton bleibt stabil!

 

 

 

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