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Das Album der Woche


The xx – Coexist (2012)

-erschienen bei Young Turks/XL Recordings/Beggars/Indigo-

Was war das doch für ein riesiges Bohei im Frühjahr 2009… Vier Teenager aus dem Südwesten Londons wurden zu den nun-wirklich-definitiv-neusten Heilsbringern des elektronisch gefärbten, clubtauglichen Pop erhoben, ihren nach und nach durch digitale Weiten sinkenden Songs wurde der Anspruch nahe gelegt, das bald anbrechende zweite Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu prägen und doch bitteschön gleich die ganze marode, (scheinbar) vor sich hin siechende Musikindustrie zu retten. Dabei waren Romy Madley Croft, Oliver Sim, Jamie Smith und Baria Qureshi doch vor allem und eben eines: Teenager, die innovative, im Zwielicht von reduziertem Indie Rock und pluckernder Elektronik spielende Songs geschrieben und in ihrer Freizeit in einer Garage aufgenommen hatten…

Dies tat jedoch der folgenden Begeisterungswelle von Kritikern und Hörerschaft keinen Abbruch: das Quartett mit dem wenig klangvollen, dafür umso einprägsameren Namen The xx wurde mit Lob und Preisen geradezu überhäuft (unter anderem gewann man bereits mehrere Brit Awards und den renommierten Mercury Prize für das im Sommer 2009 erschienene, simpel „xx“ betitelte Debütalbum), die Band war ein gern gesehener Gast bei Shows und Festivals rund um den Erdball, Fernsehserien, Filme, Modeschauen, Werbespots, ja sogar Nachrichtensendungen wurden mit ihren Klängen unterlegt. Und alle, ob nun Radiohead, Adele, Rihanna oder der mittlerweile verstorbene Gil Scott-Heron, standen für Remixe des elektronischen Masterminds der Band, den stillen Jamie Smith, Schlange. Diesem Öffentlichkeitsmarathon zollte Qureshi als erste Tribut und verließ die Band Ende 2009 (offiziell aus gesundheitlichen Gründen). Für die verbliebenen Madley Croft, Sim und Smith folgten für mehr als ein Jahr weitere Konzerte auf der ganzen Welt. Danach kam das Trio, welches bis zum Durchbruch noch bei den Eltern gewohnt hatte, im heimatlichen London an und musste feststellen, dass man zwischen Flughäfen, Asphalt und Hotelzimmern erwachsen und doch dem „Leben da draußen“ so fremd geworden war. Zeit also, die Reißleine zu ziehen. Dinge zu ordnen. Alltägliche Dramen nachzuholen. Zu leben.

Nun, drei Jahre nach dem überwältigenden Erfolg „xx“, sind sie zurück. Und obwohl man (oder besser: die Musiklandschaft) sich, gefühlter Dauerberieselung zum Trotz, an Songs wie „VCR“, „Shelter“, „Islands“ oder „Basic Space“ gewöhnt und sich häuslich in ihrer angenehmen Reduziertheit eingerichtet hat, liegt die Messlatte natürlich nicht niedrig für das Zweitwerk „Coexist“ – nicht weniger als „das ‚Nevermind‘ des britischen Indie-Pop“ verspricht sich so mancher Fan und/oder Medienschaffende…

Geändert hat sich nach außen freilich wenig: der ernste, androgyne Look der Drei ist noch fast der selbe, die Mienen an den 80er Jahren und Bands wie The Cure oder Joy Division geschult. Und auch der Klang bietet bestenfalls Verschiebungen um Nuancen – Jamie Smith bereitet als emsiger Tüftler im Hintergrund mit allerlei elektronischen Klängen den Unterbau für klug und reduziert einsetzende Gitarren, Bassläufe, Drumloops und Synthesizerflächen. Dazu der sich nahezu perfekt ergänzende Wechselgesang von Romy Madley Croft und Oliver Sim, welcher jeglicher einsetzenden musikalischen Kälte die Stirn bietet und in allen Songs den Fixpunkt bildet.

Auch thematisch besitzt „Coexist“ einen Überbau: war „xx“ laut Band noch ein „night album“, so ist der Nachfolger ein „dawn album“, also ein Werk, welches kurz vor Ende der Nacht und zum Anbruch des Tages wohl am besten funktioniert. Wer jedoch nun kuschelige Kaffeehausmusik erwartet, der hat sich geschnitten. Das Album erzählt in poesiealbumsreifen Texten von Zweifel, Entfremdung, verblühender Liebe, Beziehungskälte und dem Ringen um alles, was noch bleibt – „Coexist“ als Nebeneinanderher- statt Miteinanderleben. Die größte Party von letzter Nacht ist längst zu Ende, die feierwütige Meute in alle Gassen verstreut. Man selbst wacht zu gnadenlos in die verquollenen Augen scheinendem grellen Sonnenlicht auf und merkt alsbald, dass sich etwas verändert hat: die Liebe. Und: man selbst.

Bereits im ersten Song „Angels“ zeigt Romy Madley Croft die Janusköpfigkeit der neuerlichen Gefühls(nicht)regungen anhand von Zeilen wie „Being in love with you as I am“ und „And the end comes too soon / Like dreaming of angels / I’m leaving without them“ auf, bevor sie im folgenden „Chained“ im Wechselgesang mit Oliver Sim und zu leichten Synthesizerflächen, Drumloops, Bassbegleitung und einer in der Mitte einsetzenden einsamen Gitarre erste Einsichten trifft („We used to be closer than this / We used to get closer than this / Is it something to miss?“). „Fiction“ bricht zugunsten morgendlicher Ausflüchte mit dem kalten Morgengrauen („I wake up alone / With only daylight between us“), „Try“ wagt einen noch immer verträumten Blick zurück in die letzte durchtanzte Stroboskop-Dunkelheit und erzählt von allerlei wunderbaren Konjunktiven der Zweisamkeit, bei denen der Hörer jedoch schnell merkt: es wird wohl nur ein Tagtraum im grellen Morgenlicht bleiben. Das von einer Steeldrum getragene „Reunion“ berichtet vom Warten auf den einen neuerlichen Beziehungsfunken und macht mit all den dezent pulsierenden Beats einen Remix seiner selbst fast schon unnötig (und wird nichtsdestotrotz kommen). In „Sunset“ stehen sich zwei ehemals Liebende plötzlich als Fremde gegenüber („I always thought it was a shame / The way we act like strangers / It felt like you really knew me / Now it feels like you see through me“), bevor Sim und Madley Croft in „Missing“ zu leidenen Background Vocals des jeweils anderen in der eigenen Hoffnungslosigkeit versinken. „Tides“ stellt mit fatalistischen Zeilen wie „You leave with the tide / And I can’t stop you leaving / I can see it in your eyes / Some things have lost their meaning“ den Nullpunkt emotionaler Gemeinsamkeiten und Gefühlsregungen dar, denn das darauf folgende „Unfold“ ist ein kurzer K(r)ampf für und um den letzten Funken Gefühl und gegen das Vergessen von allem, was einmal so schön und gut und unendlich war, und „Swept Away“ gibt zu Clap-Beats bereits ein neurliches  Versprechen ab („I’m right here / I’ll always be“) – ob nun als Liebende oder als Freunde. „Our Song“ ist ein beinahe zärtlicher, melancholisch-versöhnlicher Abschluss und lässt anhand memorabler Zeilen wie „When no one wants you / I will give you me / And we’ll be… us“ die Herzen aller zitierwütigen Tattooträger und tumblr-Schreiber um einige Frequenzen höher schlagen.

Hat man sich einmal an den gleichsam von Soul, R&B, Elektro und Indie Rock beeinflussten Klangkosmos von The xx gewöhnt, so ist „Coexist“ keinesfalls eine Überraschung. Man muss jedoch dem 38-minütigen, im eigenen Studio aufgenommenen und selbst produzierten Nachfolger zu „xx“ zugute halten, dass das Trio keineswegs vor den eigenen und von außen an sie überschwappenden Ansprüchen kapituliert und ein gleichsam homogenes wie interessantes Werk aufgenommen hat, dass bei aller Schwere und Bedeutungshaftigkeit weder zu niederschmetternd für den Vordergrund noch zu schade für den Hintergrund erscheint. „Coexist“ ist ein möglicher Soundtrack für den mit großen Schritten nahenden Herbst. „Coexist“ erzählt vom Herbst einer Liebe (wenn auch freilich aus der Sicht von Menschen Anfang Zwanzig), vom Ende der Unschuld, vom Erwachsenwerden, vom Morgen danach. Musicforthemorningafter. Der Schädel brummt, die Augen schmerzen, der Beat sitzt.

 

Hier der Albumopener „Angels“ in angenehm dezent visualisierter Form…

 

…ein Live-Mitschnitt von „Infinity“ vom Debütalbum…

 

…das offizielle Video zu „Basic Space“…

 

…und ein inoffizielles Video zu „VCR“:

 

Rock and Roll.

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