Machine Gun Kelly dürften hierzulande wohl nur Eingeweihte und all jene, die so ziemlich jeder neuen Serie, die dank Netflix, HBO, Amazon und Co. derzeit aus dem digitalen Boden sprießt, eine Chance geben, kennen – trotz der Tatsache, dass der Künstler bereits 2012 bei den MTV Europe Music Awards einen Preis in der Kategorie „US Artist About To Go Global“ gewinnen durfte…
Denn trotz dreier Alben, die der Indiepop-HipHoper, welcher sich abseits der Bühnen Richard Colson Baker nennt, bisher veröffentlicht hat (das letzte, „Bloom„, erschien im Mai diesen Jahres), gilt er – zumindest diesseits des Atlantiks – noch immer als Geheimtipp. Bei wem jedoch die Musik des 27-jährigen Künstlers aus Cleveland, Ohio kein Glöckchen zum Klingen bringen sollte, der dürfte jedoch eventuell bereits über das durchaus markante Äußere des ambitionierten Tausendsassas gestolpert sein. So spielte Baker etwa in der von Regisseur Cameron Crowe 2016 geschaffenen und unter anderem von J.J. Abrams mitproduzierten Showtime-Serie „Roadies“ (welche leider nach Staffel 1 wieder ad acta gelegte wurde) den – ja klar – Roadie Wesley „Wes“ Mason. Auch in Filmen wie dem Action-Thriller „Nerve“ oder dem Sci-Fi-Horror-Streifen „Viral“ hinterließ Colson „MGK“ Baker 2016 bereits erste größere Hollywood-Visitenkarten. Dass da die Musik auch mal hinten an stehen muss, ist nur allzu verständlich.
Dass Machine Gun Kelly, der sich seinen nach massig Street Cred duftenden Künstlernamen übrigens bei einem US-amerikanischen Kriminellen der Prohibitionszeit „entliehen“ hat, allerdings noch mehr auf dem musikalischen Kasten hat als derbe Bühnenreime über Bros, Hoes, Bling-Bling und dicke Kisten, beweist der gut tätowierte Indie-Künstler nun mit einem Piano-Tribute an den vor etwa einer Woche verstorbenen Linkin-Park-Frontmann Chester Bennington, welches sich durchaus hören lassen kann.
Hier kann man sich Machine Gun Kellys Coverversionen des Linkin-Park-Evergreens „Numb“ via YouTube…
Sobald die letzten welken Blätter sich im Spätherbst gen regennassem Boden bewegen, sobald die ersten Buden in den Innenstädten den Glühweinduft durch die Menschenmassen treiben, sind die Weihnachts-TV-Spots der britischen Kaufhauskette John Lewis auch im weltweiten Netz jedes Jahr ein viraler Renner. Da wird auch #BusterTheBoxer keine Ausnahme machen…
Anders als in den emotionalen Weihnachtswerbefilmchen der letzten Jahre jedoch – man erinnere sich nur an den tollen Spot von 2014 mit „Monty The Penguin“ – drücken John Lewis und die langjährige Stammagentur Adam & Eve/DDB mit „Buster The Boxer“ diesmal nicht so sehr auf die Tränendrüse – sondern rücken lieber die große Freude über ein tolles Geschenk in den Fokus. Dazu erzählt das Duo die Geschichte einer jungen Familie an Heiligabend und am Morgen des ersten Weihnachtstages: Während die kleine Tocher vorm Schlafengehen aufgeregt auf ihrem Bett herumspringt und den nächsten Morgen kaum noch abwarten kann, steht der tierische Protagonist Buster daneben und beobachtet die Sprünge des Mädchens neidvoll. Was der Boxer noch nicht ahnt: Von dem Geschenk, das die Eltern ihrer Tochter machen, wird nicht nur die halbe Tierwelt aus dem Wald, sondern auch er profitieren. Entsprechend lautet die Botschaft am Ende des Commercials diesmal: „Gifts that everyone will love.“
Wie schon in den vergangenen Jahren schafft es John Lewis auch diesmal, den Konsumenten mit der gesamten Weihnachtskampagne über alle Kanäle hinweg Mehrwerte zu bieten. So sammelt der Handelsriese beispielsweise auf einer eigenen Landingpage alle Produkte, die mit dem Film zusammenhängen (Plüschtiere, Bücher, Schlafanzüge mit Aufdrucken von Buster und natürlich das Trampolin) und spendet einen Teil der Erlöse an The Wildlife Trusts.
Hier gibt’s den aktuellen Weihnachtswerbespot von John Lewis von „Buster The Boxer“…
…und – weil er bereits vor zwei Jahren so herzerwärmend schön war – hier noch die 2014er Variante mit „Monty The Penguin“:
Dass John Lewis und seine Werbeagentur ihr Publikum (slash ihre potentielle Kundschaft) ganz gut einzuschätzen wissen, beweist auch der Erfolg des 2015er Spots „Man On The Moon“, welcher bis heute allein auf YouTube mehr als 27 Millionen Klicks erhielt:
Ohnehin sind Weihnachtswerbespots, bei denen das Kreative über sich herzende Harmonie-Familien und via „CocaCola“-Trucks durch Land bretternde Weihnachtsmänner hinaus geht (man denke da etwa an den Edeka-Werbeclip im vergangenen Jahr), immer gern genommen. Verkaufen wollen sie eh alle, und sei es nur ein gutes Image.
Neben tapsigen Hunden, naseweisen Katzen, putzigen Babies oder tumben US-Rednecks entwickeln sich wohl am ehesten anrührende Geschichten zu viralen Youtube-Klickhits. Daran hat sich seit dem Siegeszug des weltweiten Netzes höchstens geändert, dass Bilder nicht mehr Tage, sondern nur noch Sekunden brauchen, um sich von Rio de Janeiro bis Novosibirsk zu verbreiten. Ansonsten ist alles beim Alten geblieben – Menschen lieben einfach voyeuristische, vor Pathos triefende Schlüssellochszenen, die sie für Momente aus ihrer eigenen Tristesse heraus holen.
Eine dieser „Szenen“, die sich jüngst zum viralen Klickhit gemaustert haben, zeigt einen Obdachlosen, der sich vor einigen Tagen an ein öffentliches Piano in Sarasota, Florida setzte, um ein paar Takte zu klimpern… Obwohl: klimpern? Vielmehr legt der Herr, Donald Gould, eine amtlich zu Herzen gehende, exzellente Covervariante der 38 Lenze jungen Styx-Schmonzette „Come Sail Away“ in die schwarzen und weißen Tasten. In Smartphone-Zeiten bleiben solche Momente freilich kaum undokumentiert, und schon bald ist der vormals namenlose 51-jährige Umherziehende eine respektable Internet-Persönlichkeit, dem diese zweieinhalb Minuten Youtube-Fame immerhin Berichterstattungen in Nachrichtensendungen, ein – offenbar gern angenommenes – Makeover und eine wahre Flut hilfsbereiter Spender eingebracht haben (neben bislang über 12 Millionen Klicks).
Mein erster Gedanke, als ich auf dieses Video stieß, mag zwar kaum pathetischer als der der meisten Youtube-Klicker erscheinen, trifft jedoch – zumindest für mich – den Moment ganz gut: Zumeist kann man Menschen, die einem Tag für Tag begegnen, zwar in die Augen, jedoch selten ins Herz schauen…
Im Grunde dürften das alles alte Hüte des vitalen Marketings sein: Eine Marke tarnt sich besonders subtil hinter schönen Bildern, die mal besonders witzig, mal besonders ausgefallen, mal besonders anstößig, mal besonders herzzerreißend oder eben aufs Schönste stilisiert und besonders trivial daherkommen. In jedem Sinne: besonders muss es sein, ansonsten geht ein so kleines Datenpaket – sei es nun in Schrift-, Bild- oder Videoform – schnell in schnelllebigen digitalen Zeiten wie diesen, wo eine vermeintliche heiße Neuigkeit längst die nächste jagt, schnell verloren und unter. Und wer sich einmal zwei, drei Minuten Zeit nimmt und überlegt, welche Beispiele es da in letzter Zeit gegeben haben könnte, der wird sicherlich schnell im Hinterstübchen der Erinnerung fündig: etwa der sehr sehr geile Greis Friedrich Liechtenstein, der mit seinem „supergeilen“ Flaniertanz durch die Regalreihen von Edeka zur „deutschen Antwort auf den Gangnam-Style“ avancierte, oder das dezent skandalöse Oben-ohne-Werbeplakat einer Muslima der US-aerikanischen Bekleidungskette American Apparel. Ganz klar: Fünf Minuten Web-Fame sind mit etwas Kreativität und Glück für Jedermann drin, und bei guten Bildern nimmt das Gros der Klickenden gern die unterschwelligen Reklamebotschaften in Kauf.
Das beweist auch das neuste Beispiel in der Reihe der „gut getarnten Kommerzpropaganda“, welchem etwa die Online-Ausgabe des Spiegel den so treffend nichtssagenden Titel „Zehn erste Küsse“ gab. Und wirklich: Würde man das etwa dreiminütige Video der (käuflichen) Visual-Künstlerin Tatia Pilieva nicht weiter hinterfragen, so wäre es vor allem eines: eine besonders schöne Idee. Klappe Spiegel: „Was passiert beim ersten Kuss? Die Künstlerin Tatia Pilieva hat diese Frage mit einem Video beantwortet. In einem Fotostudio stellte sie zehn Paare zusammen, die sich vor der Kamera küssen sollten. Das Besondere daran: Die Personen kannten sich vorher nicht, sie begegneten sich zum ersten Mal.“ Bild.de haut gar – erwartetermaßen – noch derber mit der Pathos-Peitsche zu: „Knutsch-Video wird YouTube-Hit: Einmal küssen, bitte!“. Doch was im ersten Licht der Schwarz-weiß-Bilder wirkt wie die künstlerisch kompetente Zurschaustellung eines soziologischen Feldversuchs, ist im Grunde nichts weiter als eine ebenso einfache wie effektive Werbekampagne des Modelabels Wren Studio. Gut, man könnte der Bekleidungsmarke aus dem US-amerikanischen Lake Forest, Illinois zugute halten, dass es gar nicht erst so tut, als würde es sich hinter irgendwelchen romantischen Zeitlupenschmatzern verstecken, immerhin erscheint bereits zum Anfang des Videos: „Wren presents“. Und doch war wohl am Ende alles gar nicht so spontan und losgelöst, immerhin besteht Pilievas Zwanzig-Personen-Cast beinahe ausnahmslos aus in Kussszenen und Inszenierungen geübten Models, Musikern und Schauspielern, die freilich nicht nur die eigene Visage, sondern auch den – freilich von Wren Studio eingekleideten – formschönen Astralkörper in die Kamera hielten. Da ist die Frage, was nun echt ist und was Mienenspiel, nur allzu berechtigt. Oder wie es blog.rebellen.info – auch in Bezug auf die umfassende Berichterstattung in so ziemlich jedem News-Portal – so treffend formuliert: „Wenn selbst Journalisten nicht mehr zwischen Werbung und Inhalt unterscheiden können, dann wird Werbung zum Inhalt.“ Das hält die auf menschliche Urinstinkte geeichte Tatia Pilieva/Wren Studio-Koproduktion freilich keineswegs davon ab, fleißig Zuschauer einzusammeln – ganze 25 Millionen Mal wurde das Drei-Minuten-Filmchen in etwas mehr als zwei (!) Tagen allein auf YouTube angeklickt…
Letztendlich muss wohl wie immer jeder für sich selbst entscheiden, wie weit er der schönen Viral-Fassade im weltweiten Netz über die digitalen Datenwege traut. Denn obwohl auf dem einen Auge vor allem die künstlerisch wertvollen Absichten im Fokus zu stehen scheinen, so gilt auch hier: mit dem Zweiten sieht man besser. Oder man gibt sich vollkommen der Berieselung hin. That’s entertainment…
„Virales Marketing“ dürfte auch 2013 einen immens hohen Stellenwert bei der Veröffentlichung und Vermarktung von Musik, TV-Shows und Kinofilmen eingenommen haben, schließlich ist das reine Produkt längst nicht mehr gut genug für den nach wie vor gern zur kostenlosen Variante greifenden Konsumenten, der im Großteil nach wie vor freilich dem schnellen Download oder Stream (ich werfe einfach das derzeit populäre Stichwort „Redtube“ in die Runde) näher steht als der Bezahlvariante – „der Preis ist heiß“ und der „Geiz“ noch immer… *hust* „geil“.
Natürlich sind das alles alte Hüte, denen die Musikindustrie bereits seit Jahren nachjagt wie der gebrechliche Hase dem mal „Napster“, mal „Megaupload“, mal „iTunes Store“ (wenn man so will das schwarze Bezahlschaf der digitalen Familie) genannten Igel. Nie jedoch wurde bislang von den im Gros offenbar noch immer reichlich weltfremden und technikfeindlichen Anzug tragenden Herren in den Plattenlabelmajorchefetagen ein Weg gefunden, um die Zielgruppen mit den an den Mann (respektive: an die Frau) zu bringenden Waren (sprich: dem musikalischen Produkt als solches) zu versöhnen. Das pure, schnöde Plastik zieht eben längst nicht mehr. Und unter der potentiellen Käuferschicht „U25“ soll es in der Tat nicht wenige geben, die noch nie für die Musik, die sie tagtäglich in rauen Mengen auf ihren iPods, iPhones oderwasauchimmer durch die Weltgeschichte tragen, bezahlt haben… Schönes neues Digitaldilemma.
Hier kommt also wieder das „virale Marketing“ ins kommerzielle Spiel. Kurz gefasst, könnte man die Losung „Willst du gelten, so mach‘ dich nicht selten!“ ins Feld führen. Egal, ob es sich nun um eine Band, einen Musikkünstler (flash -künstlerin), einen anstehenden Kinostart oder irgendein mehr oder minder großes TV-Ereignis drehte, so hieß es, im Gespräch zu sein und da gefällst zu bleiben – am besten auf allen Kanälen, von den einschlägigen TV-Formaten über die digitalen Nachrichtenportale bis hin zu Facebook oder Twitter. Beste Beispiele dürften – in musikalischer Hinsicht – wohl aktuell Künstlerinnen wie Lady Gaga oder Miley Cyrus sein.
Lady Gaga & Miley Cyrus bei den 2013er VMAs (Fotos: Jeff Kravitz/FilmMagic for MTV; Kevin Mazur/WireImage for MTV)
Die eine (Madame La Gaga) zelebrierte ja bereits in der Vergangenheit sowohl Tourneestarts wie Albumveröffentlichung mit allem Tamtam und großen, très arty konstruierten Presserundfahrten, während derer sie etwa kürzlich in Unterwäsche und angeklebten Schnäuzer auf die eigens eingerichtete Pressebühne des Berliner Technoclubs Berghain stolzierte (gut, da ist man von Frau Germanotta und ihren Fleischkleidauftritten freilich längst andere Kaliber gewohnt), um ihr neustes Albumwerk „Artpop“ zu bewerben. Hauptsache, es wirkt so herrlich überhöht und künstlich wie einst Andy Warhol. Hauptsache, man erkennt vor all der skurrilen Artyness kaum mehr den Menschen hinter der Maskerade. Denn nackt – auch das wissen wir seit diesem Jahr Dank der Künstlerin Marina Abramovic – sieht selbst (oder: gerade?) eine durch und durch künstlich zusammengeklaubte Figur wie die Gaga nur eins aus: höchst gewöhnlich und blass.
Die andere (Cyrus) setzt einfach auf das pure Anti-Image, auf die kontrollierte Destruktion des öffentlichen Bildes des einstigen Disney-Püppchens „Hannah Montana“. Und: es wirkt! Mittlerweile sollte selbst dem klatschfeindlichsten ZDF-Geronten (No offense, liebe Rentenbezieher, falls Sie soeben via Google über diesen Blog gestolpert sein sollten!) bekannt sein, dass das brave Girlie, welches noch vor wenigen Jahren als keusches Antlitz von den rosafarbenen Shirts und Frühstücksdosen vieler kleiner Mädchen griente, längst passé ist. Nein, das 2013er Miley-Update ist WILD, UNZÄHMBAR, SEXY und FREI! Und egal, ob die inzwischen 21-Jährige im Laufe des Jahres mit ihrem mittlerweile veritabel ikonographierten Powackler – so zu sehen bei den diesjährigen VMAs – selbst Mittelpunktkünstlern wie dem „Blurred Lines“-Smasher Robin Thicke (der bekam das Ganze denn auch aus nächster Nähe mit), Justin Timberlake, Katy Perry oder Lady Gaga (da ist sie wieder!) die Show stahl, sich mit der bei jeder Gelegenheit schräg heraus gereckten Zunge als irres Pophühnchen stilisierte oder im Musikvideo zum Hit „Wrecking Ball“ mal halbnackt über Bauschutt turnte oder gleich – komplett im preiswerten Evakostüm – den Ritt auf der Abrissbirne wagte (und damit auch die ein oder andere Parodie billigend in Kauf nahm) – La Cyrus war im Gespräch, die einst so süße Miley war 2013 stets für ein kleines, nebensächliches Skandälchen zu haben. All das diente freilich keinem Selbstzweck, sondern sollte den Weg für Cyrus‘ neueste Platte „Bangerz“ ebnen. Und die konnte als mediokres Popundwegwerfprodukt erwartetermaßen kaum mit all der pop-pop-populären Öffentlichkeitsarbeit ihrer Interpretin mithalten…
(Den kompletten Gegenentwurf zu beiden Vermarktungswegen lieferte übrigens keine Geringere als Jay Z’s bessere Hälfte Beyoncé erst vor wenigen tagen, als sie ihr neustes, selbstbetiteltes Werk komplett ohne jegliche Vorankündigung oder Bewerbung als Nacht-und-Neblaktion – zunächst – exklusiv über den iTunes Store zum Kauf anbot. Und das auch nicht als schnödes Vierzehn-Song-Album, sondern als „interaktives Packages“ inklusive nicht weniger als achtzehn dazugehöriger Musikvideos… Wenn man so mag: antivirales Marketing in Reinstform. Und auch das schlug für ein, zwei Tage weltweit hohe Öffentlichkeitswellen…)
Wie zur Facebook’schen Statusmeldungshölle kommt nun also jemand wie Bob Dylan in diese Liste? Natürlich könnte man zunächst annehmen, dass „His Bobness“ es gar nicht (mehr) nötig habe, so etwas wie moderne Vermarktungsstrategien überhaupt in die Planungen seines Managements einfließen zu lassen, immerhin zählt seine Hörerschicht im Gros (!) zu den Menschen weit über der „Ü30“ – zu jenen also, von denen man annehmen dürfte, dass sie Musiktauschbörsen, iTunes Charts und Twitter höchstens aus den sprudelnden Erzählungen der Enkel kennen. Nun, ganz so scheint dem dann doch nicht zu sein…
Wie anders als mit der Begründung eines kleinen Marketingschachzuges ist es zu erklären, dass ein Jahrzehnte junger Evergreen namens „Like A Rolling Stone“ nun – 48 Lenze nach seiner Veröffentlichung auf dem Album „Highway 61 Revisited“ – ein amtliches Musikvideo erhält? Und dann nicht einfach eines mit einer schnöde dahin gerotzten Kameradarbietung des Künstlers selbst (was bei Dylan keineswegs verwundern würde). Nein, „Like A Rolling Stone“, seines Zeichens wohl noch immer Bob Dylans größter Hit, bekommt man im Jahr 2013 als interaktives Mitmachvideo zu sehen! Da darf sich der internetzaffine Zuschauer nun durch 16 eigens kreierte „Fernsehkanäle“ zappen, um darauf festzustellen, dass alle „Protagonisten“ Dylans Stück lippensynchron mitträllern. Hat was, in der Tat… Und „His Bobness“, dieser ewige Heilige des Songwritertums, dem das so gelungen interaktive Musikvideo freilich bei der vitalen Vermarktung der jüngst erschienenen, mehr als 40 Silberscheiben schweren Werkschau „The Complete Album Collection, Vol. 1“ zuträglich sein wird, hat bewiesen, dass vielleicht der ein oder andere seiner Hörer, jedoch nicht er zum alten Technikfeindeisen gehört…
Once upon a time you dressed so fine You threw the bums a dime in your prime, didn’t you? People’d call, say, „Beware doll, you’re bound to fall“ You thought they were all kiddin‘ you You used to laugh about Everybody that was hangin‘ out Now you don’t talk so loud Now you don’t seem so proud About having to be scrounging for your next meal.
How does it feel How does it feel To be without a home Like a complete unknown Like a rolling stone?
Hier gibt es einen kleinen „Appetittrailer“ zum inaktiven Musikvideo von „Like A Rolling Stone“ (das freilich über diese eigene Seite angesehen, bearbeitet und durchzappt werden kann)…
…sowie einen Beitrag zur Entstehung des Videos, inklusive einem Interview mit dem Regisseur/Macher Vania Heymann:
Ein schwarzer Hintergrund, ein Tisch, an dem eine junge Frau sitzt. Offenen Auges und ohne Zweifel blickt sie verführerisch geradeaus. Sie stellt sich kurz vor, dann das Buch, das sie in ihren Händen hält und aus dem sie nun einige Zeilen vortragen wird…
Sie beginnt ruhig zu lesen, doch schon bald stockt sie. Anfangs nur kurz, doch die Aussetzer häufen sich alsbald. Sie atmet stoßweise, schwerer und schwerer, sie schluckt, die Betonung des Gelesenen ist längst zur reinen Willkür verkommen. Ein Lächeln umspielt sanft ihre Lippen, ihren Oberkörper durchfahren leichte Zuckungen. Krampfhaft versucht sie, sich gegen das, was soeben mit ihr geschieht, zur Wehr zusetzen, und ist doch längst zum Spielball ihrer hormonellen Regungen und animalischen Triebe geworden. Das Buch ist längst ihren Händen entglitten, die sich nun mit aller Kraft gegen die Tischplatte pressen und ihrer Anspannung nach außen Ausdruck verleihen. Die junge Frau wirft ihren Kopf lustvoll stöhnend und juvenil kiecksend gen schwarzem Firmament. Zucken. Stöhnen. Lächeln. Lachen. Befreiung… Ausatmen. Und obwohl sie eine Kamera in diesen intimen Momenten stets beobachtete, schien sie doch ganz bei sich zu sein…
Was sich liest wie meine dilettantischen ersten Gehversuche im Bereich der erotischen Literatur, ist ein Kurzabriss der ersten Episode von „Hysterical Literature“, einem Projekt des US-amerikanischen Videokünstlers Clayton Cubitt. In diesem lässt er Frauen (die Dame von Folge eins nennt sich „Stoya“ und ist – Tatsache! – hauptberufliche Pornodarstellerin) Sätze aus einem selbstgewählten Buch (Stoya trägt aus „Necrophilia Variations“ eines gewissen Supervert vor) lesen, während (s)eine Assistentin die Dame mithilfe eines Massagegerätes (dem „Original Hitachi Magic Wand„, für alle die’s ganz genau wissen wollen – übrigens interessant zu sehen, was man mittlerweile alles bei Amazon bekommt) versucht, aus der… nun ja, „Fassung“ zu bringen. Neben „Stoya“ haben bis heute vier weitere Frauen, deren Namen/Pseudonyme wie Alicia, Danielle, Stormy und Teresa einen bereits über die Covergestaltung eines „Schmuddelfilmchens“ nachdenken lassen und von denen (bisher) nicht überliefert ist, ob auch sie ihr Geld im Pornogeschäft verdienen, dieses wahrhaft anregende Experiment vor laufender Kamera mitgemacht, mit ähnlichem Ablauf und identischem Ausgang. Und augenscheinlich mit Spaß.
Auf seiner Homepage wirft der Künstler selbst die Frage in den Raum, ob das alles nun „obszön“ oder „humorvoll“ sei und unterstellt dem Ganzen durch das Kennenlernen eventuell bisher unbekannter Literatur und weiblicher Höhepunkte auch einen pädagogischen Aspekt…
Nun, in Zeiten, in denen Romane wie „Feuchtgebiete“ oder Romanreihen wie „Fifty Shades of Grey“ für Aufsehen, Skandälchen, reißenden Absatz, errötete Köpfe und feuchte Hausfrauenschlüpfer sorgen und pornographische Inhalte in den schier endlosen Weiten des weltweiten Netzes für jeden von 9 bis 90 frei zugänglich sind, mag es kaum verwundern, dass nun jemand versucht, anhand echter Emotionen tiefer zu graben und so auf seine Weise Aufsehen zu erregen. Dass internetaffine Menschen in Blogs auf der ganzen Welt (so ja auch hier auf ANEWFRIEND) mittlerweile über die etwa sechs Minuten kurzen, in stilistisch anspruchsvollem Schwarz-Weiß gehaltenen Filmchen schreiben und diskutieren, und diese „Neuigkeit“ sogar dem Focus eine mediale Erwähnung wert ist, zeigt die Kreise auf, welche die Videoreihe seit der Veröffentlichung des ersten Teils vor einigen Wochen zieht. Und doch sind die gestellten Fragen meist die selben: Kann Pornographie intelligent sein, Literatur sexy? Und wie weit muss man gehen, um beides zur vollständigen Symbiose hin zu reizen? Bleibt Intimität natürlich und intim, wenn man sie der Öffentlichkeit aussetzt? Ist Sinnlichkeit Kunst, wenn Kunst versucht, sinnlich und zeitgemäß zu sein?
Alles in allem drehen sich Cubitts Videos um die Themen Lust, Exhibitionismus, Voyeurismus und (Selbst-)Kontrolle. Er setzt Frauen, die es von Berufs wegen gewohnt sind, der auf sie gerichteten Kamera drehbuchgenau Orgasmen in ihren ganzen Künstlichkeit zu liefern, einem gemäßigt intellektuellen Umfeld aus und versucht, sie aus der Konzentration und zum Ausdruck echter, intensiv-sinnlicher Gefühlsregungen zu bringen. Das ist durchaus nett anzuschauen (genau wie die jungen Frauen) – und hier definitiv eine Erwähnung wert. Herr Cubitt dies sind ihre verdienten fünf Minuten vom Kuchen des Rums!
Damit ihr euch selbst ein Bild von „Hysterical Literature“ machen könnt, hier die bisher veröffentlichten Episoden:
Wer mehr erfahren möchte, der findet hier ein Interview mit dem Künstler selbst. (via The Daily Dot)