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Flimmerstunde – Teil 6


Mitte Ende August (2009)

Ein Sommer in brandenburgischen Nirgendwo, wo man selbst für Handyempfang zum nächsten Baumarkt fahren muss. Hanna (toll gespielt von Marie Bäumer) und Thomas (Milan Peschel, der seine Rolle zwar gut spielt, für mich jedoch eine gefühlte Fehlbesetzung darstellt), zwei verliebte, kinderlose Großstädter Mitte Dreißig, proben in ihren Ferien die Flucht aufs Land und kaufen sich ein renovierungsbedürftiges Häuschen in der idyllisch-weiten Einöde. Zwangloses, semiprofessionelles Heimwerken, entspanntes Federballspielen auf der Wiese, Essen, Trinken, Lachen, der Badesee gleich hinterm Haus – alles ist gut und vertraut, und so könnte es auch bleiben. Doch dann erreicht Thomas ein Anruf seines Bruders Fritz (André Hennicke), der gerade sein privates und berufliches Waterloo erlebt und fragt, ob die beiden ihn für die nächsten Tage bei sich aufnehmen können. „Ich finde es so unglaublich schön, hier mit dir alleine zu sein“, sagt Hanna. Unterbewusst schwant ihr Böses… Thomas überredet seine Freundin schließlich, Hanna willigt ein und holt auch ihre jugendliche Patentochter Augustine (Anna Brüggemann) hinzu. Bald schon entwickelt sich eine wilde Überkreuzliebe, ständig pendelnd zwischen Zu- und Abneigung, zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Der Film legt schonungslos die Defizite und Schwächen seiner Protagonisten zu Tage, betreibt eine Fallstudie von Beziehungs- und Alltagsneurosen der desorientierten Großstädter kurz vor der „wirklichen“ Midlife Crisis. „Mitte Ende August“ zeigt, dass Dramatik keine schnellen Kamerafahrten, Explosionen und Orchesterbeschallung benötigt und dass Stille manchmal verletzender sein kann als tausend Worte.

Die Idee zu einem Film „frei nach Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ “ kam Regisseur Sebastian Schipper (u.a. „Absolute Giganten“ und „Ein Freund von mir“) im Urlaub, als ihm in Ermangelung anderer Literatur Goethes Werk von 1809 in die Hände fiel. Erwartet hatte er „fremden, alten Geruch“, fand stattdessen einen hellsichtigen, modernen Beziehungsroman, der ihn nicht als ersten Leser „fassungslos und aufgeregt“ hinterließ. Er machte sich ans Werk und entlieh sich alles, was ihm gut gefiel. Und obwohl zeitlos-klassische Motive wie der ewige Lockruf der Jugend oder das ständige Hinterfragen von Leben und Liebe durchaus an Goethe erinnern, ist Schipper ein Sommerfilm voll schöner Bilder und Momente, jedoch mit ernstem Unterton und im Innern gebrochenen Figuren gelungen, welcher sehenswert ist, jedoch keine Empfehlung für den gemeinsamen Pärchen-Filmabend.

Einen besonderen Platz nimmt bei „Mitte Ende August“ die Filmmusik ein. Der Soundtrack wurde komplett von dem mittlerweile – wie so viele viel zu früh -verstorbenen US-amerikanischen Songwriter Vic Chesnutt geschrieben, dessen Biografie die Tragik jedes Goethe-Werkes um Längen schlägt. Die Songs (u.a. eine gespenstische Coverversion von Kylie Minogues „Come Into My World“) sind mit Bedacht im Film platziert; in vielen Momenten beherrscht die Stille das Bild, Chesnutts Lieder nehmen so eine auffällige Sonderstellung ein, seine traurig greinende Stimme und sein an der Oberfläche unstrukturiert erscheinendes Gitarrenspiel bilden das emotionale Gerüst des Films. Ich hatte einige der Titel des Soundtracks bereits vorher gehört, doch erst jetzt, nachdem ich den Film gesehen habe (und um Chesnutts trauriges Leben bzw. Ende weiß), fügen die elf Titel sich zu einem berührenden Ganzen zusammen. Eine Empfehlung von mir – der Film zum Nachdenken, der Soundtrack für die Verlängerung der Gänsehaut.

Der Filmtrailer…

 

…und die Vic Chesnutt-Version von „Come Into My World“ als Hörprobe:

 

Rock and Roll.

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