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Song des Tages: Reinhard Mey – „Sei wachsam“


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Reinhard Mey? Klar, kennt man. Immerhin ist der 1942 im Berliner Bezirk Wilmersdorf geborene Musiker ein bundesdeutsches Denkmal. Und obwohl der heute 74-Jährige nie ein allzu großes Aufhebens um seine Person gemacht hat, ist er auch im 21. Jahrhundert kaum aus der Liedermacher-Szene wegzudenken.

Das mag wohl kaum an den Stücken zum Anfang seiner Karriere liegen, welche bereits in den Sechzigern und mit vor allem zwar netten, im Endeffekt jedoch harmlosen Liedchen begann, die mal dezent im Country stocherten, sich jedoch viel öfter knietief in dem von Mey geliebten französischen Chanson suhlten (man höre etwa „Ich wollte wie Orpheus singen„) und im besten Fall an Größen wie Leonard Cohen erinnerten (kein Wunder, schließlich besuchte Mey, Sohn eines Rechtsanwalts und einer Lehrerin, das Französische Gymnasium in Berlin). Eher nicht an Gassenhauern wie „Über den Wolken„, mit denen ein guter Teil von uns während der eigenen Schulzeit zwangsmalträtiert wurde. Und schon gar nicht daran, dass der Mann, der während seiner Karriere auch Pseudonyme wie Frédérik Mey (in Frankreich), Alfons Yondraschek oder Rainer May benutzte, sich nebenbei an Karrierestarts in Nachbarländern und in deren Landessprache versuchte, und dabei nicht selten knöchelhoch unter Schlagerverdacht stand.

Vielmehr besann sich Reinhard Mey in den Neunzigern auf die nicht eben unwesentliche Funktion des Liedermachers als Protestsänger und ließ – nebst Persönlichem – auch politische, zeit- und gesellschaftskritische Themen in die Texte seiner ohne viel Tamtam oft auf der Akustischen vorgetragenen Lieder einfließen – man höre etwa das bewegende Stück „Die Kinder von Izieu“ (vom 1995 erschienenen Album „Zwischen Zürich und zu Haus„), das die Deportation von 44 jüdischen Kindern aus Frankreich beschreibt und in dem er dezidiert Stellung gegen ein Vergessen der nationalsozialistischen Verbrechen bezog. Oder „Die Waffen nieder!„. Oder „Heimatlos„. Oder „Das Narrenschiff„. Oder „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht„. Oder… All jene Lieder mögen moderat links anzusiedeln sein, beweisen jedoch das Feingefühl des für Freiheit, Frieden und Gewaltlosigkeit eintretenden überzeugten Vegetariers, der sich bis heute auch offen engagiert (beispielsweise im Bundestagswahlkampf 2002 für den „Omnibus für direkte Demokratie“ oder auf einer Großdemonstration Anfang 2003 in Berlin gegen den bevorstehenden Irakkrieg). You may call him a grey-haired hippie…

Eines von Meys bis heute besten und mutigsten Stücken ist das 1996 auf dem Album „Leuchtfeuer“ erschienene „Sei wachsam“, welches vor „Rattenfängern“ wie „Geschäftemachern“ warnt und gerade in den letztes Zügen des Bundestagswahlkampfes in diesem Jahr wichtig scheint, hat es doch auch gute zwei Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung nichts von seinen – leider – zeitlosen Botschaften verloren. Und selbst wenn bei Reinhard Mey in den letzten Jahren (zuletzt erschien 2016 das Album „Mr. Lee„) – wer will’s im auch jenseits der Siebzig verdenken – vornehmlich die Altersmilde eingesetzt hat, beweist „Sei wachsam“ doch, wie wichtig der Berliner Liedermacher, ohne den Szene-Größen wie Gisbert zu Knyphausen wohl nie eine Bühne betreten hätten, auch heute noch ist.

 

 

„Ein Wahlplakat zerrissen auf dem nassen Rasen,
Sie grinsen mich an, die alten aufgeweichten Phrasen,
Die Gesichter von auf jugendlich gemachten Greisen,
Die Dir das Mittelalter als den Fortschritt anpreisen.
Und ich denk’ mir, jeder Schritt zu dem verheiß’nen Glück
Ist ein Schritt nach ewig gestern, ein Schritt zurück.
Wie sie das Volk zu Besonnenheit und Opfern ermahnen,
Sie nennen es das Volk, aber sie meinen Untertanen.
All das Leimen, das Schleimen ist nicht länger zu ertragen,
Wenn du erst lernst zu übersetzen, was sie wirklich sagen:
Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm:
Halt du sie dumm, – ich halt’ sie arm!

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!

Du machst das Fernsehen an, sie jammern nach guten, alten Werten.
Ihre guten, alten Werte sind fast immer die verkehrten.
Und die, die da so vorlaut in der Talk-Runde strampeln,
Sind es, die auf allen Werten mit Füßen rumtrampeln:
Der Medienmogul und der Zeitungszar,
Die schlimmsten Böcke als Gärtner, na wunderbar!
Sie rufen nach dem Kruzifix, nach Brauchtum und guten Sitten,
Doch ihre Botschaft ist nichts als Arsch und Titten.
Verrohung, Verdummung, Gewalt sind die Gebote,
Ihre Götter sind Auflage und Einschaltquote.
Sie biegen die Wahrheit und verdrehen das Recht:
So viel gute alte Werte, echt, da wird mir echt schlecht!

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!

Es ist ‘ne Riesenkonjunktur für Rattenfänger,
Für Trittbrettfahrer und Schmiergeldempfänger,
‘ne Zeit für Selbstbediener und Geschäftemacher,
Scheinheiligkeit, Geheuchel und Postengeschacher.
Und die sind alle hochgeachtet und sehr anerkannt,
Und nach den schlimmsten werden Straßen und Flugplätze benannt.
Man packt den Hühnerdieb, den Waffenschieber läßt man laufen,
Kein Pfeifchen Gras, aber ‘ne ganze Giftgasfabrik kannst du kaufen.
Verseuch’ die Luft, verstrahl’ das Land, mach ungestraft den größten Schaden,
Nur laß dich nicht erwischen bei Sitzblockaden!
Man packt den Grünfried, doch das Umweltschwein genießt Vertrau’n,
Und die Polizei muß immer auf die Falschen drauf hau’n.

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!

Wir ha’m ein Grundgesetz, das soll den Rechtsstaat garantieren.
Was hilft’s, wenn sie nach Lust und Laune dran manipulieren,
Die Scharfmacher, die immer von der Friedensmission quasseln
Und unterm Tisch schon emsig mit dem Säbel rasseln?
Der alte Glanz in ihren Augen beim großen Zapfenstreich,
Abteilung kehrt, im Gleichschritt marsch, ein Lied und heim ins Reich!
„Nie wieder soll von diesem Land Gewalt ausgehen!“
„Wir müssen Flagge zeigen, dürfen nicht beiseite stehen!“
„Rein humanitär natürlich und ganz ohne Blutvergießen!“
„Kampfeinsätze sind jetzt nicht mehr so ganz auszuschließen.“
Sie zieh’n uns immer tiefer rein, Stück für Stück,
Und seit heute früh um fünf Uhr schießen wir wieder zurück!

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!

Ich hab’ Sehnsucht nach Leuten, die mich nicht betrügen,
Die mir nicht mit jeder Festrede die Hucke voll lügen,
Und verschon’ mich mit den falschen Ehrlichen,
Die falschen Ehrlichen, die wahren Gefährlichen!
Ich hab’ Sehnsucht nach einem Stück Wahrhaftigkeit,
Nach ‘nem bißchen Rückgrat in dieser verkrümmten Zeit.
Doch sag die Wahrheit und du hast bald nichts mehr zu lachen,
Sie wer’n dich ruinier’n, exekutier’n und mundtot machen,
Erpressen, bestechen, versuchen, dich zu kaufen.
Wenn du die Wahrheit sagst, laß draußen den Motor laufen,
Dann sag sie laut und schnell, denn das Sprichwort lehrt:
Wer die Wahrheit sagt, braucht ein verdammt schnelles Pferd.

Sei wachsam,
Präg’ dir die Worte ein!
Sei wachsam,
Fall nicht auf sie rein!Paß auf, daß du deine Freiheit nutzt,
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
Sei wachsam,
Merk’ dir die Gesichter gut!
Sei wachsam,
Bewahr dir deinen Mut.
Sei wachsam
Und sei auf der Hut!“

 

Rock and Roll.

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