Nach gut vier Jahren Sendepause melden sich Mike Bird und Dave Pen alias BirdPen im März mit ihrem neuen Album „All Funktion One“ zurück. Bereits im vergangenen November ließ das englische Alternative-Electronic-Rock-Duo mit dem Albumopener „Function“ eine erste Kostprobe aus dem kommenden sechsten Langspieler hören, welche sich mit Themen wie Isolation und unserer Verletzlichkeit beschäftigt, die sich in diesen Tagen besonders deutlich zeigt. Der Song wurde in der Zeit des ersten Auftretens von Covid-19 geschrieben und gewann durch die nachfolgenden Entwicklungen an Relevanz.
Stilistisch stehen hier einmal mehr die großen TripHop-Prog-Rocker Archive Pate – nicht ganz zufällig übrigens, immerhin ist Dave Pen einer von deren Gitarristen und Stimmen. Der Song eröffnet getragen und sphärisch, bevor er mithilfe eines treibenden Mittelteils an Fahrt gewinnt. Cinematische Flächen bieten den Boden für einen beinahe technoiden Motorik-Beat, welcher von einer melancholischen Violine unterstützt wird. „What is real?“, eine Frage, die uns im Refrain gestellt wird, bleibt hier unbeantwortet. Wir alle schweben in unsicheren Zeiten, in denen mediale Dauerberieselung und eine Pandemie wohl nur die Spitze eines gigantischen Eisbergs sind – Aldous Huxley lässt lieb grüßen. „Function“ drückt dieses Gefühl, ähnlich wie auch die zweite Single „Invisible„, in einer melancholisch-ruhigen Klanglandschaft aus, die so beruhigend wie nachdenklich wirkt. Die Band über das dazugehörige Musikvideo: „It is a simple yet reflective portrayal of 2020. We asked our fans to send in short clips of themselves. They could smile, laugh, cry or just stare and do nothing. During the many lockdowns across the planet people have had to live an almost virtual live in many ways. This video brings together our fans to celebrate our brand new single release and new album announcement.„
Den narrativen Rahmen des am 5. März erscheinenden neuen Albums, das in einem Zeitgeist aus Isolation, digitaler Traurigkeit, Einsamkeit, Deep Fakes, Paranoia und dem modernen Leben im Cyberspace entstand und somit tief in diesem verwurzelt ist, erklären Mike Bird und Dave Pen wie folgt: „There was a story about a man who didn’t leave his home for years, built a silver room with no electrical appliances or telephones etc, to keep out the radiation. It was really inspiring but also quite tragic. It helped build a kind of narrative to the album. Switching off from everything almost feels like an impossible thing to do these days. Modern Junk continually drip feeds into us all. The album follows these kinds of themes and also about living in a designed life but it being cold, fake and faceless. About people feeling lost and invisible. We are all so vulnerable, as has been proven this year, but yet we all strive to continue with our modern lives under many different cooperate gods. Together we try and ‚All Function One‘.“
Für die ganz große Bühne mag es für Laura Burhenn bislang zwar nicht gereicht haben, im Indie-Bereich ist die Dame jedoch keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. So ist die in Los Angeles lebende Singer/Songwriterin, Musikerin und Aktivistin seit etwa zehn Jahren das kreative Mastermind hinter The Mynabirds, einer Band, die mit „What We Lose In The Fire We Gain In The Flood„, „Generals„, „Lovers Know“ und zuletzt „Be Here Now“ zwischen 2010 und 2017 vier von Kritikern gefeierte und stilistisch recht unterschiedliche Alben beim seit eh und je über jeglichen qualitativen Zweifel erhabenen US-Indie-Label Saddle Creek veröffentlicht hat. Davor bildete Burhenn gemeinsam mit John Davis (Q and Not U) das recht kurzlebige Indiepop-Duo Georgie James, veröffentlichte zwei selbstproduzierte Soloalben über das von ihr gegründete Label Laboratory Records und sammelte als Tournee-Mitglied bei den von Kritikern gelobten und kommerziell erfolgreichen Indie-Acts The Postal Service und Bright Eyes so einiges an Bühnenerfahrung. War’s das mit der Umtriebigkeit? Keineswegs, denn Laura Burhenn half vor einigen Jahren außerdem, „Omaha Girls Rock“ zu gründen, eine gemeinnützige Organisation, die es jungen Mädchen ermöglicht, ihre kreative Stimme zu finden. Und sie hielt 2013 einen TED-Vortrag, in dem sie sich ihrem Fotoprojekt „New Revolutionists“ widmete, welches wiederum der Frage nachging, was es bedeutet, in der heutigen Zeit eine revolutionäre Frau zu sein. Nein, Stillstand mag nicht Laura Burhenns Ding sein…
Interessanterweise könnte man hier Parallelen zu einer anderen Großen im Indie-Kosmos ziehen: Beth Gibbons. Musikconnaisseure wissen freilich: bei ihr handelt es sich um die Stimme der legendären britischen TripHop-Band Portishead, deren Debütalbum „Dummy“ 2019 ein frisches Vierteljahrhundert feiern durfte, und auch für Burhenn sehr einflussreich war, wie sie selbst zugibt: „‚Dummy‘ war meine Lieblingsplatte zum Rummachen in der Highschool und gehört zu meinen ständigen Top Ten“, so Laura Burhenn in einer Pressemitteilung. Als kleinen, ehrfurchtsvollen Knicks vor „Dummy“ veröffentlichte die Mynabirds-Frontfrau daher im vergangenen Jahr eine von Patrick Damphier produzierte Coverversion des Portishead-Evergreens „Glory Box„, die den bedächtig knisternden, geradezu schwülen und von trotzigem Feminismus geprägten Charakter des Originals zwar beibehält, aber gleichzeitig eine subtile, fast schon oldschoolige Country-Atmosphäre vermittelt. „Unglaublich, wie Beth Gibbons diese feministische Hymne in meinem Teenager-Hirn verankert hat – dieser Song hat bei mir vieles neu justiert“, meint Burhenn. Ohne Zweifel: durch #MeToo und immer dann, wenn die Rechte der Frauen beschnitten werden, bekommen der Song und seine Refrain-Zeile „I just want to be a woman“ – 25 Lenze auf dem musikalischen Buckel hin oder her – mehr Gewicht denn je…
Übrigens wurde der Cover-Song über „Our Secret Handshake“ veröffentlicht, ein von Frauen geführtes, frauenorientiertes Kollektiv für kreative Strategien, das Laura Burhenn – Sie ahnen es bereits – im Jahr 2018 mitbegründete. Und: ein Teil der Einnahmen aus der Single kam/kommt dem „Omaha Girls Rock“ zugute. Thumbs up!
„I’m so tired of playing Playin‘ with this bow and arrow I gonna give my heart away Leave it to the other girls to play For I’ve been a temptress too long
Just give me a reason to love you Give me a reason to be a woman I just wanna be a woman
From this time unchained We’re all lookin‘ at a different picture Through this new frame of mind A thousand flowers could bloom Move over and give us some room, yeah
Give me a reason to love you Give me a reason to be a woman I just wanna be a woman
So don’t you stop, being a man Just take a little look From our side when you can Show a little tenderness No matter if you cry
Give me a reason to love you Give me a reason to be a woman I just wanna be a woman Cause it’s all I wanna be is all a woman, yeah
For this is the beginning of forever and ever It’s time to move over So tired of playing
So tired of playing Playin‘ with this bow and arrow I gonna give my heart away Leave it to the other girls, to play For I’ve been a temptress too long
Just give me a reason to love you Give me a reason to be“
Sie heißen Oded Tzur, Nitai Hershkovits, Omer Klein oder Adam Ben Ezra – Israels Jazzkünstler sorgen, wie man liest, unter distinguierten Musikfreunden derzeit für Höhepunkte und kleinere Jubelstürme bei gutem Wein oder einem Schwenk Whiskey. Auf „Big Vicious„, dem neuen Album des gefeierten Trompeters Avishai Cohen und seiner gleichnamigen Band, ist ausgeklügelter, elektronischer Jazz zu hören, der sich – da hört her! – wohl perfekt als Soundtrack von Ausgangsbeschränkungen und ausgestorbenen Innenstädten eignen würde.
Fünf Männer auf einer Bühne zeigt das Cover von „Big Vicious“ – versunken, in sich gekehrt, auf das Innere, die Seele hörend. Zwei Schlagzeuger und zwei E-Gitarristen. Vorne steht der bärtige Trompeter, den Kopf gesenkt, das Instrument in seinen Händen funkelt. Dunkel und freundlich ist diese Grafik – in höchstem Maße ebenso nebulös wie mysteriös, aber keineswegs bedrückend. Geschaffen wurde sie von derselben Künstler-Agentur, die sich auch für die Animation des preisgekrönten Dokumentartrickfilms „Waltz With Bashir“ verantwortlich zeichnet.
Als wäre sie schwarz-weiß, vielleicht auch sepiafarben – so klingt diese Musik, an der lange getüftelt wurde, unter anderem mit dem Elektronica-Produzenten Rejoicer aus Tel Aviv (und schließlich mit Produzent Manfred Eicher in den Studios La Buissonne in Südfrankreich). Rejoicer empfahl den Musikern auch, mehr wegzulassen, sich aufs Wesentliche zu beschränken: „Wir haben uns sehr darauf konzentriert, was wir nicht haben wollten. Nicht zu viele Informationen, das war unsere Richtschnur. Nur nicht wieder zuviel von allem Möglichen – das haben wir beim Schreiben und während der Produktion ständig berücksichtigt. Eine überaus bewusste Entscheidung.“
Es ist feiner, elektronischer Jazz, den Avishai Cohen und seine Mitstreiter präsentieren: melancholisch-gebrochene Musik, in der man sich tagträumend einrichten kann. Ob „Big Vicious“ als Soundtrack zur Corona-Krise taugt? Schließlich wurde auch in Israel eine Ausgangssperre verhängt, ist das öffentliche Leben hier ebenfalls nahezu zum Erliegen gekommen. Der Musiker mit Vollbart, Tattoos am Hals und Ringen an den Fingern, der optisch irgendwie anmutet wie der lange verschollene Bruder von US-Folk-Troubadour William Fitzsimmons, nickt. Jetzt gehe es vor allem darum, sagt er, ruhig zu bleiben und abzuwarten. Wer das nicht könne, solle sich selbst hinterfragen.
Das Kunstvolle an diesen elektroakustischen Klanggebilden ist ihre Reduziertheit. Nur ein Sound-Skelett ist zu hören. Dem setzt Trompeter Cohen mit makellosem Ton funkelnde Glanzlichter auf. Bisher kannte man den Musiker als gefeierten Interpreten von Jazz-Standards, also amerikanischer Musik. Cohen wiegelt ab. Er habe immer schon elektronische Musik gemacht, nur kaum etwas davon veröffentlicht: „Amerikanischen Jazz gibt’s im Grunde gar nicht. Jazz ist amerikanisch, weil er da entstanden ist. Natürlich kann man auch in Europa Jazz spielen.“
Neben einer Variation von Beethovens „Mondscheinsonate“ gibt es wohl kaum Zweifel, welches Stück einen der Höhepunkte des Albums darstellt: es ist die eindrucksvolle Version von „Teardrop„, ein Titel der TripHop-Formation Massive Attack, anno 1998 auf dem Meilenstein „Mezzanine“ erschienen. Die Gruppe aus dem englischen Bristol hatte in den Neunzigerjahren Fusion-Klassiker von Billy Cobham aus den Siebzigern gesampelt, Musik aus den Seventies, als der Jazz erstmals elektronifiziert und futuristisch klang. Mit ihrer „Teardrop“-Interpretation machen Avishai Cohen’s Big Vicious die längst legendären britischen Elektronik-Bastler um Mastermind Robert „3D“ Del Naja zu Wahlverwandten, zu kreativen Geschwistern im Geiste. Der Ansatz erinnert in der Mischung aus Post-Punk-Rock und Groove mit freierer und jazzig komplexer Grundierung ein bisschen an die norwegische Post-Jazz-Fusion-Szene, anderswo an Miles Davis‘ Fusion Jazz der späten Sechziger, machmal funken gar Schlaglichter gen Indie Rock und Pop auf. „Teardrop“ jedoch, bei dem Avishai mit seiner Trompete ganz natürlich die Rolle von Liz Fasers ätherischer Stimme im Original übernimmt, habe Signalcharakter, wie Cohen erläutert: „Ich finde, dieses Stück hat etwas Spezielles. Es öffnet immer unsere Herzen, wenn wir es spielen. Es altert einfach nicht. Wir haben ja schon immer viele Cover-Versionen gespielt, einige kamen, einige flogen raus, einige blieben, aber ‚Teardrop‘ fühlt sich immer frisch an. Es entfacht jedes Mal ein Feuer.“ (Und das meint er, dem unter anderem bereits eine kaum weniger feine Version der Musik gewordenen Radiohead-Dystopie „Pyramid Song“ gelang!)
Mit „Big Vicious“ positioniert sich der Melodiker Cohen gemeinsam mit Uzi Ramirez (Gitarre), Yonatan Albalak (Gitarre, Bass) und den beiden Schlagzeugern Aviv Cohen und Ziv Ravitzsie als primus inter pares in der israelischen Jazz-Szene. Seine Trompete zieht mit kleinen solistischen Ausflügen und Höhenflügen die Melodie in die Tracks, während verschwimmend bearbeite Gitarren und Keyboards, dunkle Bässe und zischelnde Percussion unruhige, zärtliche oder undurchsichtige Atmosphären erschaffen. Und überhaupt feiert die Kunst der Improvisation des nahöstlichen Landes derzeit eine Blüte – so wie es vor einigen Jahren bei norwegischen und skandinavischen JazzkünstlerInnen der Fall war. Das Cover-Artwork von „Big Vicious“ lässt sich auch als Bildnis von fünf Musikern lesen, die gerade ein gelungenes, melodieverliebt-groovendes Stück beendet haben und den Applaus des Publikums erwarten. Ein Augenblick des Glücks, der schon im nächsten Moment wieder vorbei sein mag, in jener Sekunde des Kurzweils jedoch seinen höchst eleganten Gipfel erreicht hat.
Das 2011 erschienene Debütwerk „Peanut Butter Blues & Melancholy Jam“ sorgte in der britischen Musikszene für große Begeisterung und brachte Ghostpoet gar eine Nominierung für den renommierten Mercury Prize ein – wahrlich kein schlechter Einstand!
But… well, what’s the fuzz all about? Die darauf enthaltenen zwölf Songs (man höre etwa „Survive It“ oder „Liiines„), die in nächtlicher Eigenproduktion entstanden, während der Wortkünstler tagsüber – wie passend, wie trivial – in einem Callcenter jobbte, waren trübe und niederdrückend, aber gleichzeitig sehr klar in ihrem Stil. Obaro „Ghostpoet“ Ejimiwe wurde sofort neben große Namen wie Roots Manuva oder The Streets gestellt, hatte sich jedoch mit (s)einer besonderen Mischung aus markant-tiefem Sprechgesang, Trip-Hop, Dub und UK Garage längst eine eigene Nische geschaffen. Zwei Jahre später behielt das Nachfolgealbum den urban-nokturnen Charakter des Debüts bei, schien allerdings noch mehr von Entfremdung und Eskapismus in einer Metropole geprägt zu sein. Ghostpoet setzte auf Entschleunigung, probierte sich an langgezogenen Songstrukturen und übte sich in Friemelarbeit mit elektronischer Musik. Etwas unterkühlt und düster konnte „Some Say I So I Say Light„ so sicherlich nicht alle Fans des Debüts begeistern.
Und gerade als man vielleicht dachte, man würde die weitere Entwicklung von Ghostpoet mit leichter Hand einschätzen können, kam 2015 das dritte Album „Shedding Skin“ ums Eck – und hielt, dem Titel entsprechend, nicht wenige Überraschungen parat. Der Londoner Künstler mit nigerianischen und dominikanischen Wurzeln ließ den kreativen Stillstand links liegen und suchte einmal mehr nach neuen Einflüssen, stellte sein eigenes Soundgewand gar ein Stück weit auf den Kopf. Denn diesmal ging Ejimiwe nicht allein ins Studio, sondern nahm das Album innerhalb weniger Wochen in Begleitung seiner bisherigen Tourband auf.
„I wanted a consistent sonic direction throughout the record. I was definitely seeking coherency. And I wanted my mates!“
Fast schon indierockig nahmen so eine E-Gitarre, ein Bass und ein Schlagzeug den Platz der unterkühlten Beats und Synthesizer ein. Die zehn Stücke sind schneller, zackiger und mehr auf den Punkt. Ein weiteres Novum: Bei mehr als der Hälfte der Songs begleiten Ghostpoet weitere Musiker, unter anderem der stets gut behütet auftretende Maxïmo Park-Frontmann Paul Smith, die britischen Indie-Singer/Songwriterinnen Lucy Rose und Nadine Shah, Soul-Sängerin Etta Bond oder die belgische Jazz-Interpretin Melanie De Biasio.
„For this album, it felt silly to focus just on how great, or not, my own life is. My life is only one amongst millions. And that’s the attitude of it.“
In der Problematik seiner Geschichten lässt sich weiterhin der immanente Einfluss Londons erkennen, wohingegen die Unterschiede im musikalischen Bereich den einen oder anderen langjährigen Hörer bestimmt überrascht haben dürften. Während die Rhythmussektionen seiner Songs gut Ghostpoets charakteristischen, mal mit weicher Linie fließenden, mal brüchigen Sprechgesang untermauern, haben sich wohl nicht wenige Freunde der ersten Werke an mancher Stelle gewünscht, dass die Melodieelemente weniger präsent und weniger offensichtlich geblieben wären. Auf „Shedding Skin“ findet man mächtige Passagen verzerrter Gitarren („Better Not Butter”), bleierne Piano-Akkorde oder stimmungsvoller Streicher („Nothing In The Way”), die mit ihrem Soul-Jazz-Indierock im Sinne doch weit von den beiden früheren Alben entfernt sind (denen man vor etwa zwei Dekaden noch leichtfertig das Etikett „TripHop“ verpasst hätte). So mag das Album – bei allem erzählerischem Sog und all der organisch aufgebauten Instrumentierung zum Trotz – manchmal etwas überladen wirken und lässt (zumindest für Szene-Traditionalisten) einen Wunsch offen: Mehr Ghostpoet in Ghostpoet!
In Gänze ist „Shedding Skin“ ein mutiges, persönliches Experiment, das mit fein justierter (Live-)Energie überzeugt, und sich so perfekt auf die Bühne übertragen lässt (und einmal mehr völlig zurecht für den „Mercury Prize“ nominiert wurde). Unverändert liegt eine große Stärke in Ejimiwes Texten, mit denen man sich freilich und unbedingt näher beschäftigen sollte, um voll und ganz in den Sog von „Shedding Skin“ einzutauchen.
„Regardless of your situation, there’s always hope. And I think that’s something that’s come through in everything I’ve made, because I believe it so much. It’s an eternal thing.“
Im erneut zwei Jahre darauf (also 2017) erschienenem Nachfolger „Dark Days + Canapés“ setzten Ghostpoet und Band den eingeschlagenen Weg der vertonten – und in Stücken wie „Freakshow“ oder dem politisch recht eindeutigen „Immigrant Boogie“ dezent klaustrophobisch anmutenden – „Grumpy-Rap“-Urban-Erzählungen zu dichtem Live-Instrumentarium fort, während der Groove hier und da auf die besten Seiten der ersten Werke schielt. Für Mai ist mit „I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep“ das nunmehr fünfte Album von Ghostpoet angekündigt, und wer die Vorabsingle „Concrete Pony“ hört, der weiß: Obaro Ejimiwe bleibt mit ganz eigener Vision und eigenständigem Stil einer der faszinierendsten Musiker aus good ol‘ England.
Eines der Highlights von „Shedding Skin“ ist ohne Zweifel der Song „X Marks The Spot“, bei welchem sich Obaro „Ghostpoet“ Ejimiwe und Band die britische Indie-Singer/Songwriterin Nadine Shah zur stimmlichen Unterstützung ins Studio holten:
„Obviously, You made me see Can’t take this life for nothing Let me be All alone, I left my throne If I don’t try another way Then I’ll never know
So I don’t care anymore (What you say, no way) I don’t care anymore (Oh you do need me) There’s a drawer in a room in our house that’s calling your name I don’t care anymore (What you say, no way) I don’t care anymore (Oh you do need me) There’s a drawer in a room in our house that’s calling your name It’s calling your name
Used to think you were true But I was washed up, confused Grasping, gasping, no room for hope Nowadays, path seems clear But no I won’t turn around and celebrate You always seem here
So I don’t care anymore (What you say, no way) I don’t care anymore (Oh you do need me) There’s a drawer in a room in our house that’s calling your name I don’t care anymore (What you say, no way) I don’t care anymore (Oh you do need me) There’s a drawer in a room in our house that’s calling your name That’s calling your name Calling your name Calling your name Calling your name I don’t care anymore I don’t care anymore There’s a drawer in a room in our house that’s calling your name That’s calling your name“
Bereits seit Mitte der Nullerjahre macht der Londoner Musiker James Mathé unter dem Projektnamen Barbarossa mit (s)einem durchaus charmanten Mix aus Folk, Soul und elektronischen Klängen auf sich aufmerksam. Allerdings hat Mathé/Barbarossa im Lauf der Zeit einen deutlichen musikalischen Wandel vollzogen und sich vom bärtigen Folkmusiker zum entspannten, ambienten Elektroniker entwickelt – artverwandte Kollegen wie Nick Murphy (fka Chet Faker) lassen grüßen… Immer geblieben ist sein schöner (Falsett)Gesang, welcher ab und zu an José González erinnert (den er wiederum – passenderweise – aktuell auf Tournee begleitet), mal Gitarre, oft (s)ein Piano – und ganz viel Atmosphäre.
Übrigens: Aufmerksame Netflixer und Serien-Binger dürften das ein oder andere von Barbarossas Stücken durchaus aus Serien wie „How I Met Your Mother“, „Elementary“ und „Suits“ kennen. Das im März veröffentlichte SlowMo-meets-TripHop-meets-Soul-Album „Lier„, das wie seine Vorgänger („Bloodlines“ von 2013 sowie „Imager“ zwei Jahre darauf) bei beim Label „Memphis Industries“ erschien, produzierte Mathé in seiner englischen Heimatstadt Margate. Unterstützung erhielt er dabei vom Elektroniktüftler Ghost Culture und dem Schlagzeuger Joel Wästberg, der gemeinhin unter dem Alias Sir Was und durch City Slang bekannt ist.
Dass seine Songs auch ohne elektronisches Gerüst und im reduzierten Piano-Gewand ihre entsprechende Wirkung nicht verfehlen, zeigt James Mathé mit einer Neuaufnahme von „Home“, welches ursprünglich auf dem Zweitwerk „Imager“ erschien.
Es gibt Bands, die begleiten einen bereits schon so lang, dass man sich kaum an eine Zeit erinnern kann, als sie mal nicht da waren. Gut, in meinem musikverrückten Fall dürfte es dabei wohl um eine ganze Riege an Gruppen, Künstlern und Alben handeln, die irgendwie schon immer da gewesen zu sein scheinen. (Off topic: Ich habe kürzlich von einer Studie gelesen, anhand derer findige Lehrgesellen belegen möchten, dass man *hust* „im Alter keine“ – oder, vielleicht besser: kaum noch – „neue Musik hört“. Und obwohl ich mir durchaus stets einen Resthunger auf Neues und Interessantes erhalte, so muss ich zugeben: Stimmt.) Eine dieser Bands ist definitiv Archive.
Und das aus London stammende Kollektiv um die beiden Kreativköpfe Danny Griffiths und Darius Keeler hat freilich auch schon einige Lenze auf dem Bandbuckel. Mehr sogar: Seit der Bandgründung im Jahr 1994 haben Archive wohlmöglich ein ganzes Genre überlebt. Denn während man die ersten beiden Alben, „Londinium“ (1996) und „Take My Head“ (1999), noch ganz klar im TripHop-meets-Electronica-Fahrwasser von Massive Attack vermuten konnte, sollte sich um die Jahrtausendwende vieles bei Archive ändern. Das „Cool Britannia“ der Neunziger lang in einem anderen Jahrzehnt, und wohlmöglich stellte sich das Kernduo Griffiths-Keeler für die Zukunft der Band etwas anderes vor, als immer nur den Sound des „großen Bruders“ aus Bristol, in welchem sich mal gefällig, mal bedrohlich anmutende Electronica-Klänge mit echtem Bandsound aus GitarreSchlagzeugBass vermengten, um dann mit – vornehmlich weiblichem – Gesang unterlegt zu werden, für sich zu adaptieren. Also taten sich Archive mit dem Sänger Craig Walker – ehemaliger Frontmann der mäßig erfolgreichen irischen Poprocker Power Of Dreams – zusammen, banden ihn fest ins Bandkonzept ein – und schufen „You All Look The Same To Me„.
Man muss auch gar nicht lang suchen, um den ersten prägnanten Unterschied zwischen Album Nummer drei und seinen beiden Vorgängern auszumachen, denn bereits der Opener „Again“ nimmt sich satte sechzehnenhalb (!) Minuten Zeit und Raum. So weit, so oberflächlich die ersten Fakten. Und auch klanglich hat all das nur noch entfernt mit dem kühlen TripHop der Neunziger zu tun. Eine Akustische leitet sanft ein, bald schon gesellen sich eine wehmütige Mundharmonika hinzu, dann eine warm vibrierende Hammondorgel. Und auch der von Walker gesungene Text verheißt Innerliches: „You’re tearing me apart / Crushing me inside / You used to lift me up / Now you get me down“. Herzschmerz statt Vertonung von Metropolenfassaden? Scheint ganz so. Griffiths und Keeler nehmen sich zwar reichlich Zeit, den neuen Bandsound einleitend vorzustellen (Hut ab allein dafür!), doch famoser könnte der Einstieg in „You All Look The Same To Me“ wohl kaum sein – „Again“ ist ein Statement an Breitwand und Tüftelei, an Intensität und Freigeist, der sich Ruhepausen und Ausbrüche gönnt, Wirren und Flirren, Schmerz, Katharsis und ein klein Bisschen Erlösung. Wer erst einmal über diese Schwelle gestiegen ist, den zieht Archives drittes Werk immer tiefer in seine Eingeweide der Nacht. So ist „Numb“ die gelungene Symbiose aus hitzigen TripHop-Beats und derben E-Gitarren, „Meon“ der süße Hilferuf nach Liebe in Cinemascope („Does anybody want to take me home?“), „Goodbye“ und „Now And Then“ melancholische Blinklichter an Vergangenes, die auf das zweite ausladende Highlight hinfiebern lassen: „Finding It So Hard“. Denn auch bei diesem (über)langen Fünfzehnminüter astgabeln sich Vergangenheit und Zukunft von Archive, lassen einen feurige TripHop-Bausteine die Arme tanzend und taumelnd in die Luft werfen, während Synthie-Orgeln windschief ihre Bahnen ziehen, die Bässe pumpen und Gitarren nach gut zehn Minuten für ordentlich Feedback sorgen. „Fool“ ist da textlich nur ein weiterer Versatzstein im Abgesang an die Liebe („It’s never sure / It’s never pure / It always hurts“), während die Mundharmonika des Auftaktsongs ihre Rückkehr feiert und Craig Walker und Maria Q, der bereits das kurze „Now And Then“ gehörte, erneut beweisen, wie gut ihre Stimmen miteinander harmonisieren. Einen bösen Schalk hat auch das pianogetrangene „Hate“ im Nacken („I hate your face right now / I can’t stand a sight of you / So please / Leave me alone / I thought you were a friend / But you’ve ruined my tale again / So please / Just go away /…/ Don’t believe a word I say“), bevor „Need“ lieblich und folkloristisch wie anno dazumal eine Pilzkopf-Kombo ums Eck biegt. Und „Absurd“ verpackt seine zehn mal mehr, mal weniger langen Vorgänger in watteweiche Wolken, um ins Morgengrau zu verschwinden.
In den Jahren darauf sollten Archive diesen eingeschlagenen musikalischen Weg noch verfeinern, sollten noch mehr Bandsound-Organik auf ihre Platten und in ihre Bühnenauftritte mit einbinden, sollten sich von persönlichen Songinhalten immer mehr hin zu subtiler gesellschaftlicher Kritik wandeln. Dem Konzept der mehr oder minder festen Gastsänger sind Danny Griffiths und Darius Keeler freilich, obwohl Craig Walker längst nicht mehr mit an Bord ist, weiter treu geblieben. So hat man sich auch nach nunmehr zehn Alben – die letzte, „Restriction„, erschien im Januar diesen Jahres – eine gewisse Spannung bewahrt, ohne jedoch Trademarks einzubüßen. Hat Soundtracks aufgenommen (etwa den zum französischen Rennfahr-Film „Michel Vaillant“) oder gar die Filme zu fiktiven Scores selbst produziert („Axiom“ aus dem vergangenen Jahr) – was böte sich bei einer Band wie dieser den mehr an? Natürlich finden sich auf den Nachfolgern zum dritten Album die bekannteren, die *hust* schmissigeren Songs (etwa „Fuck U“ oder „Bullets„), aber „You All Look The Same To Me“ wird auf ewig das Werk bleiben, auf dem Archive zu dem wurden, was sie (bis) heute sind: ein spannendes Kollektiv mit mehr als zwanzigjähriger Historie, bei dem nicht selten bis zu 15 Personen hinter Studiotüren oder auf den Bühnenbretter mitmischen. Eine Band, die, wie so oft, wenn es um Anspruch geht, die größte Fanschar in frankophilen Ländern (Frankreich, Schweiz, Belgien) auf sich vereinen kann. Eine Band, die den TripHop hinter sich gelassen hat, um sich eine eigene kleine Nische zu schaffen, und noch lange nicht am Ende angekommen zu sein scheint – trotz den 13 Jahren, die mich „You All Look The Same To Me“ nun schon begleitet. Ein Meisterwerk, gefühlt.