Nachdem Frank Turner bereits die Singles „The Gathering„, „Haven’t Been Doing So Well“ und „Non Serviam“ veröffentlicht hat, folgt nun mit „Miranda“ der wohl persönlichste Song seines kommenden Albums, schließlich besingt der britische Musiker in dem Stück die schwierige Beziehung zu seinem Vater. Nach jahrzehntelanger Funkstille zwischen den beiden berichtet er davon, dass sie nun wieder miteinander sprechen – was auch daran liegt, dass sein Vater nun als Frau lebt.
Das zerrüttete Verhältnis liegt bereits in Turners Kindheit begründet. Der ehemalige Million Dead-Frontmann und punkrockende Singer/Songwriter wurde mit acht Jahren auf ein Internat geschickt, wo er sich „jede Nacht in den Schlaf weinte“, bis er sich „innerlich tot“ fühlte. Erst durch eine kürzlich durchgeführte Therapie wurde ihm klar, wie „wirklich beschissen“ diese Zeit für ihn war. In einem Interview mit dem „Guardian“ erläutert er: „So wurde mein Vater erzogen, und von mir wurde irgendwie erwartet, dass ich denselben Weg gehen würde. Aber ich fand es extrem traumatisch.“ Turner führt aus: „Ich hatte als Kind eine lange Vorgeschichte mit Selbstverletzungen und psychischen Problemen, die vollständig darauf [auf jene Zeit] zurückzuführen waren, und ich habe noch immer Narben, die das beweisen.“
Wohl auch deshalb verließ Turner früh sein Elternhaus, sein Vater, ein ehemaliger Banker und Buchhändler, wandte sich fast vollständig von seinem Lebensstil in der Londoner Punk-Szene ab und kam auch etwa „nie zu Konzerten“. Zudem gab Turner ihm die Schuld am Scheitern der Ehe seiner Eltern, sein Vater schien bereits zu Lebzeiten für ihn gestorben. Als er seine jetzige Ehefrau kennenlernte, sagte er zu ihr, dass er „nicht zu seiner Beerdigung gehen würde“. Im Jahr 2015 trafen die beiden bei einer Beerdigung kurz aufeinander, wo sein Vater ihm offenbarte, dass er darüber nachdenke, den Prozess des Transitioning zu beginnen. Turner war zwar erstaunt, tat aber ansonsten kaum dergleichen: „Ich dachte nur: ‚Okay, cool, whatever‘ – und ging weiter.“ Auch zu dieser Zeit sprachen die beiden nicht miteinander – ein Fakt, an dem er sich im Rückblick zumindest eine Teilschuld gibt, denn „ich war nicht gut drauf“. Aber als grundsätzlich integrativer Mensch – Turner arbeitet unter anderem mit der US-amerikanischen LGBTQ+-Wohltätigkeitsorganisation The Ally Coalition zusammen und sammelt bei seinen Auftritten häufig Geld für sie – wich seine Hitzköpfigkeit bald dem Verständnis: „Offensichtlich war es von Anfang an so: ‚Wenn das ernst gemeint ist, dann werde ich es unterstützen'“. Dennoch trafen sich die beiden erst 2018 auf Wunsch seines todkranken Onkels wieder. Sein Vater trat da bereits als Miranda in der Öffentlichkeit auf.
Für Frank Turner war dabei sofort klar, dass er nun einer anderen Person gegenübersteht: „Sie war sich der Menschen um sie herum und ihrer Wirkung auf andere Menschen bewusster. Weniger langweilig männlich und deutlich offener. Miranda ist ein wirklich netter Mensch und mein Vater war ein Arschloch.“ Seitdem hat sich das Verhältnis der beiden merklich verbessert, auch wenn eine große Aussprache noch aussteht. Miranda interessiert sich für die Arbeit ihres Sohnes, geht nun zu dessen Konzerten und sogar DJ-Gigs, um neben dem Pult zu tanzen. „Sie interessiert sich dafür, wer ich bin und was ich mache, was mein Vater nie getan hat. Wir werden immer an unserem Verhältnis arbeiten müssen, aber wir kommen ganz gut zurecht“, freut sich Turner heute. „Es hat sich von der Aussage, dass ich nicht zur Beerdigung von jemandem gehen würde, dahin entwickelt, dass wir uns zu Weihnachten sehen werden. Und darüber freue ich mich sehr.“
Wenig verwunderlich, dass diese zu Herzen gehende Geschichte auch Auswirkungen auf die dazugehörige Musik hat. In seinem neuen Song singt Turner „Miranda, it’s lovely to meet you“ und „My father is called Miranda these days / She’s a proud transgender woman and my resentment has started to fade“. Dabei kehrt er im Gegensatz zu den punkrockig krachenden Singleauskopplungen zuvor wieder zu seinem ruhigerem Singer/Songwriter-Sound zurück.
Das kommende Album „FTHC„, welches auf den 2019 erschienenen achten Langspieler „No Man’s Land“ folgt, ist für den 11. Februar 2022 angekündigt und kann bereits in diversen Versionen und Bundles vorbestellt werden. Zudem spielt Frank Turner im kommenden September sein eigenes Festival „Lost Evenings“ in Berlin und unterstützt die Donots bei ihren Konzerten in der Halle Münsterland – so diese Shows denn stattfinden können.
„My father’s called Miranda these days She’s a proud transgender woman And my resentment has started to fade ‚Cause it was never about who she was Just the way that he behaved Now my father is Miranda, we’re ok
All the years we were estranged I was always hoping you would find a way to change And after everything that we’ve been through Miranda, it’s lovely to meet you
When I was young, he always seemed so filled with rage Hе was angry at my clothes, my hair, my music, my teen age But one sunny aftеrnoon she was dancing next to me on stage I felt my anger drain away from inside my ribcage
And all the years we were estranged I was always hoping you would find a way to change And after everything that we’ve been through Miranda, it’s lovely to meet you
The problem with carrying hate For someone who doesn’t know ‚Cause you’re the only one carrying the weight Better just let it go and get to know you for who you are Who you really are Who you really are And who you’ve always been Who you’ve always been
And all the years that we have left Let’s be our best selves and let’s be friends I’ll be me, promise me, you’ll be you Oh, Miranda, it’s lovely to meet you Oh, Miranda, it’s lovely to meet you It’s lovely to meet you“
Declan McKenna ist im wahrsten Sinne ein „Newcomer“, wie er im Buche steht. Aber einer, der die Karriereleiter auf der Überholspur nimmt und schon bald so etwas „der nächste Jake Bugg“ werden könnte (wenn’s den denn braucht). Dabei ist McKenna erst süße 17 Jahre jung…
Allerdings muss der Teenager, der die Performing Arts Academy der St Mary’s Church of England High School im englischen Cheshunt, Hertfordshire besucht(e), bereits früh festgestellt haben, welches Talent da in ihm schlummert – und sich danach für die „Emerging Talent Competition“ des altehrwürdigen Glastonbury Festivals angemeldet haben. Den Wettbewerb gewann der junge Musiker – wenn man so will das englische Indie-Pendant zu Justin Bieber, nur eben mit Herz, Verstand und Sendungsbewusstsein – dann auch im April 2015. Dadurch wurde auch der „New Musical Express“ – Englands BILD-Zeitung fürs Musikalische – auf den ambitionierten Singer/Songwriter aufmerksam, ernannte ihn zu einem der „heißsteten neuen Acts“ (Understatement war ja bekanntlich noch nie das Ding des NME), was wiederum die Talentscouts der Plattenindustrie auf den Plan rief. Sage und schreibe 40 (!) verschiedene Labels baten den Teenie um eine Vertragsunterschrift (oder in dem Fall eher die Erziehungsberechtigten), am Ende entschied sich Declan fürs renommierte Majorslabel Columbia Records. Nur keine Zeit verlieren, oder?
Doch wird der so Umworbene den Lorbeeren auch gerecht? Nun, schon seine erste Veröffentlichung, die Single „Brazil„, setzt zumindest ein mit „Like“-Button versehenes Ausrufezeichen hinter diese Frage, während McKenna zu gefälligem Indiepoprock à la Libertines oder Jack Peñate und Zeilen wie „I heard you sold the Amazon / To show the country that you’re from“ Korruption in den Reihen der FIFA anprangert (was ihm sogar eine Einladung in eine britische Nachrichtensendung einbrachte). Seine Altersgenossen machen sich wohlmöglich mehr Gedanken über Pickel, das andere Geschlecht oder den nächsten Diskobesuch – Declan McKenna, der Künstler wie Sufjan Stevens, Jeff Buckley, The Beatles, Massive Attack, David Bowie oder Kendrick Lamar zu seinen Einflüssen zählt, ist da scheinbar anders.
Und so ist auch Single Nummer zwei, „Paracetamol“, kaum weniger tief schürfend. Im Song wie im Musikvideo macht sich McKenna für die Transgender-Community stark, welche ja – etwa durch Against Me!-Frontfrau Laura Jane Grace oder Caitlyn Jenner – bereits seit einiger Zeit die ebenso verdiente wie benötigte Aufmerksamkeit erfährt. Denn noch immer – und deshalb schrieb der 17-jährige Musiker dieses Stück vor etwa zwei Jahren – gibt es traurige Beispielsschicksale wie das von Leelah Alcorn, einem Trans-Teenager aus dem US-amerikanischen Ohio, der Selbstmord beging, weil ihre streng religiöse Mutter ihr mitteilte, dass sie „nie ein Mädchen sein würde“ und sie zwang, sich einer christlichen „Transgender-Umerziehungstherapie“ zu unterziehen – eine traurige Geschichte, und leider kein Einzelfall (die Hintergründe zu McKennas Song findet man etwa in diesem Artikel des britischen „Guardian“, während man hier ein Interview mit dem Newcomer lesen kann, in welchem er auch über „Paracetamol“ spricht). In der Tat keine leichte lyrische Kost – umso besser, dass die britische Musikszene Talente wie Declan McKenna hervor bringt, die der Welt – neben feinen Melodien – auch etwas zu sagen haben.
Hier gibt’s das gelungene Musikvideo zu „Paracetamol“…
…und den Song in einer Live-Session-Varinate:
„There’s a boy, fifteen, with a gun in his hand And the people with no audience say should be hanged They ask for his motive but they don’t understand Why they love like they do, like they do There’s a girl, fifteen, with her head in a noose Because she’s damned to live, well she’s damned to choose And the animals walked in twos by twos Showing love like they do, like they do There’s a girl, fifteen, although she isn’t sure Well how the hell could you want anything more Beautiful, perfect, immaculate whore I’m in love, love with you, love with you
Oh won’t you let me finish You drive me insane The world will keep on turning Even if we’re not the same Don’t come on to me, come on to me
There’s a boy, fifteen, turning into a man Well tell me one other thing that he can While you forced a smile through a jealous hand Showing love like you do, like you do There’s a boy, fifteen, and he’s attempted to sue Cause he’s definitely sure that it’s true What kind of man, kind of man are you Showing love like you do, like you do
Oh won’t you let me finish You drive me insane The world will keep on turning Even if we’re not the same Don’t come on to me, come on to me
So tell me what’s in your mind, so tell me what’s in your mind And don’t forget your paracetamol smile So tell me what’s in your mind, so tell me what’s in your mind And don’t forget your paracetamol smile So tell me what’s in your mind, so tell me what’s in your mind And don’t forget your paracetamol smile So tell me what’s in your mind, so tell me what’s in your mind
You’re emotionally challenged Why do you waste you waste your time The world around you’s manic Do you have no shame Come on to me, come on to me“
Ich kenne Mina Caputo schon eine ganze Weile – zwar nicht wirklich persönlich (einmal hatte ich nach einem Konzert in Madrid die Chance, mich kurz mit ihr zu unterhalten), dafür verfolge ich den Werdegang der 41-jährigen New Yorker Musikerin recht aufmerksam. Damals, 2000, als sich Caputo mit ihrem hervorragenden, berührenden Solodebüt „Died Laughing“ auf meinen musikalischen Radar drängte, nannte sich Mina noch Keith und war den meisten rockaffinen Musikhörern als der kleine derwischartige Frontmann mit der umso größeren Stimme der Alternative Metal-Rocker Life Of Agony bekannt. Dass allerlei Dämonen durch Caputos Seelenleben spuckten, war wohl für keinen ein Geheimnis, der einmal eine Show von Life Of Agony oder Caputo besucht hat oder aufmerksam den offenherzig lyrisch verzweigten Texten des einst so machistisch auftretenden Musikers gelauscht hat. Caputo wuchs inmitten von Armut, Missbrauch, Gewalt und Verbrechen auf, wurde von ihren heroinabhängigen Eltern vernachlässigt, musste sich oft allein durchschlagen – solch eine hollywoodreife Biografie prägt freilich fürs Leben, und durchzog auch den Großteil der traurig-tristen, kraftvollen Texte der Musikerin.
Als Caputo 2010 den fast zwölfminütigen Musikvideo-Kurzfilm zum Song „Got Monsters (I No Longer Exist)“ veröffentlichte, der ursprünglich vom 2003 erschienenen Solowerk „Perfect Little Monsters“ stammte, waren die Bilder an sich, die einen Tag im Leben einer transgender lebenden Person zeigen, welche langsam versucht, ihren Frieden mit der Person zu schließen, deren Augen sie da tagtäglich aus dem Spiegel heraus anstarren, freilich bereits berührend genug. Und anhand des Fakts, dass auch Caputo selbst – zwar mit langen Haaren, aber offiziell noch „Keith“ – eine Rolle in dem Musikvideo spielte, hätte man bereits ahnen können, was ein Jahr später – also: 2011 – offiziell folgte: aus Keith Caputo wurde Keith Mina Caputo, die sich via Twitter und dem ein oder anderen Interview als transgender beziehungsweise transsexuell lebende Frau outete. Die „monsters“, von denen sie vorher oft genug gesungen hatte, teilte Caputo nun auf Gedeih und Verderb mit der Welt. Dass sie damit – gerade aktuell – kaum allein dasteht (aus dem ehemaligen Against Me!-Frontmann Tom Gabel wurde etwa 2012 in aller Öffentlichkeit die Frontfrau Laura Jane Grace), dürfte jedem bekannt sein, der sich mal ein klein wenig mit der Transgender-Thematik beschäftigt hat. Aber in all den Jahren war kaum ein Dokument so berührend wie die zwölf Kurzfilmminuten des französischen Regisseurs Niko Bikialo, denen Caputo 2010 sein großartig offenes „Got Monsters“ lieh. Und das ist es noch immer…
„I’ve got monsters How ‚bout you? I was born a monster Do you hide your monsters too?
Now everybody else in here What has become of you? I’ve got monsters How about you?
We got monsters We suffer like the rest Man, I don’t know, and I don’t care What a lovely home we share What a tangled web we have weaved…
Now everybody else in here What has become of you? I’ve got monsters How about you?
Now everybody else in here What has become of you? I tiptoed up to my daughters room And I saw her monsters, too… I’ve got monsters How about you?
„Stop! / Take some time to think / Figure out what’s important to you / You’ve got to make a serious decision…“
(aus „Stop!“ vom Against Me!-Album „New Wave„, 2007)
Äußerlich völlig frei von jeglichem Zweifel, ja geradezu freundlich und friedfertig schaut die junge Frau ins Objektiv der Kamera. „DON’T BRO ME IF YOU DON’T KNOW ME“ steht in fetten Lettern auf ihrem schwarzen Shirt – „nenn‘ mich nicht Kumpel, wenn du mich nicht kennst“ -, während blonde Strähnen ihre braunen, halblangen Haare durchziehen, der Kajal in dicken Rändern die Augen umzeichnet und ein Meer aus Tattoos aus dem rechten Ärmel des Shirts blitzt. Doch Halt: „Bro“? Was zur Punkrockhölle bringt dieses freundliche Gesicht mit der der HipHop-Balz entnommenen, auf flapsige Art und Weise kumpelhaften „Ey, Bruder!“-Formel zusammen? Nun, wohl eine ganze Menge. Denn diese Person ist Laura Jane Grace. Und ihre Geschichte ist wohl eine der inspirierendsten der jüngeren US-amerikanischen Musikgeschichte…
„And if I could have chosen, I would have been born a woman / My mother once told me she would have named me Laura / I’d grow up to be strong and beautiful like her / One day, I’d find an honest man to make my husband / We would have two children, build our home on the Gulf of Mexico / Our family would spend hot summer days at the beach together / The sun would kiss our skin as we played in the sand and water / And we would know we loved each other without having to say it…“
Denn Laura Jane Grace wurde am 8. November als Thomas James Gabel – kurz: Tom Gabel – in Fort Benning, Georgia geboren. Da Toms Vater, ein US-Army Major, von Zeit zu Zeit in immer wieder wechselnden Militärbasen stationiert war, wuchsen er und sein wenige Jahre jüngerer Bruder irgendwo zwischen Texas, Pennsylvania, Ohio, Deutschland und Italien auf. Im Alter von elf Jahren trennten sich Toms Eltern und er zog mit seiner Mutter zu seinen Großeltern in den Sunshine State Florida. Schon damals fühlte sich der Junge anders als gleichaltrige Kids in der High School, als Außenseiter, der als „Schwuchtel“ beschimpft wurde und irgendwie nirgendwo so ganz dazu gehörte. Toms Ausweg liest sich klassisch: Experimente mit Alkohol, Marihuana, LSD oder Kokain, während ihm der Punkrock von Bands wie den englischen Siebziger-Jahre-Anarchopunkern Crass andererseits aufzeigte, dass es im Grunde okay sei, eben nicht dazu zu gehören zum tumben Oberflächenpulk aus Quarterbacks und Cheerleaderflachlegern. Und auch der nächste Schritt des Jungen, der im Laufe der Jugend eine ebenso große Aversion gegen männliche Rollenbilder wie gegen Autoritäten entwickelt, erscheint nur all zu logisch: Im zarten Alter von 17 Jahren schmeißt Tom die High School, zieht nach Gainesville, Florida und hebt Against Me! aus den musikalischen Angeln, dass anfangs nur aus ihm und seiner akustischen Gitarre besteht, sich jedoch schon bald zur veritablen vierköpfigen – und damit im besten Gitarre-Schlagzeug-Bass-Sinne „klassischen“ – Punkband mausert, die zwischen 2002 und 2010, neben zahlreichen Compilations und Samplerbeiträgen, insgesamt fünf Alben veröffentlicht (das Debüt „Reinventing Axl Rose“ erscheint beim Indie-Label No Idea Records, mit „White Crosses“ wagen Against Me! acht Jahre darauf den Versuch beim Quasi-Majorlabel Sire Records). Und auch ihr Ruf eilt Against Me! bereits seit den Anfangstagen voraus: eine Punkrockband, die mit losem Mundwerk, derben Hooks, einer eindeutigen Haltung (sowohl politisch als auch humanistisch) und energetischen Liveshows kaum eine Gelegenheit auslässt, Stellung zu beziehen, und das Herz am richtigen Fleck trägt. Doch auch in seiner Band geht Gabel einen gewagten Spagat ein: Auf der einen Seite ist er der „angry white young man“, der tätowierte Role Model-Punk und Frontmann einer unverschämt drauflos rockenden Band, auf der anderen Seite hat er mit Mitte Zwanzig bereits selbst die erste gescheiterte Ehe hinter sich (rückblickend gesteht er sich „Naivität“ und „Unerfahrenheit“ zu), lebte lange Zeit mit zwölf (!) Mitbewohnern in einem heruntergekommenen Haus mit einer Müllkippe direkt um die Ecke und musste, wie seine Bandkollegen auch, jeden sich nur bietenden Tagesjob annehmen, um Against Me! am Laufen zu halten. Auch später will der kurzhaarige, freundliche Frontmann – aller kleinen Schlagzeilen über Festnahmen wegen Ausrastern und derben politischen Sprüchen zum Trotz – nicht so recht ins Bild vom „Vorzeige-Punk“ passen: Seit 2007 ist er in zweiter Ehe mit der Künstlerin und Bandmerchandise-Designerin Heather Hannoura verheiratet, 2009 kommt deren gemeinsame Tochter Evelyn zur Welt. Was jedoch keiner weiß, ist, dass Tom Gabel in all den Jahren ein (für ihn) dunkles, bedrückendes Geheimnis mit sich herum schleppt, welches im Rückblick ebenso den Fortbestand seiner Band wie den seiner Ehe auf eine harte Probe stellt: Seit seiner Jugend fühlt sich der heute 33-Jährige als Person im fremden Körper, als jemand, den eine Geschlechtsidentitätsstörung (englisch: „gender dysphoria“) daran hindert, je wirklich irgendwo anzukommen und sich glücklich zu fühlen. Stattdessen betreibt er ein perfides Versteckspiel vor seiner Familie, seiner Band, der Gesellschaft – und am Ende sich selbst. Tagsüber ist Gabel der weltgewandte laute Schreihals mit Hang zu krachenden Akkorden, nachts verkriecht er sich allein in abgelegenen Hotelzimmern, trägt Frauenkleider, High Heels und Make-up, während er an den Texten für neue Songs schreibt. Im Jahr 2012 folgt dann der mediale Paukenschlag, als Gabel in einem im Mai veröffentlichten Interview mit der US-Ausgabe des „Rolling Stone“ verkündet, fortan als Laura Jane Grace, als Frau leben zu wollen. Nachdem ihr Against Me!’s Verlust des Majorlabel-Plattenvertrags und ein Gespräch mit einem ebenfalls transgender lebenden Against Me!-Fan den entscheidenden Mutkick gegeben hatten, hatte sie (an dieser Stelle sei ein Wechsel des Personalpronomens gestattet) bereits im Februar ihre Familie und Band von ihren so bedrückenden Geheimnissen und der Entscheidung in Kenntnis gesetzt, nun wollte Laura Jane Grace auch all jenen Mut machen, die ebenso wie sie fühlten. „Das Klischee besagt ja, dass du eine Frau bist, die im Körper eines Mannes gefangen ist – doch so simpel ist es nicht. Es ist ein Gefühl der Distanz zu deinem Körper und dir selbst. Und es fühlt sich scheiße an – verdammt scheiße“, wie Grace in besagtem „Rolling Stone“-Interview gesteht. Hört man heute den ein oder anderen älteren Against Me!-Song, so scheinen so viele von Graces Hilferufen überraschend unverblümt durch:
„And in the journal you kept / By the side of your bed / You wrote nightly in aspiration / Of developing as an author / Confessing childhood secrets / Of dressing up in women’s clothes / Compulsions you never knew the reasons to / Well everyone, you ever meet or love / Be just relationship based on a false presumption / Despite everyone, you ever meet or love / In the end, will you be all alone?“
„Lock the door, to your room / Pray they don’t find us, pray they don’t kick it down / Oh you’ve been keeping secrets / And these kind of lies have consequences / So many possibilities for this to all end badly / It’s almost guaranteed / Nothing but shame and paranoia / A slightly desperate feeling to calm you to sleep…“
Doch wohl kaum einer hatte wohl bis zu diesem medialen Vorschlaghammer so nur all zu Offensichtliche wahrhaben wollen: dass Laura Jane Grace in diesen Zeilen zwar nicht nur für sich, jedoch umso mehr zu sich Zeilen wie diese sang, die anderen Mut machten und sie davor bewahrten, final durchzudrehen. „Dass ich transgender bin, war immer schon Teil von Against Me!, bisher hat es nur keiner gemerkt“, wie sie im Herbst 2012 in einem Interview im der deutschen Musikzeitschrift VISIONS erklärt. Und auch wenn sie die Posten an Bass und Schlagzeug mit prominenten Zugängen neu besetzen muss (Ex-Refused Inge Johansson als Saitenzupfer, Ex-Offspring Atom Willard am Schlagwerk – ein Zusammenhang mit dem Geständnis der Frontfrau bleibt als schwebende Realität im Raum), erfährt Grace – allen Befürchtungen zum Trotz – nach dem Coming-out ebenso von ihrer Familie wie ihren Fans und vielen Musikerkollegen – etwa Brian Fallon von The Gaslight Anthem, Ex-Hold Steady-Keyboarder Franz Nicolay oder Linkin Park-Frontmann Mike Shinoda – sowohl Hochachtung als auch Unterstützung. Schon im Mai 2012 tritt die Against Me!-Frontmann unter neuem Namen und neuer Identität zum ersten Mal ins Bühnenscheinwerferlicht und beginnt kurz darauf mit ihrer Band, die nun wieder zu dem kleineren Plattenlabel Xtra Mile zurückgekehrt ist, mit der Arbeit am sechsten Studioalbum…
Weiß man nun um Laura Jane Grace bewegende Geschichte, so stellt sich – auch und gerade wegen eines Titels wie „Transgender Dysphoria Blues“ – in der Tat die Frage, ob der Sängerin der Geschlechtswechsel anzuhören ist. Rein profan und stimmlich: nein. Musikalisch und inhaltlich sehen die Dinge für Grace und Against Me! im Jahr 2014 jedoch schon anders aus, kommen viele der zehn Songs von „Transgender Dysphoria Blues“ ohne Umschweife auf den Punkt. So heißt es im zu Willards dynamischen Schlagzeugtakten eröffnenden Titelstück: „Your tells are so obvious / Shoulders too broad for a girl / Keeps you reminded / Helps you to remember where you come from / You want them to notice / The ragged ends of your summer dress / You want them to see you / Like they see any other girl / They just see a faggot / They hold their breath not to catch the sick“ – Laura Jane Grace legt bereits nach wenigen Minuten ihr altes Ich ad acta und wagt den Befreiungsumschlag. Dem stehen auch das mit unnachahmlichen Chords und Hooks in bester Gaslight Anthem-Manier verfeinerte „True Trans Soul Rebel“ („All dressed up and nowhere to go / Walking the streets all alone / Another night to wish you could forget / Making yourself up as you go along /…/ You should’ve been a mother / You should’ve been a wife / You should’ve been gone from here years ago / You should be living a different life“) oder das dezent an die Green Day zu seligen „Dookie“-Zeiten erinnernde „Unconditional Love“ („Even if your love was unconditional / It still wouldn’t be enough to save me“) in nichts nach, während Against Me! mit dem knappen Zweiminüter „Drinking With The Jocks“ einen ihrer punklastigsten und aggressivsten Song seit der Bandgründung aus dem Boden stampfen oder im textlich Gift und Galle spuckenden Neo-Waver „Osama Bin Laden As The Crucified Christ“ der Fratze der Gesellschaft den Spiegel vorhalten („You’re gonna hang like Benito from the Esso rafters / Hang like Glover with the skull caved in / Hang like a cross around my neck / You’re gonna hang, you’re gonna hang / What’s the best end you can hope for? / Pity fucks and table scraps / Subterfuge and detachment / A bullet in the head and a bullet in the chest“). In „FUCKMYLIFE666“ macht Grace schon im Titel keinerlei Geheimnis auch ihrer (damaligen) seelischen Schieflage, setzt hier jedoch inneren Zweifeln („Chipped nail polish and a barbed wire dress Is your mother proud of your eyelashes / Silicone chest, and collagen lips? / How would you even recognize me?“) das diffuse Gefühl der Hoffnung entgegen („No more troubled sleep / There’s a brave new world that’s raging inside of me“). Hört man beim thematischen Doppel aus dem nachdrücklichen „Dead Friend“ und der Akustikgitarrennummer „Two Coffins“ genauer hin, so ist es nur ein Katzensprung von der Erkenntnis, dass Grace in ersterem Song den Trauermarsch für ihr früheres Leben geschrieben hat („Needn’t worry about tomorrow anymore, because you’re dead / Does anything still echo? Is there any trace left? /…/ She waits for you to haunt her / She sleeps with your ghost at night in bed / When you died, you were only twenty-six / The most real person that I’ve ever met“, das Stück handelt in der Tat jedoch vom Tod eines engen Freundes) zum höchst unkonventionellen Liebesgeständnis an die Verbundenheit zu ihrer Frau und Tochter in „Two Coffins“ („Two coffins for sleep / One for you, one for me / We’ll get there eventually / In the dark of our graves our bodies will decay / I wish you’d never change / How lucky I ever was to see / The way that you smiled at me / Your little moon face shining bright at me / One day soon there’ll be nothing left of you and me“). Wie sollte es auch anders sein, blickt Laura Jane Grace auch in „Paralytic States“, laut ihr ein Song „über die Geschlechtsidentitätsstörung und Drogenmissbrauch – und die geradezu romantische Beziehung, die ich zu beidem mein ganzes Leben lang hatte“, der am Ende mit mehrstimmigem Gesang aufwartet und dem überaus angepissten Rausschmeisser „Black Me Out“ in Wut und Würde zurück auf das bisherige Leben des Tomas James Gabel: „I want to piss on the walls of your house / I want to chop those brass rings off / Your fat fucking fingers /…/ I don’t want to see the world that way anymore / I don’t want to feel that weak and insecure / As if you were my fucking pimp / As I was your fucking whore“. Ein Faustschlag mit schwarzen Fingernägeln!
„‚Geschlecht‘ hat nichts mit Geschlechtsorganen zu tun. Das ist wie bei einem Soldaten, dem im Krieg sein Schwanz weggebombt wird. Solange er sich trotzdem noch als Mann fühlt, ist er doch auch einer. Oder eine Frau, der die Eierstöcke entfernt werden. Weshalb sollte sie deshalb weniger Frau sein? Geschlecht passiert im Kopf, nicht zwischen den Beinen.“
(Laura Jane Grace im Interview mit VISIONS, Herbst 2012)
Against Me! live in der Music Hall of Williamsburg, Brooklyn, 9. Januar 2014 (Foto: Rebecca Smeyne)
Freilich ließen sich am sechsten Against Me!-Werk „Transgender Dysphoria Blues„, das die zu Teilen neu formierte Band innerhalb von zwei Jahren zu großen Teilen in Laura Jane Graces eigenem Studio in beschaulichen Elkton, Florida aufnahm, so einige kritische Härchen finden. Natürlich erfinden Against Me! mit ihrer Rückkehr nach immerhin vier Jahren Veröffentlichungspause das punkrockende Wagenrad nicht neu. Trotzdem bietet „Transgender Dysphoria Blues“ in seinen wahrlich zu kurzen 29 Minuten eine derartige Wucht aus Hooks, Melodien, Rhythmen in der Musik und ebenso entwaffnender wie schonungsloser Ehrlichkeit in den Texten, dass der aufmerksame Zuhörer zunächst einmal eines ist: geplättet. Dabei kann man Laura Jane Grace ihren Mut nach außen und zu sich selbst gar nicht hoch genug anrechnen, denn auch im 21. Jahrhundert bilden sich als Transgender bekennende Personen, sei es nun in der Musiklandschaft – und trotz Persönlichkeiten wie Anthony Hegarty oder Mina „Keith“ Caputo – oder im „otto-normalen“ Leben, die oftmals belächelten, jedoch umso mehr betuschelten Außenseiter am Rande. Dass das erste Bandalbum der Against Me!-Frontfrau nach ihrem Outing für sie selbst der reinsten „Katharsis“ gleichgekommen sein muss, ist der Thematik gemäß nur allzu verständlich. „Transgender Dysphoria Blues“ ist jedoch ebenso eine starke, dunkel gefärbte Punkrockplatte „in medias res“ wie ein Tritt in die Testikel von Homophobie, dem Festhalten an konservativer Kleinkariertheit und spießbürgerlicher Intoleranz. Laura Jane Grace hat spätestens mit „Transgender Dysphoria Blues“, dem „Fuck off!“ an die ungeliebten Weichteile ihres alten Lebens, zu sich selbst gefunden – und gerade damit sprichwörtlich „eine Extraportion Eier bewiesen“…
Hier kann man das komplette Album im Stream hören…
…und sich einige der Songs von „Transgender Dysphoria Blues“ in diesem von Arte France 2012 im Rahmen des „Festival de Dour“ mitgeschnittenen einstündigen Auftrittes von Against Me! in Liveversionen zu Gemüte führen: