Wenn zwei Typen durchs erste Morgenlicht eines Londoner Parks spazieren, einer (s)eine Gitarre vom Baum pflückt und für den anderen bereits ein getarntes Klavier hinterm Busch parat steht, so ist die Welt um sechs Uhr morgens noch recht in Ordnung. Was fehlt? Nun, im Grunde eigentlich nur noch ein Publikum. Da Shows gerade Corona-bedingt vornehmlich per Stream stattfinden müssen, haben sich die beiden daher eine erlesene Crowd aus lustigen Puppen sowie ein, zwei Kiddies (eventuell ist’s gar der eigene Nachwuchs) zu ihrer Wald-und-Wiesen-Session eingeladen. Für bestes Licht im morgendlichen Dickicht sorgt zudem die Wohnzimmer-Stehlampe, die sich denn auch glatt mit der Textzeile „Got to find a little light from somewhere“ ergänzt…
Die zwei singend-musizierenden Typen heißen Tom Smith und Andy Burrows. Ersterer ist hauptberuflich Frontmann der Editors, zweiteren kennt manch eine(r) eventuell noch als ehemaliges Mitglied von Razorlight und We Are Scientists. Gemeinsam hat das Buddy-Duo der Musikwelt vor gut neun Jahren das formidable Quasi-Weihnachtsalbum „Funny Looking Angels“ geschenkt. Und meldet sich nun, mit dem im Februar erscheinenden Werk „Only Smith & Burrows Is Good Enough“, zurück. Das melodisch in allerfeinstes Ohrwurm-Geschenkpapier eingepackte „Parliament Hill“ ist dabei – nach „All The Best Moves“ und „Old TV Shows“ – bereits der dritte Vorbote aus dem doch etwas unerwarteten (in jedem Fall jedoch gern genommenen) Comeback-Langspieler. Da darf man durchaus gespannt sein, welche tollen Melodien Smith & Burrows noch aus den englischen Hüten zaubern werden.
Für den Moment sollte man aber erst einmal die Augen schließen und gedanklich den gemeinsamen Heile-Welt-Spaziergang genießen…
„There’s a warm rain, are you feeling alright? Well, I know it ain’t easy when you can’t sleep at night There’s a band playing and they don’t give you peace Well, I know it ain’t easy when the noises won’t cease
Put a little heart in this somehow Put a little heart in this somehow Rosslyn don’t hurt yourself Another night caught under your spell Gotta find a little light from somewhere Gotta find a little light from somewhere Take a walk down Parliament Hill Six AM when the world is still
When thе storm breaks I will take you to see Wherе we used to tread lightly, where we were weak at the knees Well you won’t need, the china would smash We would topple together, break like pieces of glass
Put a little heart in this somehow Put a little heart in this somehow Rosslyn don’t hurt yourself Another night caught under your spell Gotta find a little light from somewhere Gotta find a little light from somewhere Take a walk down Parliament Hill Six AM when the world is still
If I knew then what I know now We were running on empty as the band takes its bow And get your head straight, or get bent out of line Cause I’m missing the madness of the light that you shine, oh
Put a little heart in this somehow Put a little heart in this somehow Rosslyn don’t hurt yourself Another night caught under your spell Gotta find a little light from somewhere Gotta find a little light from somewhere Take a walk down Parliament Hill Six AM when the world is still
Take a walk down parliament hill The world is still Take a walk, take a walk, take a walk, take a walk“
Auf den ersten Blick sind sie ein recht ungewöhnliches Gespann: Tom Smith, hauptberuflich Frontmann der Editors, und Andy Burrows, ehemals Mitglied von Razorlight und We Are Scientists. Zumal sich die beiden Freunde vor einigen Jahren dazu entschlossen haben, ein Weihnachtsalbum titels „Funny Looking Angels“ aufzunehmen und denn auch gleich – wenn schon nicht „funny“ dreinblickend – mit Engelsflügeln auf dem Cover der Platte zu posieren.
Ebenjenes “Funny Looking Angels” enthält zehn Songs, die – und das wohl nicht ausschließlich und allein für mich – seit nunmehr acht Jahren eine wunderbare Alternative zu verstaubten, totgespielt-kitschigen Weihnachtsliedern à la “Last Christmas”, „All I Want For Christmas Is You“ oder „Driving Home For Christmas“ bieten. Und wie es unter Freunden üblich ist, wurden auch zwischen Tom Smith und Andy Burrows die Zuständigkeiten geteilt und jeder darf mal die Leadvocals übernehmen. Trotzdem dürfte es keine allzu große Überraschung darstellen, dass dabei vor allem die Songs mit Smith am Mikro zu überzeugen wissen, schafft er es doch, die düstere Editors-Romantik (explizit die der Anfangsphase der Band aus dem englischen Birmingham, die der Electro-Kitschpop-Atmosphäre der letzten Werke doch um Einiges überlegen scheint) auch auf (s)ein etwas anderes Weihnachtsalbum zu übertragen.
Das besinnliche und doch klagende “When The Thames Froze” beginnt mit den Worten “Goddamn this snow, will I ever get where I wanna go?” und schwingt sich mit weiteren lakonischen Textzeilen schnell zum ersten Highlight der Platte auf. Ähnlich stark ist auch “This Ain’t New Jersey”, in dem Smith den milde gestimmten Geschichtenerzähler gibt. Von den Coverversionen, die sich das Duo fürs gemeinsame Festtagsalbum vorgenommen hat, sticht Blacks “Wonderful Life” heraus, dem der Editors-Vorsteher mit seinem dunklen Bariton-Timbre eine ganz neue Dimension verleiht (und am Ende wohl etwas zu weit in frostigen Akustikgothic überführt). An Yazoos “Only You” arbeitet sich – ebenso wie beim Titelstück, welches im Original von der hippiesken Britpop-Band Delta stammt – dann Andy Burrows mit zuckriger Kopfstimme ab, bei “The Christmas Song” wirkt die wundervolle Dänen-Sirene Agnes Obel mit. Ebenfalls neu interpretiert: Gustav Holsts „In The Bleak Midwinter“ oder die Longpigs-Hymne „On And On„. Winterliche Gefühle kommen auch beim Instrumental „Rosslyn“ oder dem an Elliott Smith’sche Glanzlichter gemahnenden Folk-Charmeur „As The Snowflakes Fall“ auf – man scheint förmlich den ersten Schnee zu spüren, der dampfend auf der herausgestreckten Zunge schmilzt.
Wer bei “Funny Looking Angels” ein weiteres *gähn* langweiliges Weihnachtsalbum erwartet hat, dürfte von den (leider) gerade einmal gut 35 Minuten angenehm überrascht werden, denn Tom Smith und Andy Burrows bieten allen Bublé-zu-schalem-Glühwein-Geschädigten eine liebevolle Platte, die auch den weltgrößten Festtagsmuffeln unter den Musikfans gefallen dürfte. Schöne, dezent melancholische Folk-Pop-Songs mit weihnachtlichem Bezug, wenig Bombast, kein sülzig-süßlicher Kinderchor, kein nervig-pastorales Glockengebimmel… Eine ruhige und auch etwas besinnliche Platte für kalte Tage und fürs Jahresende, die sich das großartig Kitschige oder übermäßig Sentimentale spart. Da hängt wohl selbst der größte Grinch satt leuchtende Mistelzweige auf.
Hier gibt’s das Musikvideo zu „When The Thames Froze“…
…sowie den Song noch einmal in einer kaum minder tollen Live-Session-Variante:
„Goddamn this snow Will I ever get where I wanna go? And so I skate, across the Thames Hand in hand, with all my friends
And all the things, that we planned My son’s eyes in the outline of his hand And even though I hate the cold Constant reminder that I’m getting old Another year draws to its close Entire London slows When I dream tonight, I’ll dream of you When the Thames . . . froze
Goddamn this government Will they ever tell me where the money went? Protesters march out on the street As young nerds sleep amongst the feet
Another year draws to its close Entire London slows When I dream tonight, I’ll dream of you When the Thames froze
So tell everyone That there’s hope in your heart Tell everyone or it will tear you apart The end of Christmas day When there’s nothing left to say The years go by so fast Let’s hope the next beats the last
So tell everyone that there’s hope in your heart And tell everyone or it will tear you apart The end of Christmas day When there is nothing left to say The years go by so fast Let’s hope the next beats the last…“
Damit ihr nicht vollkommen den Überblick über alle hörens- und sehenswerten Neuerscheinungen der letzten Woche(n) verliert, hat ANEWFRIEND hier wieder einige der Video- und Songneuerscheinungen der letzten Tage für euch aufgelesen…
Johnny Cash – She Used To Love Me A Lot
Johnny Cash – da haben die meisten sicherlich das gebrechliche Bild jenes Mannes in Erinnerung, der sich im Musikvideo zur großartigen Nine Inch Mails-Coverversion von „Hurt“ über die Tasten des vor ihm stehenden Pianos schaut und auf (s)ein langes Leben zurückblickt… Nicht umsonst gelten Cashs letzte Jahre, für die er sich mit Erfolgsproduzent Rick Rubin zusammentat, um mit der Aufnahmereihe der „American Recordings“ sein eigenes, in all den Jahren leicht country’esk angestaubtes Image aufzupolieren, als seine wohl besten und produktivsten.
Doch der „Man in Black“ war auch vor (und nach) seiner Zeit der Alternative Credibility äußerst umtriebig und veröffentlichte in seiner Karriere zwischen 1954 und 2003 nahezu 100 Alben auf diversen Labels. Dass bei dieser Masse freilich so einiges unters Mischpult rutscht, dürfte nicht verwundern. Dass nun, elf Jahre nach Cashs Tod im Alter von 71 Jahren, nach und nach all die „verschollenen Aufnahmen“ plötzlich (?) das Licht der Plattenläden entdecken, gehört wohl dazu. „Out Among The Stars„, das in Deutschland am 21. März, erscheint, enthält nun Songs, die Johnny Cash zwischen 1981 und 1984 (also in den Jahren seiner Popularitätsflaute) mit dem Country-Produzenten Billy Sherrill aufgenommen hatte. Weil sich sein damaliges Label Columbia Records jedoch weigerte, das Album zu veröffentlichen, verschwanden die Songs und tauchten erst kürzlich wieder auf, als sich Cashs Sohn John Carter Cash deren annahm und ein wenig auf Zeitgeist „polierte“.
Im Musikvideo zur Auskopplung „She Used To Love Me A Lot“ stellt der verantwortliche Film- und Musikvideoregisseur John Hillcoat in eleganten, schwarzweiß und matt farbig gehaltenen Bildern der romantischen Vorstellung des amerikanischen Traumes die Entfremdung und soziale Zwiespältigkeit der Realität entgegen: Ur-amerikanische Landschaftsaufnahmen reihen sich an Bilder von Naturzerstörung, Symbolen des Kapitalismus – auf zwei kämpfende Bisons in der Steppe folgt beispielsweise der Stier der New Yorker Wall Street – und vom Leben gezeichneten und geprüften Menschen mit traurigen Augen. „Der Text des Liedes klang für mich, als hätte er ihn an das heutige Amerika gerichtet“, erklärt Hillcoat seine Interpretation des Cash-Songs. „An die Nation, die ihn liebte, und gegen deren Spaltung er immer gekämpft hat. Diese Spaltung hat sich seit seinem Tod nur noch extrem verstärkt, deshalb wollten Amerika in diesem krassen Licht zeigen, als Hommage an den Grund, aus dem Cash immer schwarz getragen hat: weil es beschämenderweise immer mehr Entrechtete und Ausgeschlossene gibt.“
Gleichzeitig ist das Musikvideo laut Hillcoat auch ein Kommentar zu Cashs persönlichem Leben – nicht umsonst sind immer wieder Bilder des Musikers im Hintergrund auf Wänden zu sehen. „Wir wollten auch den Kampf und die Reise dieses großen Mannes zeigen, von der Liebe seines Lebens hin zu den verbrannten Ruinen seines berühmten Hauses am See, persönliche Fotos, die Höhle, wo er versuchte, sich das Leben zu nehmen und dann sein Leben umkrempelte, den Ort wo er zuletzt aufnahm und das letzte Foto von ihm vor seinem Tod.“ Letzteres bildet denn auch eindrucksvollen Schluss des Videos…
Editors – Sugar
Im krassen Gegensatz zu den weiten Landschaften des Cash-Clips stehen die Bilder des neuen Musikvideos zu „Sugar“, der aktuellen Singleauskopplung aus dem im vergangenen Juni veröffentlichten vierten Editors-Studioalbum „The Weight Of Your Love„. Darin finden sich Sänger Tom Smith & Co. inmitten grauen Betons und kühler Neonbeleuchtung wieder. Und während geradezu aggressive Basslinien und Textzeilen wie „You swallow me whole / With just a mumbled hello / And it breaks my heart to love you / It breaks my heart to love you“ mal wieder ordentlich Melancholie ins Hörerherz pumpen, verlieren Schwerkraftgesetze ihre Gültigkeit und kommen die Wände immer näher…
Yesterday Shop – Trees & Games
Ähnliches Setting inmitten verlassener Industriebauten und den nagenden Zähnen der Zeit, identisches Gespür für schwebende Indie-Schwermütigkeit: Das aus dem schwäbischen Reutlingen stammende und sich mittlerweile auf Hamburg und Berlin verteilende Quintett Yesterday Shop gewährt mit „Trees & Games“ einen ersten Vorgeschmack aufs kommende Album „Parodos“, welches ab dem 9. Mai in den Plattenläden stehen wird. Ob das ähnlich gut wird wie der Ende 2012 erschienene selbstbetitelte Erstling? ANEWFRIEND bleibt am Ball!
Warpaint – Love Is To Die (live at Conan O’Brien)
Indie? Melancholisch? Schwebend? Faszinierend? All diese Attribute treffen freilich auch auf den All-Female-Vierer von Warpaint und deren aktuelles Album zu. Dass die Band aus Los Angeles bei allem Touren rund um die Welt und all den Vorband-Aufritten für The National, Nick Cave & The Bad Seeds oder die Queens Of The Stone Age das heimische (TV-)Publikum nicht vergessen hat, bewiesen Emily Kokal, Theresa Wayman, Jenny Lee Lindberg und Stella Mozgawa kürzlich bei Late Night-Talker Conan O’Brien, bei dem sie eine tolle Live-Version der aktuellen Single „Love Is To Die“ zum Besten gaben…
Joan As Police Woman – Holy City
Für den hartnäckigsten Ohrwurm in den ANEWFRIEND’schen Gehörgängen sorgte in der vergangenen Woche übrigens Joan „Joan As Police Woman“ Wasser mit „Holy City“, der aktuellen Single aus dem neuen Album „The Classic„. Dabei sei betont, dass sich der dazugehörige Rest von Platte Nummer fünf der 43jährigen Wahl-New Yorkerin ebenso lohnt, immerhin lässt sich laut.de in seiner knappen Review zu dem euphorischen Urteil hinreißen, das in den zehn neuen – und absolut zeitgemäß mit Elementen aus Soul, Blues, Swing und Sixties-Doo-Wop spielenden – Stücken „das echte Leben tobt“…
Die Coverversion(en) der Woche…
…stammt von der jungen Musikerin Kawehi, die im Rahmen ihrer Kickstarter-Kampagne für das Musikprojekt Robot Heart Cover-Wünsche annahm. Einer dieser Unterstützer-Vorschläge war Nirvanas „Heart-Shaped Box“, das die Künstlerin mit Beatboxing intoniert und nach und nach – mittels Loop-Maschine – Gesangs- und Keyboard-Schleifen einfügt, bis am Ende eine komplett eigene Variante des Kurt Cobain-Angstkleinodes entsteht.
Auch gut ist Sarah Stones A Capella-Handclap-, Tischklopf- und Becherknall-Variante von „Royals“ (das Original von Neuseelands 17-jährigem Shooting Star Lorde dürfte wohl hinlänglich bekannt sein), während Meytal Cohens Drum-Cover des Tool-Evergreens „Forty Six & 2“ beweist, wie *hust* ansehnlich und leichtfüßig weibliches Schlagzeugspiel inmitten schöner Sonnenlandschaften daher kommen kann. Das Auge hört ja bekanntlich auf YouTube mit, oder?
Jammern auf einem verdammt hohen Thron. Genau so – oder zumindest: so ähnlich – könnte Benjamin Griffeys Situation ausgesehen haben, als er sich nach der Endlostour zu seinem vor zwei Jahren erschienenen dritten Album „XOXO“ so seine Gedanken machte. Wie geht’s nun weiter? Eine durchaus berechtigte Frage…
Immerhin hatte er, der als Casper für Furore gesorgt hatte, es geschafft, auch den Feuilleton mit Songs, denen – HipHop hin oder her – eine vor nicht all zu langer Zeit noch vorherrschende kleingeistige „Ghetto Gangster“- und „Fick deine Mutter und alle deine Freunde“-Attitüde eines Fler, Bushido oder Haftbefehl (allein die Namen sprechen Bände) völlig abging, von sich zu vereinnahmen. Dass der Wunsch, als ehemaliger Underground-Rapper endlich vom liebsten Hobby leben zu können, auch bedeutete, dass einem die eigene Visage fortan von „Bravo“-Covern entgegen griente und nun die ersten Konzertreihen von nicht selten minderjährigen Mädchen, die nach Konzertschluss pünktlichst von ihren besorgten Eltern vor der Halle abgeholt wurden, bevölkert wurden – fair enough. Viel wichtiger scheint jedoch, dass Griffey/Casper sich auf „XOXO“ in einem Maße freischwamm, welches zumindest im deutschsprachigen HipHop seinesgleichen suchen dürfte. Gemeinsam mit seiner Band (!) bastelte der ehemalige Bielefelder, der nun wie jedermann freilich in der Hauptstadt wohnt und lebt, jahrelang an Sounds und Songs – und verließ die Proberäume und Aufnahmestudios erst, als er mit „XOXO“ ein Ergebnis in seinen Händen hielt, dass sich kaum fundamentaler vom vor allem in Fankreisen höchst beliebten, 2008 erschienenen Vorgänger „Hin zur Sonne“ unterscheiden konnte. „XOXO“ war groß, hymnisch, mitreißend und positiv – jedoch auch melancholisch, introspektiv und unvermittelt. „XOXO“ hatte Aufruhr im Sinn und Veränderungen im Blick, verknüpfte Beats mit klassischem Rock-Instrumentarium aus GitarreSchlagzeugBass zu nahezu durchgängig unwiderstehlichen Popmomenten, während Griffey in den Texten nicht selten die mal salzigen, mal schmutzigen Finger in die Wunden der Zeit legte: „Und bin weg, weit weg, da wo dir Fehler verzeihbar sind / An den Ort, wo wir mit 16 dachten, wo wir mit 30 sind / Kein Ärger und Mist, denn als merkten wir’s nicht / Alltag ist Treibsand, du steigst ab, je stärker du trittst / Immer nur lang leben von Mahnung zu Mahnung und Ratenabzahlung / Für ein Mal im Jahr 14 Tage Malle / Ich bin raus, kann schon nach dem Ende ’nen Anfang sehen / Ganz egal, wie lang‘ der Fall, solange die Landung steht / Vielleicht Saint Tropez / Vielleicht weit hinter den Bergen / Vielleicht nur Bielefeld, doch dort, wo noch Grinsen was wert ist“ (aus „Auf und davon“). War das, wozu sich da plötzlich Lederjacken-Indierocker und Übergrößenklamotten-Hiphopper unisono über die Tanzflächen der Studentendiskos bewegten, eigentlich noch HipHop? Wenn nicht – was zur Hölle dann? Raprock? Poprockhop? Indiehippostrock? Fest stand: Da hatte ein junger Mann, ein ehemaliger Medienpädagogik- und Psychologiestudent mit – Obacht! – „Migrationshintergrund“, mal eben die komplette deutsche Musikszene gefoppt und sich mit dem gefühlten Debütalbum „XOXO“ nachhaltig auf dem ersten Platz der Albumcharts breitgemacht, während Songs wie „Auf und davon“ oder „So perfekt“ massig Radioairplay erhielten und gestandene Künstler wie Thees Uhlmann oder Madeira ihm auf dem Album mit Gastbeiträgen ihre Aufbietung machten… Und wer je ins Gespräch mit dem nicht selten „Emorapper“ titulierten Endzwanziger kam (der sich selbst ironietriefend als „Vater des Hipster-Raps“ bezeichnet), der stellte fest, dass dieser zwar durchaus seine Wurzeln im westfälischen HipHop hatte, dass Griffey jedoch ebenso einen Gedichtband von Rainer Maria Rilke unter dem „Black Album“ von Jay-Z auf seinem Nachttisch liegen haben könnte. Außerdem schienen dem Herrn Genregrenzen völlig fremd zu sein. Gepflegte Punchlines zu Tom Petty’esken Akkorden? Rapsalven über Endhaltestellen und Auswege, über Depression, Tode und die Lichter am Tunnelende, gekreuzt mit dem Rockismusgeist von Springsteen oder den Counting Crowes, während sich die Gitarren in ungeahnte Post Rock-Höhen á la Explosions In The Sky schrauben (man höre und staune noch immer über die bewegenden Songs „Michael X“ oder „Kontrolle/Schlaf“!)? Geht, alles. „XOXO ist das Ergebnis einer positiven Dialektik aus HipHop und Hardcore, Zerstörung und Erneuerung, Lachen und Weinen, Zurücklassen und Wiederfinden, Liebe und Wut, Depression und Hoffnung, alles geht fließend ineinander über“, wie die TAZ damals in ihrer Kritik schrieb. Unterschrieben.
Foto: Paula Winkler; Alexander Gehring
Was also sollte nach „XOXO„, diesem unverhofft genreübergreifenden Statement, kommen? Die Kehrtwende zurück zum Purismus des HipHop? Weiter in Richtig Pop? Oder gar: noch mehr Handwerk, noch mehr Songwriting? Hört man nun „Hinterland„, Album Nummer zwei in der „neuen Casper’schen Zeitrechnung“, Album Nummer vier in der Gesamtdiskografie des mittlerweile 31-Jährigen, so dürften die elf neuen Stücke bei vielen zunächst einmal für Verwunderung sorgen, denn Griffey setzt genau da an, wo einen „XOXO“ vor zwei Jahren zurück ließ. Und macht doch alles anders.
Rein oberflächlich wäre da schon einmal das Coverartwork: Ein schwarzer Priester scheint wie in Trance himmlische Mächte zu beschwören, während er als Täufer eine vormals Ungläubige in sonnenbeschienene Gewässer taucht. Wo waren die einsamen Wölfe geblieben, die einen noch bei „XOXO“ vom Plattencover – beziehungsweise zu Anfang der begleitenden Konzerte als leuchtende Masken bei allen Bandmitgliedern – Ehrfurcht einflössend anstarrten? Passend dazu präsentierte sich Griffey mit Redneckkappe und amtlichem Vollbart. Ein shoutender Indie-Jesus? Wohl kaum. Vielmehr begab sich der deutsch-amerikanische Musiker, der zwar in Ostwestfalen zu Welt kam, dank seines amerikanischen Vaters, einem US-Soldaten, jedoch die ersten elf Lebensjahre in Augusta (nahe Atlanta, US-Bundesstaat Georgia) verbrachte, bevor seine Mutter mit ihm und seiner älteren Schwester nach Deutschland zurückkehrte, klanglich auf Spurensuche. Die größte Rolle bei der musikalischen Neujustierung dürften dabei wohl die beiden als Produzenten fungierenden Studioasse Konstantin Gropper und Ganter gewesen sein – der eine (Gropper), als Vorsteher der international angesehenen, am Ende doch stets leicht größenwahnsinnig aufspielenden Get Well Soon, das „ewige Wunderkind“ des deutschen Indiepop, der andere (Ganter) bislang bekannt für seine dubstepaffinen Produktionen für Elektropopper wie Sizarr. Dazu ein Haufen offener Kreativlinge wie Griffey und Band. Was für eine Melange!
Und so ist es kaum verwunderlich, dass bereits der erste Song, „Im Ascheregen“, ohne Umschweife in die Gehörgänge rutscht. Erst noch von einsamen Pianonoten eingeführt, mischen sich alsbald treibende Schlagzeugschläge, flirrende Gitarren und „Ohoho“-Chöre ins Geschehen ein, während Griffey die Parole ausgibt: „Dies ist kein Abschied, denn ich war nie willkommen / Will auf und davon und nie wiederkommen / Kein Lebewohl, will euch nicht kennen / Die Stadt muss brenn‘, brenn‘, brenn‘, brenn‘ „. Ist dies etwa – und man unterstelle mir hier bitte keinerlei Blasphemie! – etwa der persönliche „Born To Run“-Versuch des bekennenden Springsteen-Fans? In eine ähnliche Kerbe schlägt denn auch das darauf folgende Titelstück: „Wo jeder Tag aus Warten besteht / Und die Zeit scheinbar nie vergeht / In diesem Hinterland, verdammtes Hinterland / Wo Gedanken im Wind verwehen / Und die Zeit scheinbar nie vergeht / Geliebtes Hinterland, Willkommen im Hinterland“. Zu schmucker Akustikklampfe und E-Gitarren, sanften Chören, treibendem Schlagzeug und Handclaps erzählt der „Konsensrapper“ von der Tristesse des Irgendwos im Nirgendwo und lässt gleich mal eben sein roadtriptaugliches „Thunder Road“ folgen. „Alles endet (aber nie die Musik)“ setzt darauf wieder mehr auf die Euphoriekarte, holt mit poppigen Rhythmen die Freunde von „XOXO“ (wieder) ins Boot, während man die eigene Vergangenheit, die ersten dreißig Lebensjahre, im Rückspiegel betrachtet („Einer ging zu früh, einer bekam dann Kinder / Einer geht ein und aus, irgendwas ist immer / Einer ging zum Bund, der Rest weg, die Welt erfahren / Ich mach noch immer das Musikding, bin selten da“). Die im HipHop-Zirkus nicht eben seltene Kunst der Referenzeinwürfe und Querverweise spielt „…Nach der Demo ging’s bergab!“ zu freudetrunkenem Piano, Bandinstrumentierung und Bläsern höchst clever aus – oder wo sonst werden Die Sterne, Ton Steine Scherben, Tomte, Wir sind Helden, Kraftklub (in anderen Stücken gar Slime, Kettcar oder Oasis) mal eben so augenzwinkernd genamedropped? „Nun nur noch ein Mixtape, wo kein Song zu dem anderen passt“? Nee, Casper, passt schon! Und auch die gewohnten Melancholiebolzen kommen auf „Hinterland“ nicht zu kurz: „20 qm“ ist der feierlich schöne Abgesang an die guten Zeiten einer gescheiterten Beziehung (inklusive windschief niedlicher „Oho“-Chorale), „Lux Lisbon“ könnte mit seinen schleppenden Rhythmen und dem großen Refrain, für welchen Griffey keinen Geringeren als Editors-Stimme Tom Smith gewinnen konnte, die Vorgeschichte des bitteren „XOXO“-Songs „230409“ sein. Auf „Ariel“ kommen dann erstmals (!) verhalten bummernde Hintergrundbeats zum Einsatz, während im Text Besinnlichkeit und Gedanken über den Tod Einzug halten: „Wenn ich geh‘ – wenn ich geh‘, wenn ich geh‘, wenn ich geh‘ / Bin ich doch da, solang‘ die Band noch spielt / Und alles ist gut, anders, aber gut anders“ – it ain’t over before it’s over. Weitere Highlights sind etwa „La Rue Morgue“, in welchem sich Griffey zu betrunken hinterher taumelndem Piano, Schepperpercussion und „Lalala“-Chören als deutsche Antwort auf jenseitige Greiner wie Tom Waits oder Nick Cave präsentiert, oder der Abschluss „Endlich angekommen“, bei dem der Musiker innerhalb von sechseinhalb Minuten – und mit hörbarem Stolz auf sich und seinen eingeschworenen kleinen Haufen Kumpane! – noch einmal den bislang zurückgelegten Weg Revue passieren lässt: „Applaus, Applaus / Vorhang auf / Endlich angekommen / Und alles zieht vorbei, bei, bei, bei, bei… /…/ Liebe kommt, Liebe geht / Nur was immer bleibt, sind Bilder zur Zeit / Die kann uns niemand nehmen…“.
Foto: Sony Music
Alles in allem ist Benjamin „Casper“ Griffey und dem nicht selten spürbar die Richtung vorgebendem Reglerschiebeduo Gropper/Ganter mit „Hinterland“ eine bis ins kleinste 47-minütige Detail ausbalancierte Antwort auf dem Achtungserfolg „XOXO“ gelungen (die beiden halbgaren Stücke „Ganz schön okay“, welcher ein Feature der chemnitzer Tourneekumpels von Kraftklub beinhaltet und den Tourbus als Butterfahrtskommando – beinahe – gegen die Wand fährt, und „Jambalaya“, das sich als augenzwinkernder Partyschwanzvergleich im Bigband-Konstrukt präsentiert, mal außen vor). Skandierte der Indie-Rapper („Indie“ explizit der Herangehensweise wegen!) vor zwei Jahren noch „Anti-alles für immer!“, so kann man anno 2013 bedenkenfrei das „Anti“ streichen. „Hinterland“ ist Caspers nicht eben pathosfreies Rückspiegelhohelied auf die eigene Jugend in der Provinz und stellt die Trostlosigkeit der Trailerparksiedlungen neben die Lust auf die große, weite Welt. „Hinterland“ ist die Fortsetzung des Weges, der für Casper nach dem zweiten, damals noch recht raplastigen „Hin zur Sonne“ begann, und, wenn man so will: sein persönlicher, Musik gewordener Springsteen-Moment. „Man kann das als Jugendzimmer-Lyrik abtun. Aber jeder, der schon mal ein Jugendzimmer bewohnte, wird darin etwas von sich selbst wiederfinden. Nur wenn man nicht vergisst, woher man kommt, versteht man die Sehnsucht, die immer noch an einem nagt“, wie es der Musikjournalist Jens Balzer in seiner Kritik für den deutschen „Rolling Stone“ so treffend auf den Punkt bringt. All den Zweiflern, den notorischen Nörglern und „Eintagsfliege“-Gröhlern dreht Griffey mit großen Momenten und feinen Melodien eine lange Nase, während er mit „Hinterland“ schon wieder – und das nicht völlig zu unrecht – von der Pole Position der Charts grüßt. Gekommen, um zu bleiben? Sieht ganz danach aus…
Wer mehr über Benjamin „Casper“ Griffey, dessen Gemütslage und die Hintergründe zum neuen Album „Hinterland“ erfahren möchte, der findet hier ein Ende September von „Zeit Online“ geführtes Interview mit dem Musiker…
…sowie hier die – visuell wie akustisch – tollen Musikvideos zu „Im Ascheregen“…
Eines muss man den Editors zugute halten: einfach hatten sie es nie. So wurden bereits die ersten öffentlichen musikalischen Gehversuche der Band aus dem englischen Birmingham kritisch beäugt, ihr 2005 erschienenes Debütalbum „The Back Room„, trotz auch im Rückblick noch immer famoser Ausnahmesingles wie „Munich“, „Blood“ oder „Bullets“, von nicht wenigen berufsmäßigen und selbstberufenen Kritikern als bloße Interpol-meets-Joy Division-Kopie abgetan und dem Quartett keine allzu großen Perspektiven in Aussicht gestellt. Den feinen Unterschied zu all den anderen Bands, die vor allem zum Anfang des neuen Jahrtausend – und vor allem in Großbritannien – wie Pilze aus dem Boden schossen und es sich auf die Fahnen geschrieben zu haben schienen, unbedingt und auf jeden Fall wie das next big New Wave-thing klingen zu müssen, machte wohl das prägnante Bariton-Organ von Sänger Tom Smith aus. Nur klang dieses eben jenem des Interpol-Frontmanns Paul Banks ziemlich ähnlich, in besonders lebensfeindlichen Passagen gar wie das des seligen Joy Divison-Fronters Ian Curtis. Dennoch gab der Erfolg Tom Smith (Gitarre, Piano und Gesang), Chris Urbanowicz (Gitarre, Keyboard), Russell Leetch (Bass) und Ed Lay (Schlagzeug) recht: „The Back Room“ heimste 2006 auf Anhieb eine Nominierung für den begehrten Mercury Prize ein und kletterte im Anschluss bis auf Platz zwei der UK-Charts. Und während viele ihrer damals klanggleichen Kollegen bereits beim stets als kritisch beschriebenen Nachfolger einknickten (oder gar schon vorher in der Versenkung der Bedeutungslosigkeit verschwanden), legten Smith & Co. 2007 mit „An End Has A Start“ noch eins drauf. Ihr Sound verließ die dunkle Ecke der Indiedisko, um sich zu zehn hymnisch großen Stücken und zu ebenso traurig wie aufgeregt hüpfenden Herzschlägen in den ersten Reihen die nachtkalten Füße wund zu tanzen. Pathos! Gitarren! Rocksongs! Gefühl! Die Editors empfahlen sich für Arena-Auftritte und fanden genug begeisterte Hörer, die „An End Has A Start“ auf den Spitzenplatz der UK-Charts bugsierten. Dass sich die Band danach – wollten sie nicht auch noch zu Kopisten ihrer selbst abgestempelt werden – soundtechnisch in eine neue Richtung entwickeln musste, war klar. Gemeinsam mit Produzent Flood verzog man sich also 2008 ins Studio und überließ dort den Keyboard- und Synthesizerobzessionen von Chris Urbanowicz die Oberhand. Heraus kam man ein Jahr später mit „In This Light And On This Evening„, einem mal bedrohlich kalten, mal – lyrisch – schutzlos am offenen Herzen der technoiden Metropole London operierenden Monolithen von Album, in welchem die Editors wohl endgültig aus dem Schatten von Interpol heraus schwammen. Vielmehr boten sich nun noch deutlicher Referenzpunkte der Achtziger an: Erasure, (erneut) Joy Division, Depeche Mode oder The Cure. Ein befremdlicher Fiebertraum von Caspar David Friedrich im Elektronebel? Yessir! Brutal direktes Vor-den-Kopf-stoßen von Erwartungshaltungen – und dennoch erreichte auch „In This Light…“ Platz eins im UK. Nächster Halt: erneute Endstation. Während Frontmann Tom Smith 2011 gemeinsam mit ehemaligen Razorlight-Schlagzeuger als „Smiths & Burrows“ – pünktlich zum Weihnachtsgeschäft – ein ebenso liebliches wie gelungenes Weihnachtsalbum namens „Funny Looking Angels“ in die Regale stellte, liefen die parallelen Versuche der erneuten Neuausrichtung seiner Hauptband weniger flüssig. Also trennte man sich 2012 – offiziell „aufgrund musikalischer Differenzen“ – von Chris Urbanowicz, nahm mit Justin Lockey (Gitarre) und Elliott Williams (Piano und Keyboard) zwei neue Mitglieder ins Bandgefüge auf und begab sich nach Nashville (!) und in die Obhut von Produzent Jacquire King, einem Grammy-prämierten Fachmann für Rocksongs mit Tiefe und Wucht, bei dem sich Namen wie die Kings Of Leon, Tom Waits, Norah Jones, aber auch Modest Mouse, Josh Ritter oder Lissie bereits die Studiotürklinke in die Hand gaben…
“[The Weight of Your Love] is a band record, a musical record, a rock record… with a foot in that alt-rock / Americana world.” – beschreiben Selbsteinschätzungen wie eben jene von Sänger Tom Smith getroffene also das vierte Album „The Weight Of Your Love“ adäquat? Eindeutig: jein. Denn obwohl die neu formierten Editors für die elf neuen Stücke einen erneuten – teilweisen – Richtungswechsel unternahmen, bleiben schon noch ein paar Konstanten: So zählt Tom Smiths unverwechselbarer Bariton noch immer zum größten Pfund, welches die Band in die musikalische Waagschale zu werfen vermag. So bleiben sie doch am Ende des Stückes noch immer eine recht straighte Rockband – allen früheren Wave-Anleihen und Synthesizer-Orgien zum Trotz. Und eben jene Synthesizer scheinen mit dem geschassten Gitarristen Chris Urbanowicz über Bord gegangen zu sein – der Vorgänger „In This Light And On This Evening“ könnte stilistisch kaum ferner liegen.
Das erste Stück „The Weight“ eröffnet ein Akustikgitarren-Bluesriff zum Stampfbeat von Ed Lays Schlagzeug, bevor Streicher und „Ohoohoo“-Chöre dem Song einen „I Feel You“-artigen Depeche Mode-Touch geben und Tom Smith bereits zur lyrischen Eröffnung „For A Moment I felt the strength of your love / It was lightning / It was lightning / Strike down / On me“ den Dave Gahan von Birmingham gibt. Auch „Sugar“ groovt anfangs wie eine dieser typisch dunklen Depeche Mode-Schmerzenshymnen der Neunziger und artet mehr und mehr in ein Duell zwischen sägenden E-Gitarren und Konserven-Streichern aus. Die erste Vorab-Single „A Ton Of Love“ macht es dann besonders deutlich: die Editors setzen auch 2013 alles auf eine Karte – und auf der steht in dicken Edding-Lettern das Wort „Stadion“. Fette Gitarrenfanfaren? An Bord! Smith singt mit breiter Brust von „Desire“ und man meint bereits, Michael Stipe und Bono milde lächelnd vom Bühnenrand applaudieren zu sehen. Und zu eben jenen Rocksongs, die sich nun – wie bereits auf dem zweiten Album „An End Has A Start“, und um nicht wenige Streichersätze ergänzt – wieder ihren Weg in den aktuell vorherrschenden Bandsound gebahnt haben, bietet das Quintett einiges an Gegengewicht auf. So ist „What Is This Thing Called Love“ eine zartfühlige, streicher- und pianogetragene Ballade, zu welcher Smith mit unerwartet hohem Falsettstimmchen aufwartet, wird „Nothing“ introspektiv und beinahe ausschließlich von Streichern gen Firmament getragen, oder stellt das ansonsten recht dröge „Formaldehyde“ ein feines Bassmotiv in den Vordergrund. Kurz vor Schluss lösen die Editors – in „The Phone Book“ und vierenhalb schunkeligen Minuten – sogar Smiths Americana-Versprechen ein, bevor „Bird Of Prey“ erst zu Stampfbeat und Piano von eben jenen Greifvögeln im Backgroundchor begleitet wird, um sich schließlich von Dannen tragen zu lassen. Als klarer Fixpunkt dürfte Fans und Kennern der englischen Band auch 2013 Tom Smiths mit reichlich Pathos („Desire“ – aus „A Ton Of Love“), Weltschmerz („I’m a lump of meat / With a heartbeat“ – aus „The Weight“), Altersweisheiten („You gotta learn to be thankful / For the things that you have“ – aus „A Ton Of Love“), Falsch-vs.-Richtig-Metaphorik („Two Hearted Spider“) oder Liebeslyrik („Sing me a love song / From your heart or from the phone book / It don’t matter to me“ – aus „The Phone Book“) beladenen Texte sein. Geschmackssache? Natürlich. Wie das komplette Album (bei dem übrigens des Öfteren Platten von Echo And The Bunnymen im Studio gelaufen sein dürften)…
Die wichtigste – da entscheidendste – Frage zu „The Weight Of Your Love“ scheint wohl, ob Album Nummer vier für die Editors einen Schritt vor oder zurück bedeutet. Dabei ist es umso erfreulicher, dass es die Band überhaupt geschafft hat, sich aus der kreativen Synthesizersackgasse, in welche sie sich nach „In This Light…“ begeben hatten, heraus zu manövrieren. Dass nicht jeder Song auf „The Weight Of Your Love“ gleich tief sticht? – Geschenkt. Dass hier eine Band bewusst auf die Headliner-Plätze von Größen wie U2, R.E.M. (die freilich selbst längst Geschichte sind) oder Depeche Mode schaut, und so auch ein paar kreative Untiefen á la Coldplay oder den Kings Of Leon mitnimmt? – Kann man den Editors kaum verdenken. Denn mal ehrlich: wer, der die Stimme von Tom Smith anno 2005 hörte, dachte denn ernsthaft, dass solch‘ ein markantes Organ auf Dauer nur kleine Indie-Clubs beschallen würde? Die Editors sind mit ihren Songs, in denen die Hymnenhaftigkeit von dringlicher Klimax zu noch dringlicher Klimax jagt, für die große Bühne bestimmt – wer Herz und Ehrlichkeit und kreatives Wachstum sucht, der wird all das finden, solange er tiefer gräbt und genauer hinhört. Mit „The Weight Of Your Love“ untermauern Tom Smith & Co. ihren Anspruch auf den großen Wurf. Und obwohl sie aktuell eher groß als großartig tönen, ist eines sicher: dieser Wurf wird kommen. An end has a start…
Anhand dieser beinahe halbstündigen „Making Of“-Dokumentation kann man sich einen Eindruck über den Entstehungsprozess von „The Weight Of Your Love“ verschaffen…
…und sich hier die Videos der ersten beiden Singles „A Ton Of Love“…
A propos „die richtigen Lehren aus den Abgängen von Bandmitgliedern ziehen“: das bisher letzte Editors-Werk „In This Light And On This Evening“ wurde ja – und da lehne ich mich jetzt wohl keinesfalls zu weit über den Behauptungssims – vor vier Jahren mit durchaus gemischten Gefühlen aufgenommen. Immerhin schienen damals technoide Sythpop-Einflüsse, die böse an Depeche Mode und tiefste Achtziger Jahre erinnerten, den Post-Punk’schen Sturm und Drang, der noch den beiden Vorgängern innewohnte, fast vollständig abzulösen – „Blade Runner“ vs. Ian Curtis, quasi. Im vergangen Jahr gab schließlich Gitarrist Chris Urbanowicz aufgrund „musikalischer Differenzen“ seinen Ausstieg bekannt…
Ohne ihn wähnte man das verbliebene Editors-Trio aus Sänger Tom Smith, Bassist Russel Leetch und Schlagzeuger Ed Lay in unsicheren Gewässern: Wie würde es weiter gehen? Würden die drei den Verlust kompensieren können, gar als Chance für einen Neuanfang – nach meinem Wunsch: eine erneute Richtungskorrektur – nutzen? Es blieb spannend bei der Band aus dem englischen Birmingham…
Nun: urteilt man nach „A Ton Of Love“, dem ersten Vorboten des am 28. Juni erscheinenden vierten Albums „The Weight Of Your Love„, so dürften Tom Smith & Co. wohl einige der „alten“ Hörer wieder von sich und ihren Qualitäten überzeugen dürfen, bestenfalls gar einige neue dazu gewinnen. Denn: treibende Drums, druckvoller Bass, dazu eine hymnische Glanzleistung von Ausnahmestimme Smith – hey, die Editors klingen wie zu ihren besten Zeiten!
So und nicht anders schürt man Vorfreude! Wie lesen uns – sprich: bezüglich „The Weight Of Your Love“ – in ein paar Wochen? Definitiv!