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Das Album der Woche


Philip Selway – Strange Dance (2023)

-erschienen bei Bella Union/Rough Trade-

Eigentlich könnte diese Rezension – gut und gern sowie für Freunde weniger Worte – nach dem nächsten Satz enden. Philip Selway, der Schlagzeuger von Radiohead, macht auch auf seinem dritten regulären Soloalbum „Strange Dance“ wunderschöne Musik. Aber irgendwie wäre das auch etwas unfair, denn Selway, der bei seiner Hauptband stets stoisch im Halbschatten der auch auf Solo-Pfaden deutlich präsenteren Thom Yorke und Jonny Greenwood sein Werk verrichtet und der Musikwelt dort in den letzten – mindestens – zwei Jahrzehnten gezeigt hat, mit welch künstlerischem Anspruch Drumcomputer zu klingen vermögen, wenn man sie denn zu bedienen weiß, hat definitiv Aufmerksamkeit verdient. Ein großer Sänger wird er in diesem Leben freilich nicht mehr werden (eine Eigenschaft, die so einige Radiohead weniger zugetane Ohren wohl auch Thom Yorke zuschreiben würden), das muss er allerdings auch gar nicht, da die Stärken des 55-jährigen britischen Musikers woanders liegen. Selbstverständlich warten seine Kompositionen mit zahlreichen cleveren rhythmischen Ideen auf, diese wären jedoch ohne Selways Fähigkeiten als Arrangeur wirkungslos. Und was für ein Arrangeur er mittlerweile ist! Ob er sich da den ein oder anderen Winkelzug vom mehrfach Oscar-nominierten Soundtrack-Komponisten Jonny Greenwood abgeschaut hat? Weißmannatürlichnicht.

So beginnt etwa „Picking Up Pieces“ als unscheinbare Ballade, ehe sich die Musik zunehmend verdichtet. Am Ende erstrahlt der Song im Geigenglanz, entpuppt sich gar als ambitionierter, stark in Klang gesetzter Ohrwurm. Und apropos Soundtrack: Womöglich hat es, nach den ersten, 2010 beziehungsweise 2014 erschienenen Alleingang-Platten „Familial“ und „Weatherhouse„, seine Soundtrack-Arbeit “Let Go” (von 2017) gebraucht, damit nun Glockenspiele in “What Keeps You Awake At Night” so klingen, wie es beispielsweise Get Well Soon schon länger nicht mehr hinbekommen. Auch hier lässt Selway sich viel Zeit, bis alle Motive eingeführt sind. Grandios orchestrierte Streicher malen auf große Leinwände, die der Radiohead-Schlagwerker auf Abwegen mit seiner Stimme gleichermaßen pastoral wie unaufdringlich dirigiert und die erwähnten Motive nach Lust und Laune kombiniert, ohne dabei freilich die Dramaturgie des Songs aus den Augen zu verlieren. Der Lohn: ein herrliches Finale, das die Lust auf mehr weckt. Und da dem Künstler das Wohl des Konsumenten scheinbar am Herzen liegt, macht er auf diesem hohen Niveau weiter.

Krittelei? Die dürfte darin bestehen, dass er dabei bisweilen knapp am zuckrigen Kitsch entlang schrammt – „The Other Side“ wirkt beispielsweise aufgrund seiner süßlichen Melodieführung dezent überzuckert. Wer kein Problem mit allumfassendem Schönklang hat, wird allerdings auch hier an einem glücksseligen Lächeln nicht vorbeikommen, welches das Gesicht im weiteren Verlauf nur selten verlässt. Songs wie „Make It Go Away“, bei dem erstmals eine Gitarre im Vordergrund zu hören ist, die dann aber auch schnell wieder zwischen Streichern und Bläsern untergeht, sind einfach zu liebenswürdig, um nicht mit Anerkennung quittiert zu werden. Selway mag kein Genie sein, er weiß stattdessen aber sehr genau, was er kann und was er will.

Und wenn das dann in Spinnereien wie dem Titelsong resultiert, sei es ihm auch gegönnt. Mit einer gewissen Tapsigkeit wagt er sich hier in dunklere Gefilde. Der Honigtopf ist sein Ziel, die Taschenlampe sein einziges Werkzeug. Zielstrebig funzelt er sich voran, bis sich alles in Wohlgefallen auflöst. Absoluter Höhepunkt des Albums ist indessen das famos orchestrierte „The Heart Of It All“. Nach einem mehrminütigen Spannungsaufbau explodiert der Song im letzten Refrain in schillernden Farben. Bläser, Streicher und Synthesizer winden sich in schwindelerregende Höhen, während im Hintergrund langsam die Sonne aufgeht. Ja, er kann schon was, dieser Philip Selway.

Natürlich mag der hauptberufliche Schlagzeuger (der hier sowohl den Platz an seinem Stamminstrument als auch die Percussion Valentina Magaletti überließ, während die Streicher-Arrangements von Laura Moody kommen), weder so künstlerisch fordernd noch so umtriebig unterwegs sein wie Thom Yorke (man höre bei Interesse gern mal beim Neo-Progrock/Jazz-Trio The Smile oder der famosen Allstar-Band Atoms For Peace nach!) und auch nicht den dezidierten orchestralen Output eines Jonny Greenwood in der Vita vorweisen können. Dennoch muss sich ja auch Selway abseits von Radiohead, die mit läppischen vier Studiowerken in den vergangenen zwanzig Jahren, von denen sich vor allem das letzte, „A Moon Shaped Pool“ von 2016, beinahe schon wie ein leiser Schlussakkord anfühlte, nicht unbedingt als Vielveröffentlicher gelten dürften, ja irgendwie beschäftigen. Und schreibt auch auf seinem neusten Solowerk, das sich ingesamt als Sammlung großenteils melancholischer Softpopsongs, die wie Eis auf der Zunge zergehen, präsentiert, recht ausgeklügelt und mit der Etikette eines britischen Gentlemans, ohne sich der verkorksten Eton-College-Elite anzubiedern, die gerne so clever wäre, “Strange Dance” zu mögen – und hier doch nichts zu hören hat. 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


The Smile – A Light For Attracting Attention (2022)

-erschienen bei XL/Beggars/Indigo-

Ein Blick ins proppenvolle Rock’n’Roll-Lexikon verrät dem interessierten Leser und angehenden Musikhistoriker, dass das Wort „Smile“ in der so langen und an Wendungen reichen Rockgeschichte oft genug von besonderer Bedeutung war. Einerseits trugt die von Gitarrist Brian May gegründete Queen-Vorgängerband diesen Namen. Erst als deren ursprünglicher Sänger Tim Staffell ausstieg und ein gewisser Farrokh Bulsara, welcher sich wenig später den schmucken Künstlernamen Freddie Mercury gab, ihn ersetzte, wechselte man zum royalen Bandtitel und startete eine Weltkarriere. Kaum weniger legendär ist natürlich auch „Smile„, das unvollendete, in vielerlei Hinsicht mythisch verklärte Album der Beach Boys, welches Bandkopf Brian Wilson einige Nervenzusammenbrüche und Jahrzehnte später in etwas anderer Form veröffentlichte. Noch früher, 1936, komponierte Charlie Chaplin ein von Puccinis „Tosca“ inspiriertes Stück titels „Smile“ für seinen Film „Modern Times“, welches einige Jahre später auch einen Text erhielt und wiederum etwas später von Größen wie Nat King Cole oder Michael Jackson gecovert wurde. Und nun machen sich weitere – man darf sie wohl auch „Legenden“ nennen – Musiker ans Werk, um mit ihrem neuen Nebenprojekt The Smile einen frischen Eintrag in den Geschichtsbüchern der Rockmusik zu hinterlassen. Bevor auch nur irgendjemand hier auf den Gedanken kommen könnte, dass Frevelei im Spiel sei, lösen wir denn am besten auch gleich das Ratespiel um die Köpfe dahinter: Hinter jenen The Smile stehen mit Thom Yorke und Jonny Greenwood die vermutlich ausschlaggebenden 40 Prozent von Radiohead (was natürlich höchst nüchtern gemeint ist und keinesfalls despektierlich gegenüber Colin Greenwood, Ed O’Brien und Philip Selway), unterstützt von Tom Skinner, dem Schlagzeuger der vielgelobten britischen Jazz-Gruppe Sons Of Kemet. Produziert wird der recht zwanglos tönende Spaß obendrein von Radioheads Haus- und Hof-Engineer Nigel Godrich. Was kann man von dem Debütalbum „A Light For Attracting Attention“ nun erwarten? Frickelige Radiohead-Mucke mit derber Jazz-Schlagseite? Verkopfte Klänge für beflissene Akademiker? Oder gar poppige Singles mit Niveau?

All das – und irgendwie auch nichts davon. Wer beim Hören des Debütwerks des Trios einen klaren Bruch mit Yorkes und Greenwoods Stammband erwartet, der hat womöglich die im Vorfeld veröffentlichten Songs nicht mitbekommen, denn anhand derer wurde bereits recht früh klar, dass The Smile soundästhetisch auch auf Albumlänge gar nicht so weit entfernt vom Mutterschiff ankern würden. Das mag nicht nur an der musikalischen Orientierung der 13 Songs liegen, sondern vor allem an Yorkes seit eh und je charakteristischer Stimme, die bislang noch jedem Projekt ihren Stempel aufgedrückten konnte (wer’s nicht glauben mag, dem seien etwa Atoms For Peace, Yorkes kurzlebige Experimental-Rock-Supergroup mit Nigel Godrich, Chili-Peppers-Bassist Flea, Schlagzeuger Joey Waronker und Perkussionist Mauro Refosco wärmstens ans Hörerherz gelegt). Bereits der sich langsam steigernde Opener „The Same“ tönt fast mokant nach „klassischen“ 21.-Jahrhundert-Radiohead und versprüht so den „klassischen“ Yorke-Vibe – gut, vielleicht etwas mehr den des Solowerks, aber immerhin. Ganz ähnlich wie beim etwas mehr im elektronischen Experiment angelegten Alleingangsschaffen des 53-jährigen britischen Musikers kommen die unheilvollen Beats hier gefühlt durch alle Ritzen gekrochen, wie feiner Nebel – oder, besser noch, wie Rauch – erfüllen sie den Klangraum, während Yorkes Stimme durch den Äther schwebt. Manche Ohren mag das Ganze an Moderat erinnern, was auch durchaus Sinn ergibt: Mit dem deutschen Eletronica-Trio hat der Radiohead-Frontmann in der Vergangenheit ja auch schon gemeinsame Sache gemacht. Das Komplementär-Stück „The Opposite“ startet hingegen mit nervös-vertrackten Breakbeat-Drums, der Bass vollführt einige Derwisch-Moves und die Lyrics stolpern auch irgendwie ungelenk in die Szenerie: Hier musizieren sich The Smile in einen reichlich weirden Strudel, inspiriert von teutonischem Krautrock, patinierter Psychedelia und ausgelassener Jam-Musik.

Und ganz so, als wäre jeder Song die unmittelbare Reaktion auf den vorangegangenen, steigt die noise-verliebte, gegen Monster wie Jeffrey Epstein lärmende Vorab-Single „You Will Never Work In Television Again“ deutlich geradliniger in die Eisen: So viel Uptempo und ungezügelte Dynamik gab es im weitschweifigen Yorke-Greenwood-Kosmos schon länger nicht mehr – fast meint man, dass sich die beiden hier in Radioheads britrockige Neunzigerjahre zurück rumpeln. „Pana-vision“ wirkt dagegen wie eine düster schillernde Klavier-Etüde, die irgendwann zu „Kid A“-Zeiten mal vom Laster gefallen sein mag. Apropos „Kid A„, apropos „Amnesiac„: Ganz ähnlich wie bei jenem zu Beginn der Jahrtausendwende erschienenem Album-Meilenstein-Doppel musizieren The Smile sich hier – vom London Contemporary Orchestra unterstützt – am apokalyptischen Abgrund entlang und liefern damit wohl bedauerlicherweise wirklich einen passenden Soundtrack zur aktuellen Zeit – einmal mehr, schließlich vertonten Radiohead damals wie kaum eine andere Band sonst jenes so diffus nach Dritten Weltkrieg müffelnde Gefühl nach dem 11. September 2001. Was bei alldem jedoch auch klar wird: Würde auf diesem Album das Etikett „Radiohead“ stehen, man würde es zu keiner Sekunde ernsthaft hinterfragen. The Smile machen so viel nämlich nicht anders. Und der Jazz, den man vielleicht angesichts der Bandkonstellation erwartet hatte? Nun, der mag zwar vorhanden sein, man findet ihn jedoch lediglich in Spurenelementen. Skinner trommelt sich nicht in den Vordergrund, lediglich in den paar temporeicheren Songs setzt er bewusste Akzente. Die ausgeklügelte Rhythmik spielt auf „A Light For Attracting Attention“ dennoch eine durchaus wichtige Rolle.

Am besten wird das Album zur Mitte seiner 53 Minuten hin, wo die wahren, aber stillen Highlights warten: „Speech Bubbles“ ist eine luftige, fast schon zärtliche Hymne, die von Orgeltönen und Yorkes Falsett getragen wird, später gesellen sich Akustikgitarre und Streicher hinzu. Ein fragiles, passenderweise den vorherrschenden Informations-Overkill behandelndes Drama in vier Minuten, das man sich so auch auf der jüngsten, bereits sechs Jahre zurückliegenden Radiohead-Platte „A Moon Shaped Pool“ hätte vorstellen können. „Open The Floodgates“ schlägt in eine ähnliche Kerbe, hier spielen The Smile ihren Außerirdischen-Pop mit jeder Menge Fingerspitzengefühl und einem ausgeprägten Sinn für Arrangements, während es anderswo, bei „The Smoke„, zu ahnungsvoll von Umweltzerstörung dräuendem Text gar Dub-lastig wird. Der wohlmöglich größte Song hier folgt auf dem Fuße: „Free In The Knowledge“ ist eine herrlich entgeisterte, verblüffend geradlinig balladeske Komposition, die schon jetzt zum schönsten gehören dürfte, was Yorke und Co. bislang erschaffen haben (und von Thom Yorke Ende letztes Jahres bereits live und solo dargeboten wurde). Hier kommt auch Greenwoods langjährige Erfahrung als Oscar-nominierter Filmmusikkomponist zum Tragen, denn diese Nummer hat im Grunde alles, was ein Song, der selbst ein kleines Epos sein will, benötigt, um vollkommen aufzublühen. „A Light For Attracting Attention“ bewegt sich also mit dem gebührenden Selbstbewusstsein durch die Stile und Möglichkeitsräume, surft mit sicherer Orientierung durch das Radiohead’sche Koordinatensystem und hat letzten Endes das Zeug, um mindestens eines zu sein: eine zwar kleine, dafür jedoch umso wunderbarere Fußnote in der Geschichte der Rockmusik. Für ein Lächeln außer der Reihe reicht’s allemal.

Rock and Roll.

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Song des Tages: Thom Yorke – „Free In The Knowledge“ (live)


Bei einem Solo-Auftritt im Oktober spielte Radiohead-Frontmann Thom Yorke den Song „Free In The Knowledge“ von The Smile.  Nun wurde erstmals ein Video der Performance veröffentlicht. Die Show fand in der altehrwürdigen Londoner Royal Albert Hall statt, es handelte sich zudem um den ersten Bühnenauftritt Yorkes seit Beginn der Pandemie. Den Song widmete der 53-Jährige allen Musiker*innen, die von den Pandemie-meets-Corona-Auswirkungen betroffen sind. Aus den sphärischen Loops, die sich zunächst über eine Minute lang durch den Raum fräsen, lässt Yorke bei der Live-Performance seine Akustik-Gitarre hervortreten. Dazu singt der Brite mit seiner unverkennbaren Kopfstimme den anklagenden Song und lässt die Worte im Saal verhallen. Jene – die Worte – nehmen gleich zu Beginn herben Kontakt zum aktuellen Zeitgeist auf: „Free in the knowledge / That one day this will end„.

Bei wem The Smile kein Erinnerungsglöckchen zum Klingen bringen, sollte sich übrigens nicht allzu sehr grämen, denn selbiges Band-Projekt, welches Yorke gemeinsam mit Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood sowie Tom Skinner, dem Schlagzeuger der Sons of Kemet, betreibt, steckt noch in den oft zitierten Kinderschuhen. Erst im Mai 2021 gaben The Smile ihr Live-Debüt bei einem Live-Streaming-Event des Glastonbury-Festivals.

Bevor Thom Yorke anfängt, den neuen Song zu spielen, hat er jedoch noch ein paar Worte zur Pandemie zu sagen: „Ich bin britischer Musiker und mir wurde während der Pandemie wie allen britischen Musikern gesagt, dass wir eine Umschulung in Betracht ziehen sollten. Und dann, nachdem wir endlich gegangen waren, sagten sie uns, dass wir sowieso nicht mehr wirklich touren müssten, oder? Also gehöre ich vielleicht zu einer aussterbenden Art, wer weiß? Ich möchte für alle meine Musiker-Kollegen einen Song spielen, den ich während dieser Zeit mit meiner neuen Band The Smile geschrieben habe. Er heißt ‚Free In The Knowledge‘…“.

„Free in the knowledge
That one day this will end
Free in the knowledge
That everything is changed

And this is just a bad moment
We are fumbling around
We won’t get caught like that
Soldiers on our backs
We won’t get caught like that

Face using fear
To try to keep to keep control
But when we get together
Well then, who knows

And this is just a bad moment
We are fumbling around
We won’t get caught like that
Soldiers on our backs
We won’t get caught like that

I talk to the face in the mirror
But he can’t get through
I said it’s time that you deliver
‚Cause we see through you
I talk to the face in the mirror
But he can’t get through
Turns out we’re in this together
Both me and you

Rock and Roll.

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Song des Tages: Radiohead – „If You Say The Word“


Foto: Promo / Tom Sheehan

Die Jahrtausendwende war die Zeit von Begriffen wie Glitch, Clicks ’n‘ Cuts und Gefrickel, ehemals hartgesottene Rocker hörten plötzlich Autechre und Aphex Twin, Radiohead­-Bassist Colin Greenwood lobte das Berliner Indietronic-Label Morr Music als bahnbrechend. Ebenjene Radiohead würden jedoch die einzige Band sein, die mit diesem so urban, so fashionesk, so hipsteresk „Indietronic“ getauften Sound einen Welterfolg erzielen sollten: „Kid A“ schaffte es im Jahr 2000 auf die Eins der „Billboard“-Charts, obwohl Gitarren erst 15 Minuten nach Albumbeginn zu hören waren – im vierten Song. Es er­zählt vom überforderten Ich in der unkontrollierten Netzsphäre, der Angst vor dem drohenden Kollaps hinsichtlich des Millenniums, dem Wunsch nach Ordnung im Seelenle­ben („Everything In Its Right Place“) und dem Gedanken, sich für jetzt und alle Zeit aufzulösen („How To Disappear Completely“). Die Überraschung über die elektronische Plat­te einer Rockband war – zumindest für all jene, die beim drei Jahre zuvor erschienenen Album-Meilenstein „OK Computer“ nicht genau(er) zugehört hatten – der­art groß, dass nachhingehend schnell die Floskel „to do a Kid A“ kursierte – gültig für jede Künstlerseele, die vermeintliche Grenzen sprengt.

Und: Radiohead legten ungewöhnlich schnell nach. „Amnesiac“ erschien nur acht Monate später, im Mai 2001, und erlebte (s)eine fraglos gespenstischste Aufführung beim Berlin-­Konzert am 11. September (die Band war zudem eine der ganz wenigen, die entschieden, ihr für diesen schicksalhaften Tag geplantes Konzert nicht abzusagen). Überhaupt kappte 9/11 – zumindest mental – beinahe alle Verbindungen zwischen den Zwillingsalben. Im Rückspiegel lässt sich behaupten: „Amnesiac“ ist keineswegs gelungener als „Kid A“, aber mutiger. Es hört sich an wie eine Singles-­Sammlung verquerer Kunststudenten – inklusive experimenteller B­-Seiten – und bleibt wohl auf Imme rund ewig mit den Terroranschlägen sowie der jener Tage immanent brodelnden Angst vor einem Dritten Weltkrieg verbunden. Das Cover ziert ein weinender Minotaurus. Thom Yorke attackiert sei­ne Lieblingsfeinde George W. Bush und Tony Blair in „You And Whose Army?“, das Lied beschreibt eine Politik, in der das Öl die sogenannten Präventionskriege bestimmt – mit Ausbruch des Dritten Golfkriegs 2003 erhielt es einen Ehrenplatz in den Konzert-Setlists, wurde oft im Zugabenblock gespielt. Das Instrumental „Hunting Bears“ klingt ebenso meditativ wie verstörend, die Gitarre zieht ihre Bahnen wie eine Klin­ge, die langsam aber sicher die immer dünner werdende Luft zerschneidet. Als Radiohead „Hunting Bears“ gleich als zweites Stück bei ihrem 9/11­-Gig aufführten, war das ein Showstopper, der sämtlichen Setlist­-Gesetzen (die an diesem Tag ja ohnehin ausgesetzt waren) widersprach – und gerade deshalb den Irrsinn widerspiegelte, wie er in der Welt von da an herrschte.

Keine Frage: spätestens „Amnesiac“ zementierte das „Kid A“­-Konzept, nach dem Radiohead nur noch dann Rockmusik machen wür­den, wenn sonst keine andere Studio­-Idee zündete. Es stieg in den USA auf Platz 2 ein, einen hinter „Kid A“, verkaufte sich aber noch besser als der Vorgän­ger. Gewagt? Gewonnen. Der Band war das wohl völlig gleich, fortan jedoch mussten Ra­diohead sich an diesem Album-Doppelschlag messen lassen.

Beide Platten sind auch heute noch über jeglichen Zweifel erhaben und zählen ebenso zweifellos zu ihren besten, aber die nun erschienene, „KID A MNESIA“ betitelte Doppel-­Edition enttäuscht nun doch etwas durch spärliche Extras – gerade, wenn man sie mit den bereits 2009 veröffentlichten „Collector’s Editions“ jener Alben vergleicht, die bereits einiges an Bonusmaterial aufgefahren hatten. Über Jahre kokettierten Ra­diohead etwa mit einer unveröf­fentlichten Zehn-­Minuten-Fassung von „Treefingers“ (welche im vergangenen Jahr als knapp fünfminütige „Extended Version“ veröffentlicht wurde), stattdessen liefern sie nun zwölf Outtakes, die kaum Einblick in ihre wohl aufregends­te Studiozeit bieten. So mag „Knives Out“ als Musterbeispiel für ihren Perfektionismus gelten, die Band sagte, es existieren hundert Fassungen dieser Smiths­-Hommage – leider findet sich nicht eine davon hier wieder. Stattdessen Ein­-Minuten-Snippets mit Atmosphären­klängen sowie die nicht mehr rückwärts abgespiel­te, sondern korrekt ablaufende Fassung von „Like Spinning Plates“, die aus dem enigmatischen Experiment eine im Grunde recht zah­me Klavierballade macht. Einzig die isoliert präsentierten Streicher von „How To Disappear Completely“ dokumentieren die Akribie, mit der sich das britische Quintett verändern wollte – final weg vom trauerklößernen Alternative Rock, hinein in artrockige Electronica-Sphären. Gitarrist Jonny Greenwood arrangierte jene Avantgarde­-Klassik, die aus ihm wenig später einen gefragten, Oscar-­nominierten Soundtrack­-Komponisten machte. Das größte Versäumnis: ein Konzert­video. Radiohead zeichneten vieles auf und stellten es später auch auf YouTube, ihre Live­-Versuche mit Loops sind ebenso legendär wie die zu Nachfolgealben wie „In Rainbows“ oder „The King Of Limbs“ entstandenen „From The Basement“-Sessions (die man hier und hier findet). Trotz der 35 Minuten an Zugaben bleibt „KID A MNESIA“ vor allem eine verpasste Chance, allen Fans eine definitive Edition zweier zwar vollumfänglich zeitgeistiger, jedoch kaum gealterter Meilenstein-Werke zu bieten.

Rock and Roll.

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Song des Tages: Philip Selway – „Let Me Go“


2012-05-21-05.52.50-pm

Klar, wird man über die Nebenprojekte der einzelnen Radiohead-Mitglieder gefragt, dann lassen sich die meisten freilich zunächst einmal über Frontmann Thom Yorke sowie dessen knietief in elektronischen Spielereien verortete Soloalben „The Eraser“ oder „Tomorrow’s Modern Boxes“ aus (eventuell gar Yorkes „Supergroup“ Atoms For Peace, welche er gemeinsam mit Red Hot Chili Peppers-Bassist Flea, Produzent Nigel Goodrich und Schlagzeuger Joey Waronker bespielt). Wohlmöglich weiß der ein oder andere Radiohead-Aficionado auch noch um die Umtriebigkeit von Gitarrist Jonny Greenwood, der seit der Jahrtausendwende mal den ein oder anderen Hollywood-Film mit seinen Soundtrack-Ideen veredelt (etwa Paul Thomas Andersons „There Will Be Blood“ oder „The Master“), mal sein Equipment um das ein oder andere – vornehmlich elektronische – Tasten- oder Saiteninstrument erweitert – beide Betätigungsfelder Greenwoods haben die letzten Radiohead-Alben – mit all ihren elektronischen Experimenten („The King Of Limbs“) und der erhöhten Schlagzahl an Streichern („A Moon Shaped Pool“) – hörbar stark geprägt. Was Jonnys Bass spielender Bruder Colin Greenwood, der zweite Gitarrist Ed O’Brien oder Schlagzeuger Philip Selway in ihrer Freizeit so machen? Nichts genaues weiß man nicht…

Nicht ganz. Vor allem letzterer – also Philip Selway – tritt seit einigen Jahren ebenfalls solo in Erscheinung und hat seit 2010 mit „Familial“ und „Weatherhouse“ zwei durchaus hörenswerte Soloalben in die Plattenläden gestellt, die zwar mit den Klangeskapaden seiner wuseligen Bandkumpane Yorke und Greenwood zu keiner Zeit mithalten können (geschweige denn wohl wollen), sich jedoch anhören, als hätte Brian Eno verschollen geglaubte Tonaufnahmen von Nick Drake, auf denen er Songs von Simon & Garfunkel neu interpretiert, durchs heimische Mischpult gejagt. Sophistikatierte Leisetreterei, die sich einer wohl nur dann leisten mag, wenn er im Hauptjob das Schlagwerk bei der ambitioniertesten Rockband des Planeten bedient…

radiohead-philip-james-selway

Nun jedoch scheint es Philip Selway seinem Radiohead-Kollegen Jonny Greenwood gleichtun zu wollen und ist ebenfalls unter die Score-Bastler gegangen: Der 50-jährige Engländer zeichnet sich für den im September anlaufenden Film „Let Me Go“ verantwortlich, welcher die wahre Geschichte der Helga Schneider erzählt, einer Frau, welche 1941 von ihrer Mutter im Stich gelassen wurde, damit diese zur Waffen-SS gehen und alsbald als Aufseherin in einem der Konzentrationslager „Karriere machen“ konnte. Der Film spielt im Jahr 2000, als Helga, ihre Tochter und Enkeltochter der eigenen, mit Makeln behafteten Vergangenheit nachspüren.

Bereits jetzt lässt Philip Selway den Titelsong des Soundtracks, welcher digital am 15. September und physisch am 27. Oktober via Bella Union erschienen und vornehmlich Instrumentalstücke enthalten wird, hören. Und bereits dieser ist – wie wohl auch auch der Film – ein emotionaler Haken in die Magengegend: Zu Pianobegleitung singt Selway Zeilen wie „I waited for you to come back, you never came / I called out for you, you pushed me away“, bevor (sein) Schlagzeug und eine Trauerweide aus Streichern das Stück von Dannen tragen…

 

 

Rock and Roll.

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Song des Tages: Radiohead – „Man Of War“


Radiohead-Capture

Erinnert alles ein bisschen an ihren guten alten Mini-Hit „Just“: Radiohead haben ein neues Musikvideo zum eigentlich gar nicht mal so neuen, nun jedoch erstmals veröffentlichten Song „Man Of War“ gedreht. Und darin ist, ähnlich wie im Video zu „Just“, ein Mann auf einer unerklärlichen inneren Mission unterwegs. In „Just“, dem Stück vom 1995 erschienenen zweiten Album „The Bends„, legt er sich auf die Straße, in „Man Of War“ ist der Herr auf der Flucht. Wovor? Das weiß man freilich nie so genau (schließlich sind hier die musikalischen Ober-Enigmaten von Radiohead am Werk!) – und bekommt am Ende der viereinhalb Video-Minuten doch eine leise Ahnung davon…

OKNOTOKAuch musikalisch hat „Man Of War“ nicht viel mit der Band Radiohead zu tun, wie wir sie seit über 15 Jahren – und spätestens mit dem wegweisenden Album-Doppel aus „Kid A“ und „Amnesiac“ – kennen. Das Stück ist ein für Band-Verhältnisse relativ konventioneller Rocksong, der eher an britpoppige Anfangstage erinnert, und das hat einen guten Grund: Es ist mindestens 22 Jahre alt, wurde damals von Radiohead hin und wieder live gespielt, aber nie (offiziell) aufgenommen, geschweige denn veröffentlicht. Und doch erschien der Fanfavorit, der jahrelang als „Big Boots“ oder „Man o‘ War“ durch Foren und das weltweite Netz geisterte, dieser Tage erstmalig auf „OKNOTOK„, der Jubiläumsedition von Radioheads zwanzig Lenze jungem Meilenstein „OK Computer“. Interessant, auch für Fans: Neben etlichen B-Seiten sind darauf drei zu unrecht fast vergessene Radiohead’sche Songperlen zu hören. Und so bekommen, nebst „Man Of War“, auch die Outtakes „I Promise“ sowie „Lift“ zwei Dekaden später die verdiente Aufmerksamkeit. Über letzteres Stück sagte Gitarrist Ed O’Brien zuletzt Folgendes:

„We played that live with Alanis Morissette. It was a really interesting song. The audience, suddenly you’d see them get up and start grooving. It had this infectiousness. It was a big anthemic song. If that song had been on that album, it would’ve taken us to a different place, and probably we’d have sold a lot more records — if we’d done it right. And everyone was saying this. And I think we subconsciously killed it. If ‚OK Computer‘ had been like ‚Jagged Little Pill‘, it would’ve killed us. But ‘Lift’ had this magic about it. But when we got to the studio and did it, it felt like having a gun to your head. There was so much pressure. But saying that, I’ve got a monitor mix, and it is pretty good.”

 

 

„Drift all you like
From ocean to ocean
Search the whole world
But drunken confessions
And hijacked affairs
Will just make you more alone

When you come home
I’ll bake you a cake
Made of all their eyes
I wish you could see me
Dressed for the kill
You’re my man of war

You’re my man of war

And the worms will come for you
Big Boots
Yeah, yeah, yeah

So unplug the phones
Stop all the tapes
It all comes flooding back
From poisoned clouds
To poisoned dwarves
You’re my man of war

You’re my man of war

And the worms will come for you
Big Boots
Yeah the worms will come for you
Big Boots
For you
Big Boots…“

 

Rock and Roll.

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