Ein Album, das hier auf ANEWFRIEND in aller Ausführlichkeit angekündigt und mit maximaler Spannung und Vorfreude erwartet wurde. Logische Konsequenz: es ist das aktuelle „Album der Woche“…
Frightened Rabbit – Pedestrian Verse (2013)
-erschienen bei Warner Music-
Eine musikalische Politik der kleinen Schritte. So könnte man den Werdegang des schottischen Quintetts Frightened Rabbit wohl am ehesten umschreiben. War der 2007 erschiene Erstling „Sing The Greys
“ noch ein bandgewordener Mittelfinger an das gemeinsame Scheitern vorm ersten Erfolg, so nutzte Frontmann Scott Hutchison das darauf folgende „The Midnight Organ Fight
“ (2008 veröffentlicht, wurde von ANEWFRIEND hier ausgiebig gewürdigt) zur grandios bitteren Cold Turkey-Rekonvaleszenz von einer gescheiterten Beziehung, um im dritten Album „The Winter Of Mixed Drinks
“ (2010) langsam die Jalousien beiseite zu ziehen, einen Blick nach draußen zu wagen und endlich die alten Kumpels von der Stammkneipe gegenüber wieder zu gemeinsamen Hugs ’n‘ Drinks zu treffen.

Im neuen Album „Pedestrian Verse
“ wagt er nun einen weiteren kleinen Schritt vorwärts. Im heimischen Glasgow begibt er sich auf einen Spaziergang, einfach, um zu sehen, was er in all den Jahren der Selbstreflexion, der innerlichen Gesundung, ja beinahe der persönlichen Festigung so alles verpasst hat. Und das, was er nun sieht, bringt zwar keineswegs seine vorgefertigte Welt ins Wanken, bestürzt in jedoch schon ein klein wenig. Bereits in „Acts Of Man“, dem ersten Song des vierten Albums, sieht er allerhand Gespenstisches vor seinen Augen: teigig-bleiche Landsleute, bis ins Mark pervertierte Gestalten, latent Gewalttätige und deren tatenlose Opfer, Lügner, Feiglinge, Liebe mit sichtbarem Verfallsdatum – „Not here, not here / Heroic acts of man“. Kein Heiland, nirgendwo. Und wie schon in der Vergangenheit – und das wird auch bei den folgenden Stücken des Albums immer wieder deutlich – kann Hutchison nicht anders, als sich (s)einer bohrenden Selbstreflexion zu unterziehen: „I never wanted more to be a man / And build a house around you / I’m just like all the rest of them / Sorry, selfish, just trying to improve / I’m here, I’m here / Not heroic but I try“. Nein, er mag sich keineswegs über all diese Abscheulichkeit erheben, aber zumindest gibt er sein Bestes. Und so ballt er die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten, während ihn ein kalter Winterwind frösteln lässt und so noch die letzten Erinnerungen an selige Sommertage zum Erfrieren bringt („December’s traditions suck the last of summer from our cheeks / Draws the curtains / Strips the trees“ – „December’s Traditions“). Er passiert Straßenzug um Straßenzug dieses ewig gleichen Backsteingraus, kann in seinem Unterbewusstsein die in den Hinterhöfen vergrabenen Familienleichen kehlig auflachen hören, welche wissen, dass jedes dunkle Geheimnis irgendwann wieder ans fahle Licht kommen wird („Backyard skulls / Not deep enough to never be found“ – „Backyard Skulls“). Er fühlt sich unverstanden und von der ihm janusköpfig erscheinenden Gesellschaft verraten („Stop acting so holy / I know I’m full of holes /…/ Don’t care if I’m lonely / ‚Cause it feels like home“ – „Holy“). Natürlich hat er bereits zaghafte Hilferufe nach Zweisamkeit fern von der grausam-grauen „Welt da Draußen“ von sich gegeben („I’m trapped in an collapsing building / Come find me now / We’ll hide out / We’ll speak in our secret tongues / Will you come back to my corner / Spent too long alone tonight / Would you come brighten my corner / A lit torch to the woodpile high“ – „The Woodpile“). Doch wo soll er denn bitte Zuflucht suchen? Worauf soll er vertrauen? Auf die Kirche etwa? Da, wo scheinheilige Würdenträger ihren eigenen Messwein saufen, nur um daraufhin von den heiligen Wassers des Sees Genezareths zu predigen? Nein, Gott ist tot – oder kann ihm zumindest gestorben bleiben („There isn’t a God, so save your breath“ – „Late March, Death March“). Lieber läuft er grimmig pfeifend nachts durch die eisigen Gassen, mit dem Bewusstsein, dass eine Gesellschaft wie diese, aller modernen Patina zum Trotz, ebenso tot sein muss, wie er sich in seinem Verlorensein, seiner Heimatlosigkeit so oft in der letzten Zeit gefühlt hat („I’m dead now, check my chest and you’ll see /…/ I’m dead now, can you hear the relief /…/ We’re all dead now, join hands and we’ll sing / To the glory of hell and the virtue of sin“ – „Dead Now“). Er ruft sich das Bild eben jener jungen Frau wieder ins Gedächtnis, die er kürzlich auf einer Parkbank sitzen sah. Aus ihren freudlosen Augen meinte er ihr gesamtes Schicksal lesen zu können. Dass sie bereits als Säugling jegliche Chancen auf ein erfüllendes Leben verspielt hatte („Brought home to breathe smoke in arms of her mother“ – „State Hospital“), schließlich einen dieser grobschlächtigen Kerle heiratete, dem sie seitdem nur als bessere Putzkraft dient, und so mit den Jahren nach Innen und Außen abhärtete. Und doch: kann dies wirklich das Ende der Evolutionsfahnenstange sein? Muss wirklich alles und jeder in solch einer vorgezeichneten Unglückssackgasse enden? Während sich die Sonne im Himmel über ihm vorsichtig durch die dichten Regenschleier kämpft, ist er sich sicher: „But if blood is thicker than concrete, all is not lost“. Für die kurzen Momenten des Glücks benötigt er nämlich keineswegs viel: „Shut down the gospel singers and turn up the old heartbreakers / I’m dying to tell you that I’m dying here“ („Nitrous Gas“). Scheiß auf all die große Show, den tumben Zirkus da draußen! Lass es uns einfach noch einmal wie früher machen, die alten Platten auflegen und reden! Nicht mehr…
Und so macht er sich auf seinem Spaziergang durch die heimatlichen regennassen Gassen Gedanken über die gewaltige moralische Schieflage der Gesellschaft (etwa im Bonus Track „Snow Still Melting“), erträumt für Andere Möglichkeiten, aus ihrem einheitlich engen Alltagsgrau auszubrechen („Escape Route“, ebenfalls ein Bonus Track) und kommt – der alte Romantiker, der er nun mal ist – immer wieder auf all die Lieben, auf all die Liebeslieder in seinem Leben zurück. Natürlich ist er keineswegs frei von Fehlern und Trugschlüssen, aber wie hätten denn, bitteschön, Andere an seiner Stelle gehandelt („Time passes / Except the blame / And I except that you might never care to see me again /…/ But may I ask, and answer honestly: What would you have done if you were me?“ – „If You Were Me“, der beste der drei Bonus Tracks). Am Ozean angelangt, träumt er sich hinaus auf die weite See. Nein, dieses Mal wird er nicht versuchen, gegen die rauen Wellen anzuschwimmen! In einem Boot sieht er sich diesen zementgrauen, Seelen fressenden Betonriesen entkommen. Wohin? Egal, nur weit, weit weg von hier… Noch besteht Hoffnung („There is light but there’s a tunnel to crawl through / There is love but its misery loves you / I’ve still got hope so I think we’ll be fine / In these disastrous times, disastrous times“), auch wenn diese keine Siebenmeilenstiefel trägt.

Frightened Rabbit gehen auf „Pedestrian Verse“, welches als ihr viertes Werk auch gleichzeitig ihr – vielerorts mit Befürchtungen behaftetes – Major Label-Debüt darstellt, ausgerechnet einen Schritt zurück von den nicht selten hymnischen Arrangements des vor drei Jahren erschienen Vorgängers „The Winter Of Mixed Drinks“. Auf den zwölf neuen Songs (beziehungsweise 15 Songs in der Deluxe Edition) geht das schottische Quintett meist deutlich kompakter zu Werke. Natürlich sind sie noch da, diese Passagen, in denen Scott Hutchison und Co. zur großen Umarmung ausholen, und man selbst nicht anders kann, als sich die Glaswegians auf eine gemeinsame, freundschaftliche Pint her zu wünschen. Natürlich bieten Frightened Rabbit auch 2013 ihre höchst eigene Variante des schottischen Indie Rocks auf, der schon die Vorgänger zu Stück für Stück ganz nah ans Herz wachsenden Kleinoden machte, und verfeinern das musikalische Basiskonstrukt aus Gitarre, Schlagzeug und Bass mal mit seltsam vergnügt im Hintergrund flirrenden Synthesizern („Backyard Skulls“), einer Orgel („Escape Route“), gepfiffenen Melodien („Late March, Death March“) oder Backgroundchören („Nitrous Gas“). Natürlich dürfen die Gitarren ab und an zu kurzen, schneidenden Solos durchstarten (etwa in „The Woodpile“ oder in „Dead Now“). Doch trotz aller Eingängigkeit, mit welcher sich die Vorab-Songs „State Hospital“, „Dead Now“ (Hämmerndes Piano! Scheidendes Gitarrensolo! Beißende Synthesizerlineine!) und „The Woodpile“ bereits in die Gehörgänge der nach neuen Stücken lechzenden Hörerschaft gefressen haben, stehen auch auf „Pedestrian Verse“ Scott Hutchisons clever-lakonische Texte – übrigens nach wie vor völlig zu recht – im Vordergrund. Und nachdem in „The Oil Slick“, diesem kleinen Inferno, bei welchem sich die Band gemeinsam mit Bläsern zu einer musikalischen Monsterwelle aufschwingt, nur um nach und nach zu verebben, die Vögel anfangen, den Hörer aus diesem 43-minütigen (oder 53-minütigen, bezieht man die drei folgenden Bonus Tracks mit ein) Winterspaziergang zu zwitschern, weiß man: es ist alles okay. „Pedestrian Verse“ dient als vollkommen gelungene Bestandsaufnahme – vom Zeitgeist, von der Gesellschaft, vom intakten Verhältnis der Band. „Pedestrian Verse“ erzählt kleine Geschichten, die all jene, welche genauer hinhören, so schnell nicht mehr loslassen werden. Dass ausgerechnet dieses Album voller Anti-Hymnen für die Schotten einen Durchbruch à la Snow Patrol (die immerhin auch aus Glasgow stammen) bedeuten dürfte, darf stark bezweifelt werden. Aber Frightened Rabbit pfeifen darauf! Und gehen mit „Pedestrian Verse“ zwei kleine Schritte zurück, nur im Anlauf für den nächsten beherzten großen Satz zu holen…

Wer sich das Album vorab im Stream zu Gemüte führen möchte, der kann das noch immer hier tun…
In einem früheren Artikel berichtete ANEWFRIEND bereits über den Kurzfilm „Here (The Highlands Film“, welcher die Band während ihrer Mini-Tour durch einige abgelegenere Orte ihrer schottischen Heimat begleitet (und der Deluxe Edition
von „Pedestrian Verse“ nun auf DVD beiliegt).
Die dem Album 2012 vorausgegangene „State Hospital EP“ kann man sich hier anhören…
Und hier die drei Videos zu „State Hospital“…
…“Dead Now“…
…und „The Woodpile“…
…sowie hier die NME-Session des Bonus Tracks „If You Were Me“ ansehen.
Rock and Roll.
Gefällt mir:
Like Wird geladen …