(Michael „Mike“ York, Gitarrist von Pianos Become The Teeth)
Rock and Roll.
Nehmen wir doch einmal die ebenso platte wie wahre Pointe vorweg und legen die Karten gleich zum Anfang auf den Tisch: Eines Tages müssen wir uns alle – ob wir wollen oder nicht – auf die ein oder andere Art und Weise von denen, die wir lieben und die uns lieben, verabschieden. Man mag es wahrhaben oder geflissentlich verdrängen, aber dennoch macht der Tod auch vor unseren Leben nicht Halt. True story.
In der Musikwelt ist dieses Thema natürlich auch kein fremdes. Spontan kommen mir hier etwa Sufjan Stevens letztjähriges berührendes „Carrie & Lowell“ oder viele, viele der jüngsten großartigen Stücke von Mark Kozelek in den Sinn. Und: Seit ein paar Tagen, kann der, der sich an diese nicht eben wattebauschig leichte Thematik heran traut, zwei weitere großartige Platten in den Plattenregalen finden…
Nick Cave & The Bad Seeds – Skeleton Tree (2016)
-erschienen bei Bad Seed Ltd/Rough Trade-
Nicholas „Nick“ Edward Cave ist ein Getriebener. Ein Wahnsinniger. Ein wahnwitzig im Zeitplan arbeitender Kreativer. Und das seit über 30 Jahren. Und einer, der selbst seine den Wahn längst gewöhnten Fans immer noch zu überraschen weiß. Das hatte der 58-jährige Australier und Wahl-Engländer unlängst mit dem vor drei Jahren erschienenen Meisterwerk „Push The Sky Away“ bewiesen, dass ihn sowie seinen engsten musikalischen Vertrauten Warren Ellis und seine kongeniale Begleitband The Bad Seeds auf der Höhe ihres Könnens präsentierte – mit Songs voller Biss und untergründigem Drama, freilich massig dunklen Seiten und mannigfaltig bösem Witz. Wer danach unbedingt mehr Cave sehen wollte, bekam mit „20,000 Days On Earth„, der 2014 erschienenen abendfüllenden Dokumentation der Filmemacher Iain Forsyth und Jane Pollard, welche einen Tag im Leben des Musikers/Texters/Dichters/Schriftstellers/Drehbuchautors/Schauspielers zeigt (und dabei – ebenso wie Caves Songs – einen Bogen zwischen Genialität und Banalität spannt), noch mehr Futter zur (Über)Interpretation hinein in Nick Caves Wirken. Ja, dem Mann, der sich in all den Jahren seine eigene diabolische Welt der Narrenfreiheit zurecht gehauen hat, ging es gut. Und man kennt es ja nur zu gut von sich selbst. Kam möchte man zugeben, dass alles – frei nach Faustischem Prinzip – „eigentlich ganz okay“ ist, – und ich bitte meine Wortwahl zu verzeihen – fickt einen das Schicksal plötzlich umso härter.
Und so war es auch in Nick Caves Fall. Am 14. Juli 2015 starb sein 15-jähriger Sohn Arthur bei einem tragischen Unfall (Gossip-Spoiler: er stürzte im LSD-Rausch von einer Klippe in der Nähe des südenglischen Seebads Brighton, wo Cave und seine Familie leben). Nur böse Geister mögen hier wohl das Karma zur Verantwortung ziehen, denn ausgerechnet Cave, der es vor allem in den Achtzigern und Neunzigern mit bewusstseinserweiternden Substanzen und Parties so wild getriebenen hat wie vor ihm (fast) nur good ol‘ Keith Richards, Cave, der jahrelang intensiv heroinabhängig war, durch die Liebe (zu) seiner jetzigen Ehefrau Susie Bick jedoch glücklicherweise noch rechtzeitig den Absprung schaftte, dieser Nick Cave verlor nun – mutmaßlich durch im jugendlichen Leichtsinn durchgeführte Drogenexperimente – auf tragische Weise einen seiner vier Söhne. Ja, Karma ist eine miese kleine Schlampe.
Caves nun erschienenes neustes Album „Skeleton Tree“ als „Werk über den Tod seines Sohnes“ zu werten, fällt da nur allzu leicht. Und: Ja, zu einem nicht unerheblichen Teil ist es das wohl auch (oder wird so zumindest in den allgemeinen Tenor der Musikhistorie eingehen). Dabei war ein guter Teil der acht Stücke bereits zu großen Teilen fertig, als sich die Tragödie ereignete. Und doch kann, will, sollte man „Skeleton Tree“ nicht ohne das Wissen um die Hintergründe seiner Entstehung hören, denn Zeilen wie „I call out, I call out right across the sea / But the echo comes back empty / Nothing is for free“ (im abschließenden Titelstück) brauchen die Metaebene. Außerdem klingt Cave nur drei Jahre nach „Push The Sky Away“, das ihn als zwar alterweisen Weltbeobachter, jedoch allzeit angriffslustigen Hansdampf in allen Gossen präsentierte, so ganz anders (und das ist wohl keine Überinterpretation): traurig, vom Schicksal betrogen, manchmal gar müde. Zwar sind auch 2016 seine Bad Seeds wieder mit im Boot, jedoch hört man kaum eine elektrische Gitarre, kommt das Schlagzeug – wenn überhaupt – nur sehr gediegen zum Einsatz. Stattdessen Piano, Vibraphon und akustische Gitarren, welche von Co-Produzent Warren Ellis hinter einem Vorhang versteckt werden, der sie eins werden lässt mit der Ambience, die er mit dem Synthesizer und den Loops erzeugt. Hinter diesem pechschwarzen Vorhang: Nick Cave. Natürlich war der stets edle Anzüge tragende Musiker nie der freundliche Kasper für die gepflegte Massenunterhaltung, jedoch ist selbst für ihn diese Stufe der Traurigkeit, wenn an manch einer Stelle die Stimme gerade noch fürs Letzte reicht, wenn er etwa „With my voice / I am calling you“ („Jesus Alone“) ins Studiomikrofon singt, recht harter Tobak, welcher schließlich im flehentlichen „I Need You“ seine Spitze erreicht („I will miss you when you’re gone / I’ll miss you when you’re gone away forever / Cause nothing really matters / I thought I knew better, so much better / And I need you / I need you“). Da wirkt das in sich ruhende „Distant Sky“, ein geradezu zum Beerdigungsmarsch prädestiniertes Stück, bei welchem Cave Unterstützung von der dänischen Sopranistin Else Torp erhält, geradezu wie Balsam auch auf die Hörerseele.
Wie bereits der „Rolling Stone“ in seiner Review schrieb: „‚Skeleton Tree‘ ist nicht entstanden, weil Nick Caves Sohn gestorben ist, sondern obwohl er gestorben ist.“ Freilich werden Album und Tragödie immer miteinander verknüpft bleiben. Freilich wäre auch die gemeinsam mit dem Album erschienene Dokumentation „One More Time With Feeling“ von Regisseur Andrew Dominik, welche Cave und seine Vertrauten bei der Entstehung von „Skeleton Tree“ begleitet und nicht selten persönlichste nahe kommt, ohne die Ereignisse vom Juli 2015 kaum so möglich gewesen. Doch Nick Cave wahrt in jeder der knapp 40 Albumminuten ein Stückweit kreative Distanz, macht keinen der acht Songs nur zu seinen, schafft so etwas universell Trauriges, Berührendes, geradezu Meditatives, dem in keinster Weise der Kirschfaktor eines „Tears In Heaven“ (das damals ja Eric Clapton unter ähnlich tragischen Umständen in die Saiten gefallen war). Und obwohl der Hörer (zumindest ist das bei mir der Fall) diese Distanz auch selbst für sich wahrnimmt, gehen die Gefühle, die Cave in „Skeleton Tree“ durchlebt, durch Mark und Bein – und über allem steht die Hoffnung, dass die Stücke vor allem dem Musiker selbst helfen werden, seinen Frieden mit dem Stich ins Herz zu machen, die ihm diese miese Schlampe Karma an jenem 14. Juli 2015 verpasst hat.
Hier gibt es Impressionen von „Skeleton Tree“ in Form von Musikvideos zu „Jesus Alone“ und „I Need You“:
Touché Amoré – Stage Four (2016)
-erschienen bei Epitaph-
Auf den ersten Blick scheint Nick Cave und Jeremy Bolm gar nicht so viel zu einen. Der eine ist ein in Südengland beheimateter Australier, der in dreißig Jahren Musikgeschäft so ziemlich jede Höhe und Tiefe mitgenommen hat, der alles Helle, alle Dunkle in unser aller Seelen gesehen hat, in absehbarer Zeit das halbe Dutzend Jahrzehnte Lebenszeit auf diesem von Gott oder wemauchimmer verlassenen Planeten voll machen wird und sich dabei doch in beinahe jeder Minute seine künstlerische Restwürde bewahrt hat. Der andere ist der vorstehende Schreihals einer vor neun Jahren gegründeten Post-Hardcore-Formation aus dem US-amerikanischen Burbank, Kalifornien, der mit knapp über dreißig Jahren gut und gern Sohn des ersteren sein könnte. Klar könnte man Parallelen beim steten Arbeitsethos ziehen (Cave weist in dreißig Dienstjahren mindestens ebensoviele Veröffentlichungen plus Bücher plus Filme plus etc. pp. aus, Bolm hat mit seiner Band Touché Amoré nun vier Alben sowie massig EPs und Split Singles vorzuweisen), eventuell könnte man beiden auch einen gewissen „heiligen Ernst“ (nebst bösem Augenzwinkern) unterstellen. Zudem sind weder Nick Cave noch Jeremy Bolm als große Spaß verbreitende Jubelcharaktere in Erscheinung getreten. Aber sonst? Ganz eigene Welten.
Und doch ist „Stage Four“, das vierte Album der fünfköpfigen Post-Hardcore-Band Touché Amoré, dem neusten Nick-Cave-Werk näher, als alle Genre-Grenzen vermuten lassen, denn die elf Stücke von Bolms Formation beschäftigen sich voll und ganz mit dem Krebstod seiner Mutter. Oder, genauer: mit dem, was bleibt.
„Stage Four“, das bedeutet: die letzte Stufe einer Krebserkrankung, Metastasen, Endstadium, keine Hoffnung mehr. Als Bolms Mutter und somit auch er und sein Bruder, die die Mutter als Alleinerziehende groß zog, von der finalen Diagnose erfuhren, kam diese wohl einem Schock gleich. Jeremy selbst schien, schenkt man der Musik Glauben, gerade auf dem sprichwörtlichen aufsteigenden Ast, denn mit Touché Amoré lief es nach drei veröffentlichten Alben, welche immer größere Zuhörerscharen anzogen, super, und vor allem „Is Survived By„, 2013 erschienen, ließ rein lyrisch nach Werken, welche offen zu erkennen gaben, sich zu jeder Zeit fehl am Platze zu fühlen, positive Tendenzen erkennen (freilich noch immer lautstark). Dann jedoch schlug das Schicksal mit voller Breitseite zu – nach dem Motto „Dir geht’s prima? Dann wart‘ mal ab!“. Plötzlich wurde Bolm der Boden unter den Füßen weg gezogen – also auch: der Bühnenboden. Seine Band steckte zwangsläufig in dieser Zeit zurück, damit der Sohn sich voll und ganz um seine erkrankte Mutter kümmern konnte. Da jedoch Jeremy wusste, dass seine Mutter nie gewollt hätte, dass sein Leben, seine Leidenschaft wegen ihrem Schicksal in die Brüche gehen würde, kehrte der Frontmann schließlich wieder zu Touché Amoré zurück, um eine Tour abzuschließen. Vielleicht sogar zum Schutz seiner eigenen geistigen Gesundheit. Und: Es kam wie es kommen musste – seine Mutter starb, während Jeremy Bolm auf der Bühne stand.
Und obwohl sie es wohl genauso gewollt hätte, macht sich Bolm – verständlicherweise, irgendwie – noch heute Vorwürfe deswegen. Wieso war ich nicht da? Wäre ich stark genug gewesen? Hätte sie nicht genau das verdient? Bin ich ein schlechter Mensch, ein schlechter Sohn gewesen? Tausend und noch mehr Fragen, welche nie eine Antwort finden werden…
Und Fragen, davon gibt es während der gut dreißig Albumminuten von „Stage Four“ so einige. Nur Antworten, die findet Bolm selbst nicht. Vielmehr fühlt man sich als Hörer, als würde man den oft lautstark in Mikro geschrieenen, manchmal kehlig geraunten, mal verdruckst gesungenen Tagebucheinträgen des Thirtysomethings lauschen. Heißt auch: Feelgood-Atmosphäre sollte man verdammt nocheinmal woanders erwarten, nur nicht hier. „You died at 69 / With a body full of cancer / I asked your god: ‚How could you?‘ / But I never heard an answer“ („Displacement“) – weder Gott noch irgendsonstjemand kann einen von der Schuld, der Leere, dem Alleinsein, der Hilflosigkeit erlösen. Und: Nein, die Zeit heilt auch lange nach der Todesnachricht („New Halloween“), lange nach existenziellen Sinnkrisen („Displacement“) keine Wunden, lässt höchstens ein wenig Gras darüber wachsen. So sortiert Bolm bei der Auflösung der Habseligkeiten seiner Mutter auch Momente, Erinnerungen, lässt den Schmerz des definitiven Abschieds Stück für Stück zu, um zum Schluss – im letzten Stück „Skyscraper“, bei welchem er Unterstützung von Singer/Songwriterin Julien Baker erhält – in New York City anzukommen, der Stadt, welche seine Mutter über alles liebte, und in der ihn von nun an jede Ecke, jedes Geräusch, jeder Geruch an die Frau erinnern wird, über deren Verlust er wohl nie so ganz hinweg kommen wird. Ein Hoffnungsschimmer ganz am Ende ist jedoch, dass der Sohn es endlich schafft, die letzte Sprachnachricht, die seine Mutter ihm hinterlassen hat, anzuhören. Und der Hörer ebenso. In den letzten Sekunden, die bleiben.
Rein musikalisch reihen sich Touché Amoré in die letzten Veröffentlichungen artverwandter „The Wave“-Bands wie La Dispute oder Pianos Become The Teeth ein, deren aktuelle Alben („Rooms Of The House“ beziehungsweise „Keep You„) ja auch schon einen Schritt weg vom dumpfen Haudrauf-Zwei-Minuten-Mathcore und hin zu progressive gefärbten Indierock-Klangstrukturen machten. Zwar bewegen sich Jeremy Bolm und Co. dabei näher an ihren Vorgängern als etwa Pianos Become The Teeth, die vor zwei Jahren auf „Keep You“ auf grandiose Art und Weise einen Richtungswechsel zu vergleichsweise sanfteren Songstrukturen suchten, lassen jedoch trotzdem fast erstmalig so etwas wie Melodien, Refrains, Wiederholungen in ihren Stücken zu, was der Musik bei allen Rimshot-Beats, glasigen Wave-Gitarren und Tom-Drumming nur zu mehr Vielschichtigkeit verhilft.
„Stage Four“ ist ein ebenso emotionales wie direktes und aufrichtiges Wechselbad aus Trauer und dem Kampf darum, damit klar zu kommen. Es erzählt von denen die gehen und wird von einem erzählt, der zurück blieb, um die Fragezeichen zu zählen und die Erinnerung zu wahren.
Eindrücke gefällig? Hier gibt’s die Musikvideos zu „Palm Dreams“ und „Skyscraper“:
Rock and Roll.
Pianos Become The Teeth – Keep You (2014)
Wenn eine Band drei Alben innerhalb kürzerer Zeit veröffentlicht, dann sind thematische Gemeinsamkeit (slash persönliche Überschneidungen) nur allzu gut möglich. So auch im Hause Pianos Become The Teeth. Drehten sich die Vorgänger zum aktuellen Album „Keep You“ – „Old Pride“ von 2009 und „The Lack Long After
“ von 2011 – noch um das Zurechtkommen mit der Nachricht der Multiple-Sklerose-Erkrankung des Vaters von Sänger Kyle Durfey (auf „Old Pride“) beziehungsweise die unmittelbare Verarbeitung des Todes des Familienoberhauptes (auf „The Lack Long After“), wird „Keep You
“ zum fragmentarischen Tagebuch der Schritte Durfeys zurück ins Leben. Und doch könnte man meinen, dass hier eine komplett andere Band in die Saiten und Felle haut…
Noch vor kurzer Zeit zählten Pianos Become The Teeth zu eben jenen Bands, die, von Fans wie Musikpresse simplifiziert unter dem „The Wave“-Banner zusammenfasst, unter welches auch die befreundeten La Dispute, Touché Amoré, Defeater oder Make Do And Mend zählten, es, ihrem jugendlichen Alter zum Trotz (oder genau deshalb), vortrefflich verstanden, persönliche wie gesellschaftliche Schieflagen in lauthals heraus geschrieene Lyrik, begleitet von nicht weniger brachialer Musik, umzumünzen. Die einen steckten all das in die „Screamo“-Schublade, die anderen kritzelten verschmitzt lächelnd „Post Hardcore“ übers Plattencover. Nun jedoch macht die Band aus dem US-amerikanischen Nordosten (Baltimore, Maryland) allen Sortierwütigen einen Strich durch die Rechnung. Derb geschredderte Akkorde? Gibt’s von Pianos Become The Teeth im Jahr 2014 höchstens noch auf Konzerten zu hören, wenn das ein oder andere „ältere“ Stück gespielt wird. Aggressiv ins Mikro geschrieene Lyrik aus Durfeys Kehle? Auch die – und das dürfte wohl für Kenner der Band die größte Überraschung darstellen – gehört auf „Keep You“ wohl endgültig (definitiv jedoch vorerst) der Vergangenheit an. Denn anstatt weiterhin seine Stimmbänder zu malträtieren, singt der Frontmann nun. Und der Hörer fragt sich, wieso zur Hölle er damit nicht schon früher begonnen hat.
Nun hat ein derart umfangreich vollzogener Richtungswechsel durchaus auch seine Tücken, denn das Ganze könnte durch den Abzug der Härte auch gut und gern zum lahmarschigen Trauerkloszug mutieren. Das Gute: das tut es zu keiner der knapp 44 Albumminuten. Stattdessen baut die fünfköpfige Band gemeinsam mit dem zur Zeit für Kapellen dieser Art scheinbar unverzichtbaren Produzenten Will Yip (u.a. auch La Dispute, Title Fight) zehn sorgsam arrangierte Songs auf, deren Schönheit sich zwar nicht immer sofort mit dem ersten Hördurchgang erschließt, dafür jedoch mit jedem weiteren tiefer und tiefer ins Hörerherz gräbt. Klar gibt es auch auf „Keep You“ noch allerhand Dynamik (etwa bei „Lesions“), doch die Band lässt ihren Stücken nun die Zeit und Ruhe, um sich zu entfalten, schichtet Gitarrenspur nicht mehr über- sondern nebeneinander, während das rhythmisch versiert aufspielende Schlagzeug von David Haik die Songs voran trägt und etwas übergelegter Hall sein Quäntchen zur Gesamtatmosphäre beiträgt. Und auch wenn dem Hörer bei all den Zeilen aus der Feder von Kyle Durfey, wie „I’m still always slowly waiting for what follows / For what I’ve learned about being so defined by someone dying“ (aus dem Albumopener „Ripple Water Shine“) das eigene Herz so schwer zu werden droht, wie anno dazumal zu Hochzeiten von Emocore-Bands wie Thursday, so merkt man doch, dass der Sänger ehrlich bemüht ist, die Trauer abzuschütteln: „I’m tied by the way of church keys, missed weddings /I’m tied by the way everyone talks about everything / I’m breathing easy / I’m breathing sharp / I’m all sand and heat / I’m keeping you / I leave nothing behind but traces for myself to find“ (aus „Traces“). Alles auf „Keep You“ ist vergänglich, ist längst vergangen, lange bevor die Strahlen der Nachmittagssonne sich wie zarte Hoffnungsschimmer aufs heimische Fensterbrett gelegt haben. Alles auf „Keep You“ ist Trauer aus den Büchern – und die Gewissheit, nicht allein damit zu sein. Jede Note erzählt vom Gefühl, geliebt zu werden oder geliebt worden zu sein. Und am Ende aller zehn Episoden steht auf „Keep You“ mit „Say Nothing“ noch einmal ein Monolith von Song, bei dessen Zeilen sich Durfeys Stimme noch ein letztes Mal fast überschlägt, bevor das Stück Saiten- für Saitenschwung zur Ruhe kommt: „A lack of noise isn’t a lack of life / And that’s the way I think it’s always been / Because, ‚I say it all, when I say nothing at all,‘ / So let’s say nothing some more / And let the words burn their way across the floor / Because if these walls could talk / I still couldn’t get over a God damned soul / And I can’t hold smoke / So let’s say nothing some more / Because the sand stays with me / Because the sand keeps you“. Der Sand, der zurückbleibt, den raubt uns die Zeit. „Keep You“ erzählt mit Herz und Seele davon, was von einem Leben bleibt…
Enttäuscht von „Keep You“ dürften wohl nur diejenigen sein, die von Album Nummer drei ein nahtloses Anknüpfen an dessen Vorgänger erwartet haben – also einen weiteren Rundumschlag aus Schnelligkeit, Lautstärke und (emotionaler) Härte. Allen anderen bieten Pianos Become The Teeth mit ihrem neusten Werk eine derart schöne Ansammlung von Trauerweidenstücken, dass man beinahe geneigt ist, „Keep You“ auf eine Ebene mit Meisterwerken wie The Cures 25 Jahre jungen Geniestreich „Disintegration
“ zu stellen, während Pianos Become The Teeth im Jahr 2014 rein musikalisch Atmosphärekönige wie die instrumental knietief im Postrock musizierenden Texanern von Explosions In the Sky wahnsinnig nahe zu stehen scheinen. Dass das Abziehen brachial harter Strukturen nicht automatisch zu Lasten der Dringlichkeit und überzeugend-einnehmenden Atmosphäre gehen muss, haben ja unlängst schon die „The Wave“-Kollegen von La Dispute eindrucksvoll bewiesen, als sie mit „Rooms Of The House“ mehrfach einen Gang zurück stellten. Ganz klar: Für die, die dem neusten Album der Band um Frontmann Kyle Durfey eine ehrliche Chance geben, wird es in diesen kalt-grauen keine schönere Decke geben, unter der man all seine Herbstgefühle warm schlummern lassen kann. VISIONS-Redakteur Matthias Möde schrieb über in seiner Review über „Keep You“: „Die besten Platten sind zwar nicht die, die wirklich traurig machen, aber die, die unter die Haut gehen, deren Essenz man sich aber nicht mit wenigen Wörtern tätowieren lassen kann.“ Das darf man getrost so stehen lassen. Und den Rest ganz dem Herzen überlassen…
Wie auch die Vorgänger kann man sich „Keep You“ in Gänze auf der Bandcamp-Seite von Pianos Become The Teeth anhören…
…sich zum Song „Repine“ gleich zwei Musikvideos zu Gemüte führen…
…sowie hier der Making Of-Kurzfilme zum Album anschauen:
Rock and Roll.
Freilich: In einem anderen Leben wäre Jordan Dreyer wohl Schriftsteller geworden. In diesem ist er jedoch Frontmann des aus Grand Rapids, Michigan stammenden Post-Hardcore-Quintetts La Dispute, welche als ein der musikalischen Speerspitzen der „Wave“, also jenen Bands aus Angry White Young Man, die in besonders emphatischem Schrei-Sprech (man darf’s auch gern mit dem englischen „Screamo“ benennen) und zu nicht selten derber GitarrenBassSchlagzeug-Begleitung ebenso persönliche wie gesellschaftliche und weltliche Schieflagen schonungslos offen leg(t)en und damit – sowohl in den USA als auch in Good Ol‘ Europe – auf immer größer werdenden Bühnen auf offene Ohren und Arme stießen. Und obwohl auch La Disputes Brüder im Geiste – es seien an dieser Stelle Bands wie Pianos Become The Teeth, Touché Amoré, Defeater oder Make Do And Mend genannt – mit ihren letzten Veröffentlichungen in Fankreisen, aber auch in den freilich stets etwas kritischer aufgelegten Gehörgängen der Musikjournalie punkten konnten, so war es doch „Wildlife„, der zweite, 2011 erschiene La Dispute-Langspieler, welcher besonders überraschte. Und das zurecht! Denn wer bei den 14 Stücken aufmerksam hinhörte, dem offenbarten sich ausgeklügelte Klangfassetten, welche eben nicht nur „eins, zwei, drei“ zum Sprung in den Moshpit anregten, sondern feinsinnig das untermalten, was ihr lyrisch versierter Frontmann so zu sagen hatte. Und zu sagen hatte Jordan Dreyer so einiges, mehr sogar: Ob nun in den ausschweifenden Albumhighlights „King Park“ oder „Edward Benz, 27 Times“ oder in anderen, gefühlt persönlicheren Stücken – als „Songs“ konnte man die Bestandteile von „Wildlife“ kaum mehr und nur im weitesten Sinne bezeichnen, viel eher waren dies vertonte, wortgewaltige Kurzgeschichten, in welchen sich Dreyer als spürnasiger Beobachter seiner Umwelt und emotionaler Adoleszent erwies, der sich in keinem Moment zu schade dafür schien, den musikalischen Scheinwerfer auf inakzeptable Missstände zu richten. Wer genau zuhörte, der musste wohl zwangsläufig mehr als ein Mal schwer schlucken. Und suchte danach nicht selten die „Repeat“-Taste…
Gut möglich also, dass La Dispute mit ihrem in wenigen Wochen erscheinenden dritten Album „Rooms Of The House
“ an dieses künstlerische Niveau anknüpfen werden. Denn obwohl die VISIONS bislang von einem „gewöhnungsbedürftigen“ Werk mit „sparsamer Produktion“ schreibt (für letztes zeichnete sich übrigens Produzent Will Yip verantwortlich, in dessen Vita sich artverwandte Formationen wie Title Fight, Polar Bear Club oder Circa Survive, aber auch Bands wie Keane oder streitbare Künstlerinnen wie Lauryn Hill befinden), ist auch der Nachfolger zu „Wildlife
“ ein Konzeptwerk geworden, in welchem Jordan Dreyer, nach seinen Blicken in die Schattenecken der Gesellschaft, mit gespitztem Stift nun über Weh und Wehen einer Beziehung schreibt. Und obwohl sich La Disputes Songlängen im Jahr 2014 deutlicher öfter als noch in der Vergangenheit am Riemen reißen (so durchbricht keines der elf neuen Stücke mehr die Fünf-Minuten-Marke), weiß man doch bereits vor Erscheinen: Die Band auch auf „Rooms Of The House“ alles andere als Post-Hardcore-Null-Acht-Fünfzehn-Hausmannskost servieren…
Nach „Stay Happy There“ haben La Dispute nun mit „For Mayor In Splitsville“ einen zweiten neuen Song von „Rooms Of The House“ veröffentlicht. Wo musikalisch Anklänge an den bereits 14 Jahre zurückliegenden Cursive-Meilenstein „Cursive’s Domestica
“ ins Bild treten, fokussiert sich das dazugehörige Musikvideo auf ein Paar kurz nach der Trennung, während Dreyer mal beschwörend ruhig, mal mit der gewohnten Schreihals-Emphase zum qualitativ hochwertigen lyrischen Rundumschlag ausholt. Man darf also zu recht gespannt auf den Rest von „Rooms Of the House“ sein…
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It’s funny what things come back
The first things you see
How he sort of smiled like it’s only a joke but he was lying
There was something else inside of his eyes
All those secrets people tell to little children
Are warnings that they give them
Like, “Look, I’m unhappy. Please don’t make the same mistake as me.”
Why are those old worn out jokes on married life told at toasts at receptions still?
How does it never occur how often couples get burned and end uncertain in Splitsville?
Funny what you think of in the wreckage, lying there in the dirt and the dust and the glass
How you’re suddenly somewhere, in the desert, in the nighttime, and it’s getting close to Christmas
And then her and that movie voice she uses when she reads,
“Welcome to the Land of Enchantment” from a highway sign
And it’s late so you take the next exit
When that trip ended we came back the rent was due I was jobless
I guess in retrospect I should’ve sensed decay
Then that day, how you said, “I just don’t know” and I promised
We’d rearrange things to fix the mess I’d made here
But I guess in the end we just moved furniture around…
But I guess in the end it sort of feels like every day it’s harder to stay happy where you are
There are all these ways to look through the fence into your neighbor’s yard
Why even risk it? It’s safer to stay distant
When it’s so hard now to just be content
Because there’s always something else
Now I’m proposing my own toast, composing my own joke for those married men
Maybe I’m miserable, I’d rather run for mayor in Splitsville than suffer your jokes again…
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Wer die Gelegenheit dazu hat, der kann – und sollte! – La Dispute während einer der kommenden Torneestopps besuchen:
27.04. München – Strom
28.04. Leipzig – Conne Island
29.04. Dresden – Beatpol
30.04. Köln – Palladium
01.05. Hamburg – Markthalle
02.05. Meerhout – Groezrock
03.05. Bochum – Matrix
04.05. Stuttgart – LKA Longhorn
05.05. Schweinfurt – Alter Stattbahnhof
06.05. Wiesbaden – Schlachthof
07.05. Trier – Exhaus
08.05. Hannover – Musikzentrum
09.05. Berlin – Postbahnhof
11.05. Wien – Flex
12.05. Genf – Usine
Rock and Roll.
Wie versprochen nun ANEWFRIENDs „Album des Jahres“, welches zwar bereits 2011 erschien und auch im letzten Jahr einen der vorderen Plätze in meinen Jahresbestenlisten belegte, jedoch erst in diesem Jahr so richtig „gezündet“ hat…
La Dispute – Wildlife (2011)
-erschienen bei No Sleep/Cargo-
Die Jugend ist eine aufregende, jedoch keinesfalls eine einfache Zeit. Dinge passieren – mit einem selbst, im eigenen Umfeld und auf der Welt – die man einfach nicht versteht. Wieso halten Lehrer wie Eltern einem scheinbar ständig Moralpredigten über die Wichtigkeit von Zeugnissen, Leistungen und gutem Benehmen, wenn doch ein aufregendes Leben fern von Schulbänken und Universitätshallen ein vielversprechenderes Licht wirft? Wieso ticken unscheinbare Menschen offensichtlich grundlos von einer Sekunde auf die andere aus und laufen blutig Amok? Wieso sterben Freunde, die noch nicht einmal ihren zwanzigsten Geburtstag feiern durften? Tausend Fragen, nicht genügend Antworten, endlos lange Sommer, und irgendwo am Horizont die dumpfe Vorahnung vom grauen Rattenrennen der Erwachsenenwelt…
Auch Jordan Dreyer macht sich so seine Gedanken über das Leben und das eigene Umfeld. Unser Glück: seit 2004 vertont er diese Gedanken, die scheinbar schneller von Hirn und Mund in seine Notizbücher wandern, als dass irgendjemand, geschweige denn er selbst, alles erfassen würde oder könnte, mit seiner Band La Dispute. Die aus Brad Vander Lugt, Chad Sterenberg, Kevin Whittemore und Adam Vass bestehende Instrumentalfraktion liefert den musikalischen Unterbau, welcher für sich allein genommen bereits interessant genug wäre, und der „Sänger“ Dreyer schleudert der stetig wachsenden Hörerschaft Zeile um Zeile, Geschichte um Geschichte entgegen. Und die haben es auf La Disputes 2011 erschienenen Zweitwerk „Wildlife“ durchaus in sich: eingefasst werden die einzelnen Geschichten in die Stücke „a Departure“, „a Letter“, „a Poem“ und „a Broken Jar“, welche Dreyers nicht selten tragischen Alltagsbeobachtungen immer wieder mit vermutlich persönlichen Bezügen in die Parade fahren. Anders könnte man all die tragischen Schicksale, die sich wohl in der Heimatstadt der Band, Grand Rapids/Michigan, ereigneten, jedoch in ihrer dramatischen Allgemeingültigkeit überall hätten passieren können, auch nicht aushalten. Da wäre das Krebsschicksal eines siebenjährigen Kindes in „I See Everything“, welches die Eltern anhand von kurzen Tagebucheinträgen dokumentieren, familiärer Mord und Totschlag in „Edward Benz, 27 Times“, der ebenso dramatische wie hollywoodreife blutige Amoklauf eines jungen Mannes in „King Park“. Und dazwischen: tristes Einheitsgrau, wenig Liebe, wenig Hoffnung, noch weniger Perspektiven. Dreyer zweifelt, bangt, schreibt gar von ewig schrumpfenden Herzen („all our bruised bodies and the whole heart shrinks“). Dreyer beobachtet, analysiert blitzschnell, hinterfragt, urteilt jedoch selten – das überlässt er den Ohren und Köpfen seiner Hörer. Denn viel Sinn macht es tatsächlich nicht, wenn Unbeteiligte in Tragödien hineingerissen werden, wenn Kinder Krankenhausflure besser kennen als Spielplätze, wenn guten Menschen weniger Liebe zuteil wird als schlechten. Dass der Hörer nach 58 – zumindest lyrisch – wahnwitzig harten Minuten „Wildlife“ nicht erschrocken zur Seite legt, sondern den Finger schlagartig in Richtung der Repeat-Taste bewegt, liegt auch an den beiden letzten Songs, „all our bruised bodies…“ und „You and I in Unison“: der Sänger versichert allen, die ähnlich fühlen wie er: ihr seid nicht allein. „Tell me what your worst fears are. I bet they look a lot like mine. / Tell me what you think about when you can’t fall asleep at night. / Tell me that you’re struggling. Tell me that you’re scared. No, Tell me that you’re terrified of life. / Tell me that it’s difficult to not think of death sometimes. / Tell me how you lost. / Tell me how he left. Tell me how she left. / Tell me how you lost everything that you had. / Tell me that it isn’t ever coming back. / Tell me about God. Tell me about love. / Tell me that it’s all of the above. / Say you think of everything in fear. / I bet you’re not the only one does.“
Es geht ein Ruck durch die Jugend, eine, die sich sehr wohl Gedanken um eine Zukunft fernab von „Generation No Future“ macht, die politische wie gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen ängstigen, die sich bewusst ist, welche Kraft die 99,9 Prozent haben. Und Dreyer verspricht zum Schluss: „Until I die I will sing our names in unison.“ Doch La Dispute sind keinesfalls eine Einzelerscheinung. Bereits seit einiger Zeit tun es ihnen Bands wie Pianos Become The Teeth, Touché Amoré, Defeater oder Make Do And Mend gleich – bleiche junge Männer, die harte, gitarrengetriebene Musik spielen und sich in den Texten Gedanken über das Leben und Erwachsenwerden machen. Traurige, wilde Augen, Hornbrillen, Grunge-Enzyklopädien und die kompletten Diskographien von Bands wie Fugazi oder At The Drive-In. Von der Musikpresse wurden diese Gruppen, die auch schon mal gern gemeinsam auf Tournee gehen, kurz wie knapp unter das Banner der „The Wave“-Bewegung gesteckt. Doch wo die anderen Bands fast durchgängig mit zwei Beinen fest im modernen Hardcore stehen, lassen La Dispute wie bereits auf dem 2008 erschienenen Vorgänger „Somewhere At The Bottom Of The River Between Vega And Altair“ auch kleinere Experimente zur Studiotür hinein, lassen Akustikgitarren zu, ebenso wie Rhythmus- und Perkussionswechsel, spielen lieber melodische Gitarrenlinien und schnelle Blues-Solos, anstatt beständig hart Riff um Riff in die Bänder zu hacken. Jordan Dreyer gestaltet dazu seine Wortsalven mal bedächtig langsam, mal so schnell und laut, dass man kaum hinterherkommt, und auch seine Stimme geht an ihre Grenzen.
Natürlich ist „Wildlife“ kein einfacher Tobak. Es ist ein Werk von großer Relevanz, eben weil diese Geschichten so bewegend, wahr und universell sind, eben weil sich Geschichten wie in „King Park“ leider immer und immer wieder wiederholen (man denke nur an das Massaker vom 14. Dezember im kleinen US-Städtchen Newtown), eben weil Dreyer ein so brillianter Beobachter und Songwriter ist, eben weil seine Bandkollegen das musikalische Drumherum so groß gestalten. „Wildlife“ ist eine wahre Tour der Force, ein betongrauer Roadtrip in 14 Akten, eines der besten Konzeptalben seit Langem. „Wildlife“ legt die salzigen Finger in eben jene Wunden, welche ohnehin bereits am meisten wehtuen. Und es ist trotzdem schön. Denn „Wildlife“ feiert das Leben, indem es zweimal hinsieht.
Hier kann man sich das Album in Gänze anhören (es ist wie alle anderen Veröffentlichungen der Band über deren Bandcamp-Seite abrufbar)…
…und hier einen während der „Audiotree Live Session“ aufgenommenen Mitschnitt des Songs „Edward Benz, 27 Times“ anschauen:
Rock and Roll.