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Mein Senf: Das Märchen vom Milchzahn und dem Talent – „The Voice Kids“ und die schöne neue Castingwelt…


The Voice Kids

Damals, in den neunziger Jahren, als ich selbst noch ein Kind war und die Welt nach der bundesdeutschen Wiedervereinigung so verheißungsvoll konsumgeil groß roch, gab es auf dem – erneut: damals! – noch recht jungen Privatsender „RTL plus“ ein Format namens „Mini Playback Show“. Holland-Export-Moderatorin Marijke Amado empfing höchst Halbwüchsige, um diese samt Kostüm und bis zum Hals pochendem Herzen durch die „Zaubertür“ auf eine bunte Bühne zu schicken, wo sie sich erst Playback singend und als ihr derzeitiges großes Idol verkleidet zum infantilen Horst machten und danach von einer wechselnd besetzten Jury mit warmen Worten wie „Ich bin dein größter Fan!“, „Klasse!“ oder „Du bist viel besser als das Original, das muss sich nun warm anziehen!“ ins Off verabschiedet wurden. Cher, Madonna, Prince, Michael Jackson, Boy George, Modern Talking oder Stefanie Hertel im Milchzahnlücken-Mini-Format – aus heutiger Sicht natürlich seltsam amateurhaft drittsendermäßig und fremdschämquietschbunt nostalgisch…

Mini Playback Show

In der Jetztzeit-Leistungsgesellschaft, in der beinahe jeder Erstklässler zwar nachts noch Gefahr läuft, das Kinderbettchen zu besudeln, dafür jedoch erstklassig mit dem neusten – und natürlich: eigenen! – iPhone hantieren und dauersimsen kann, machen solch‘ gestrige Formate freilich längst nicht mehr an. Star-Momentaufnahmen wie Justin „kreisch“ Bieber mögen zwar selbst erst Jahrgang 1994 sein, können jedoch schon auf Millionen von Youtube-Klicks (Ja, so wird heutzutage musikalischer „Erfolg“ gemessen – bei Plattenverkäufen schielt die Marginalität eh längst auf die Stellen nach dem Komma…), ein eigenes Affen-Trauma  (sowas dauerte bei einem wie Michael Jackson zumindest bis zur fast finalen Pigmentstörung), Nadelverzierungen auf der Haut und eine gestohlene Kindheit (freilich längst in Dutzenden von Biografien dokumentiert!) zurückblicken… Und was macht die ihrerseits ebenfalls hinlänglich auf öffentlichen Erfolg getrimmte Elternschar? Klar, schickt den ach so talentierten Nachwuchs auf die Privatsender-Castingbühne! So weit, so bekannt – immerhin bevölkern Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“, „Popstars“ oder „X Factor“ bereits seit Jahren die TV-Landschaft. Doch wo momentan bei Shows mit althergebrachten Herangehensweisen  – meint: vermeintliches Talent betritt die Casting-Bühne, wird von den (semi-)fachkundigen Juroren hinsichtlich Aussehen, Vermarktungschancen und gesanglichen Qualitäten innerhalb weniger Augenblicke gemustert und darf dann – man erinnere sich hier an die Arenenkämpfe vor römischen Imperatoren – wahlweise auf einen erhobenen Daumen hoffen oder vor gesenkten Gliedmaßen bangen. Hop oder Top, Recall oder Ein-Minuten-Ruhm. – die Quoten einbrechen, stach in den letzten Sendejahren vor allem eine Sendung positiv heraus: „The Voice of Germany„. Klar, wie bei fast alle Sendungen war auch dieses Konzept aus dem ausländischen Unterhaltungsraum – genauer: den Niederlanden – eingekauft, und doch war hier etwas anders –  ja, beinahe: erfreulich frisch! Denn die Jury, welche bei der deutschen Ausgabe aus Reamonn-Oberflächenrocker Rea Garvey, der Soulschnulzinstitution Xavier Naidoo, Pop-Luftballon-Oma Nena und der Münchner Antwort auf Truck Stop, The BossHoss, bestand, durfte bei den sogenannten „Blind Auditions“ die Kandidaten nicht sehen, und konnte, mit dem Rücken zur Bühne sitzend, nur aufgrund von deren Stimme eine Hop-oder-Top-Entscheidung treffen. Erst nachdem einer von ihnen den entscheidenden „Buzzer“ gedrückt hatte, drehte sich der Stuhl und man bekam den Gesangsbewerber/die Gesangbewerberin tatsächlich zu Gesicht. In den nächsten Runden müssen dann die Juroren mit ihren gewählten Teams in sogenannten „Battles“ im Wettstreit um den Sieg gegeneinander antreten… So weit, so innovativ. Und trotzdem fristen auch die „The Voice of Germany“-Gewinner der letzten beiden Staffeln, Ivy Quainoo und Nick Howard, ein marginales Dasein am Rand der popmusikalischen Aufmerksamkeit, und dürfen wohl – leider – demnächst Baumarkteröffnungen mit ihren Stimmen veredeln. Für den finalen – und dauerhaften! – Erfolg im Musikgeschäft braucht’s eben heutzutage mehr als „nur“ Talent, Glück, Timing und eine Menge Eier…

Wehland, Meyer-Landrut, Bendzko

Und da die potentielle Zielgruppe der kaufwilligen Musikhörerschicht immer jünger wird (der fähige, böse Rest setzt ja auf Saugen und Streamen!), hat sich Sat.1, der ausführende „The Voice“-Sender, dazu entschlossen, „The Voice Kids“ ins Rennen um Gespräche und Quote zu schicken. Ihr ahnt es wohl bereits: es wird milchzähnig süß! Und so huschen in den „Blind Auditions“ der ersten Staffel denn auch pausbäckige Kiddies zwischen acht und vierzehn Jahren auf die Bühne, um die aus Liedermacher Tim „Nur noch kurz die Welt retten“ Bendzko, Henning „H-Blockx“ Wehland und Lena „Eurovision ‚Satellite'“ Meyer-Landrut bestehende Jury zu überzeugen. Das Gute: wo bei älteren Bewerbern oft unsympathische Affektiertheit, übersteigerte Erwartungshaltungen und offen zur Schau gestellte Dämlichkeit schnell zu nerven beginnen, stellen sich diese zahnspangigen Dreikäsehochs meist einfach auf die Bühne und – jawoll! – liefern ab. Und das: höchst ordentlich, erstaunlich reif, und nicht selten unglaublich talentiert – kein Wunder, dass es die Juroren da, ob dieser vermeintlichen „Rohdiamanten“ jeglicher Couleur und Klangfarbe, in beinahe in jeder zweiten Minute kaum auf ihren Stühlen hält. Doch wo Bendzko fast immer den grundsympathisch lächelnden Schweiger gibt und Wehland den professionellen elder statesman des Musikbusiness, der sich auf fast zwanzig Jahre Erfahrung berufen kann, lässt Madame Meyer-Landrut auch hier beinahe alle letzten Pluspunkte fahren, die ihr ob des vor drei Jahren erworbenen „Grand Prix de la“… sorry: „Eurovision Song Contest“-Ruhms noch anhaften, und gibt sich auch inmitten von „The Voice Kids“ so, wie man es befürchten durfte: gespielt grinsend, seltsam affektiert, professionell wie eine „alte Showbiz-Größe“ und aufgedreht wie ein Bulldoggenwelpe mit versehentlicher Koksüberdosis. Sie springt, sie bangt, sie heult, sie äfft – während sich ihre Sympathiewerte bestätig auf dem Gefrierpunkt einpegeln. Da mag man beinahe die Kinderkandidaten aufgrund von deren Fähigkeit, das Mienenspiel der niedersächsischen Hipster-Zicke mit juveniler Unschuld beiseite zu wischen, beneiden…

Und doch bringt auch die deutsche Kinder-Ausgabe von „The Voice“ – allen gewohnt emotional tumben Einspielern und niedlichen Kuschelorgien zum Trotz – viel frischen Wind mit sich. Da können – und müssen, insofern man im schnelllebigen Senderdschungel nicht beizeiten geskippt werden möchte – sich andere Formate wie „DSDS“, deren Jury in der aktuellen zehnten Staffel aus Dieter „und sie nannten ihn: ‚Poptitan'“ Bohlen und… – ja wem eigentlich? – besteht, definitiv eine Vorbildsscheibe von abschneiden! Allerdings „kackt die Ente“ – bekanntlich – „erst am Ende“, und auch bei diesem Format (also: „The Voice Kids“) darf angezweifelt werden, ob das potentiell unverdorbene  Siegertalent in ein paar Jahren noch auf dem Bildschirm – oder in den Plattenregalen, wo es denn eigentlich hinwill – anzutreffen ist. Oder dann mit anderen armen F-Promi-Schweinen im australischen Dschungel ein gefilmtes Känguruhodenwettessen bestreitet. Oder Baumärkte einweiht. Oder sich mit Justin Bieber im Trauerpunkt „versauteste Kindheit“ messen darf. Denn bis zu den letzten Karriereleiterstufen braucht’s Haare auf den Zähnen. Und – fragt nur Oliver „ZDF-Motivator“ Kahn! – einiges an Eiern. Schöne neue Castingwelt – und die grellbunte Unschuld einer „Mini Playback Show“, sie scheint meilenweit entfernt…

 

In diesem Beitrag der Pro Sieben-Sendung „taff“ gibt’s einen kleinen Einblick in die ersten Folgen von „The Voice Kids“:

 

 

Rock and Roll.

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