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Das Album der Woche


Sophie Hunger – The Rules Of Fire (2013)

Sophie Hunger - The Rules Of Fire (Cover)-erschienen bei Two Gentlemen Records/Rough Trade-

„Akzeptiere, dass Du nie Jesus oder Leonardo Da Vinci sein wirst! Rechtfertige Dich nie für Deine Arbeit! Denk immer daran, dass Charlie Chaplin ein großartiger Geschäftsmann war und Bob Dylan so aussehen wollte wie er. Versuch niemals zu gefallen! Geh nie mit einem Drink auf die Bühne!“  Oha! Willkommen in der Dogmenschreinerei?

Keine Angst, so weit kommt’s bei Sophie Hunger noch lange, lange nicht! Denn wer die 30-jährige Schweizer Musikerin – besser: ihre Alben und Songs – kennt, der weiß, dass diese Grenzen nur die äußere Hülle berühren. Und doch hat die aus Bern stammende Emilie Jeanne-Sophie Welti, die sich damals, 2006, zu Zeiten der Veröffentlichung ihres ersten Soloalbums „Sketches On Sea„, den Künstlernamen „Sophie Hunger“, zusammengesetzt aus ihren zweiten Vornamen sowie dem Geburtsnamen ihrer Mutter, verlieh, ihr erstes offizielles Livealbum ausgerechnet „The Rules Of Fire“ getauft. Was es mit dem Titel auf sich hat, erklärt die Künstlerin denn auch im begleitenden 60-minütigen Dokufilm des französischen Regisseurs Jeremiah, der Hunger hierfür auf ihrer zurückliegenden Tournee begleitetet, selbst: Zehn Regeln für den Künstler. Zehn Regeln zur Wahrung der Würde und Freiheit. Der Rest? Ist Intuition, ist wandelbar…

Sophie Hunger (Augustin Rebetez)

Dabei weiß Sophie Hunger, ihres noch recht jungen Alters zum Trotz, wovon sie spricht. Bereits seit ihrer Jugend macht die Schweizerin, die als Tochter eines Diplomaten nicht selten Länder und Wohnorte wechseln musste, Musik, spielt anfangs in Bands, kollaborierte mit so einigen Künstlern (etwa mit der Schwytzerdütsch-Rapperin Big Zis, dem französischen Jazztrompeter Erik Truffaz oder jüngst mit dem Ex-Freundeskreis’ler Max Herre), verfolgte ansonsten stringent ihre Solokarriere – und sorgte gar als Schauspielerin und Filmmusikkomponistin – wenn auch in kleinerem Rahmen – für Aufsehen (im Zuge der Indie-Produktionen „Der Freund“ und „Der Fremde“). Schon ihr zweites, 2008 erschienenes Album „Monday’s Ghost“ bot einen Großteil der Eigenarten und Faszinationen auf, die Hunger noch heute ausmachen: brillante Dramaturgien zwischen zuckersüßen, süchtig machenden Melodien, kleinen Experimenten und schwermütigen Ernsthaftigkeiten. Die Musikerin legte damit einen Senkrechtstart ins Bühnenlicht der breiten Öffentlichkeit hin, die sich mehr als einmal verwundert die Augen reiben durfte ob der Tatsache, dass eine so weltgewandte und uneitle Person ausgerechnet aus der sonst so kleinlauten und neutralen Schweiz kommen sollte (erinnert sich wer an DJ Bobo?). Bereits zwei Jahre darauf legte Hunger mit „1983“ den nächsten Albumstreich nach, der noch reifer, noch formvollendeter, noch toller, verspielter und ernsthafter ums Eck lugte. Wer Zweifel hegte, der durfte besonders beim absolut zeitgeistig ausformulierten Titelstück oder dem grandiosen Noir Désir-Cover „Le vent nous potera“ (ANEWFRIEND schrieb hier bereits darüber) eines Besseren belehrt werden. Die Qualität blieb denn auch im Ausland nicht verborgen. So waren Sophie Hunger und Band 2010 die erste (!) Schweizer Kombi auf der Bühne des altehrwürdigen Glastonbury Festivals, während man andererseits auch ausverkaufte Ränge beim trés sophistiqué Montreux Jazz Festival oder dem legendären Paris Klub „Cigale“ bespielte. Die Musikerin konnte das, durfte das, denn ihr Mix aus Singer/Songwritertum, Jazz, Pop, Blues und Rock gab es her. Und dennoch schlug sie im vergangenen Jahr mit ihrem bislang letzten Studioalbum „The Danger Of Light“ wieder in eine andere stilistische Kerbe. Mehr den je hieß die Losung des irgendwo zwischen Los Angeles, Montreal und der heimatlichen Schweiz aufgenommenen Songverbunds, auf welchem unter anderem auch der virtuose Red Hot Chili Peppers-Gitarrist Josh Klinghoffer zu hören ist: „Alles kann, nichts muss“. Mal melancholisch, mal bedrohlich, mal beschwingt und mal weltweise – Sophie Hunger wechselte und wechselt Stimmungen wie die Sprachen, in denen sie singt. Und bereits da hat sie von Englisch über Französisch bis zu Deutsch und Schwytzerdütschen Mundarten so Einiges in petto…

Foto: © Marco Zanoni, 2007

Foto: © Marco Zanoni, 2007

Nun also zieht Sophie Hunger nach vier Alben Revue. Dabei teilt sich „The Rules Of Fire“ in zwei Seiten: „The Live“ mit zwölf Favoriten aus ihrem Liverepertoire einerseits, „The Archives“ mit elf Raritäten, unveröffentlichten und frühen Stücken andererseits. Am Ende der über 90 Minuten bleibt unterm Strich wohl Hungers größte Stärke hängen, denn wenngleich ihre Studioalben schon eine Menge Virtuosität, Talent und Hintergründigkeit versprühen – auf der Bühne wird all das noch um ein Vielfaches intensiver. Klar sind es auch hier die Albumfavoriten, die herausragen. Über das clevere „Das Neue“ („Dreißig ist das neue Zwanzig / Der Mann ist die neue Frau / Freiheit ist das neue Gefängnis / Und reich ist das neue Schlau / Islam ist die neue katholische Kirche / Und Deutschland die neue Türkei /…/ Zuckerberg ist der neue Kolumbus / Der Bankmann die neue Aristokratie / Gesundheit ein neuer Exorzismus / Et la fatigue c’est la nouvelle follie / Nichtraucher sind die neuen Raucher / Alte fühlen sich neu, immer jünger / Intelektuelle sind neu völlig unbrauchbar / Frei zum bestehlen ist neu,  Sophie Hunger“) könnten sowohl Philosophie- als auch Germanistikstudent ganze Abhandlungen schreiben. Die noch immer großartig apokalyptische Zäsur „1983“ trägt die Musikerin auch hier mit einer Menge Intensität vor – und stellt ihr wohl nicht eben zufällig das beschwingte „LikeLikeLike“ nach. Denn obwohl auch im Bühnengewand von „The Rules Of Fire“ die akustisch reduzierten Instrumente wie Gitarre, Piano oder Upright Bass dominieren, wird schon mal die Posaune losgelassen („Souldier“), setzt das Piano zu einem kurzen Hechtsprungversuch in Richtung Freejazz an („Das Neue“), setzten E-Gitarrensoli kurze, prägnante – und wichtige! – Akzente („Citylights Forever“, „My Oh My“), bei denen sich denn auch Hunger kurze Pausen gönnt. An den Enden der jeweiligen Seiten stehen dann die Stimmen für sich: im schwytzerdütschen – genauer: berndeutschem – „Z’Lied vor Freiheitsstatue“ träumt die Künstlerin zu Gesangsharmonien von der großen weiten Welt, während sie im Gedicht „A Letter To Madonna“ der einstigen „Queen Of Pop“ boshaft augenzwinkernd all ihre Übelkeit ins Gesicht schreibt „I don’t like how you speak to yourself when you speak to someone else. Dear Madonna, changing your clothes every day does not make you special – it just makes you change your clothes a lot…“. Klasse, wem Klasse berührt…

Sophie Hunger (Augustin Rebetez)

The Rules Of Fire“ bietet in Kombination mit dem Dokufilm und dem 48-seitigen Bild- und Wortband einen gelungenen Einblick ins bisherige Schaffen der Schweizer Musikerin. Dabei sind Hungers Songs weltweise, ohne zu belehren (wie schrieb das SRF so schön: „Hungers Texte tragen Frage-, eine Ausrufezeichen“), sind nachdenklich, ohne in unnötig dunkle Gefilde zu verschwinden, sind virtuos, feinsinnig und luftig, jedoch nie gekünstelt oder gar künstlich. Denn bei allem Weltbürgertum hat sich Sophie Hunger noch immer ihre Bodenständigkeit bewahrt, nimmt zwar ihre Musik ernst, sich selbst jedoch nicht – Ironie, Authentizität und die gewisse nötige Prise Anarchie müssen sich schließlich keinesfalls ausschließen. Man darf Vergleiche wie den des „größten Schweizer Exports“ oder den der „Poplyrik in vier Sprachen für emanzipierte Bob Dylan-Freunde“ getrost ad acta legen, denn Sophie Hunger hat längst mehr als das zu bieten. „Never try to please!“ Gefallen, ohne gefallen zu wollen? Wenn’s dann noch gut geht – reife Leistung…

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Hier gibt’s einen kurzen Trailer zum begleitendenden Dokufilm…

 

…sowie die Musikvideos der jüngsten – und meines Erachtens höchst gelungenen – Zusammenarbeit mit Max Heere in Form des Stückes „Fremde“…

 

…zu „LikLikeLike“, in welchem Miss Hunger fussballkickend wie einstweilen David Beckham durch Paris spaziert…

 

…und dessen filmischer Fortsetzung „Souldier“ (bei beiden Videos führte übrigens der Doku-Verantwortliche Jeremiah ebenfalls Regie):

 

Außerdem findet ihr hier Sophie Hungers Interpretation des Noir Désir-Evergreens „Le vent nous portera“…

 

…und ihr komplettes Gastspiel beim diesjährigen „Haldern Pop“-Festival:

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Song des Tages: Noir Désir / Sophie Hunger – „Le vent nous portera“


Sophie Hunger- Le vent nous portera

Noir Désir dunkles Verlangen. Wäre das nicht ein wenig over the top pathetisch, könnte man meinen, der Name seiner Gruppe wäre für den französischen Sänger Bertrand Cantat zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden…

Wobei: geworden? Schon immer umwehte die in den frühen Achtziger Jahren in Bordeuax gegründete Band ein melancholisch-düsterer Nebel – auf den Anfangsalben, welche Punkrock mit französischem Einschlag boten, ebenso, wie während ihrer Bühnenauftritte. Doch erst mit dem 2001 erschienen Album „Des Visages Des Figures“ verdichteten Noir Désir ihren Bandsound zu einem dunkel schimmernden Amalgam, welches Einflüsse aus Alternative Rock, Jazz, Folk und Weltmusik einbezog und  für einen musikalischen Wimpernschlag von 68 Minuten Frankreich zur gefühlten heimlichen Weltmusikhauptstadt machte. Und zu kaum einer Band passen wohl folgende unheimliche Fakten besser als zu Noir DésirDes Visages Des Figures (Cover)

Fakt eins: Ausgerechnet jenes Album, das mit inwendigen Angsthymnen wie „L’Appartement“ oder „L’Europe“ nicht eben Zuversicht auf die Zukunft bereitete, erschien am 11. September 2001 (!) – und mögen auch vermeintlich findige Fernsehjournalisten Enya als Tröster-Heulboje für passabel gehalten haben, DAS HIER, „Des Visages Des Figures„, ist der wahre Soundtrack zu einem der memorabelsten Tage der jüngeren Menschheitsgeschichte! Neben Radioheads „Kid A“ und „Amnesiac“. So man so etwas denn braucht. Zumindest für mich.

Fakt zwei: Im Juli 2003 verprügelte Bertrand Cantat seine damalige Freundin, die aufstrebende französische Schauspielerin Marie Trintignant, nach einem Streit in einem Hotel in der litauischen Hauptstadt Vilnius so stark, dass diese ins Koma fiel und nicht mehr daraus erwachte. 2004 wurde er zu acht Jahren wegen Totschlags verurteilt, kam jedoch nach dreieinhalb Jahren wegen guter Führung wieder frei. Und doch kam Cantat, der bisher als schüchtern und zurückhaltend gegolten hatte, nach all dem nie wieder auf die Beine. Ebenso wie Noir Désir, die mit dem Nummer-Eins-Album „Des Visages Des Figures“ (in Frankreich und Belgien) den Durchbruch geschafft zu haben schienen. Nach einem versuchten Neustart verließ Gitarrist und Gründungsmitglied Serge Teyssot-Gay „wegen persönlicher und musikalischer Differenzen mit Bertrand Cantat“ die Band, die verbliebenen drei Mitglieder gaben wenig später die Auflösung von Noir Désir bekannt.

Noir Désir - Le vent nous portera

Was bleibt, ist dieses Album: „Des Visages Des Figures“, das auch nach über zehn Jahren zu gleichen Teilen – und beinahe in beängstigendem Maße – so abstoßend wie anziehend wirkt. So, als hätten die zwölf Stücke schon in der Zeit ihrer Entstehung all die dunklen Schatten der Zukunft in sich getragen. Und auch nach all den Jahren, die mich das wohl beste Stück des Albums, „Le vent nous portera“, nun schon begleitet, geht mir der Song, bei welchem übrigens ein gewisser Manu Chao an der Gitarre zu hören ist, noch immer zu Herzen. Wegen dem Text (eine deutsche Übersetzung findet ihr nachstehend). Wegen der Musik. Wegen der Band. Wegen all der Dinge und Geschichten, die sich um die Noten und Zeilen und die Zeit ranken…

Nur zu gut, dass die von mir höchst geschätzte schweizer Musikern Sophie Hunger 2010 beschloss, das Stück für ihr Album „1983“ zu covern. Ihre Interpretation steht dem Original dabei in nichts nach, fügt der Noir Désir-Version mit melancholisch-ruhigen, angejazzten Grundtönen und einer einsam und groß aufspielenden Trompete sogar noch neue Aspekte hinzu. Tolle Frau. Tolles Lied. Ewig großes Lieblingsstück.

 

Weil der Wind uns tragen wird

Ich hab‘ keine Angst vor dem Weg,
Weil ich ihn sehen will, ihn auskosten will,
Jede Biegung, jede Windung, bis es gut ist,
Weil der Wind uns tragen wird

So wie all‘ das, was du den Sternen sagen würdest, 
Wie der Lauf der Dinge, 
Wie die Zärtlichkeit und der Schlag, 
Wie anderer Tage Paläste, von gestern, von morgen

Ein flüchtiger Eindruck wie aus Samt,
Und dann kommt der Wind und trägt alles davon

Unser Erbgut, unsere Gene nimmt er,
Trägt sie in die Luft, in die Atmosphäre,
In die Galaxie, wie ein fliegender Teppich,
Der Duft der Jahre davor und all‘ das, was Einlass verlangt an deiner Tür,
Diese Unendlichkeit von Schicksalen, wovon man eines lebt,
Und was bleibt von all‘ dem zurück?

Eine Flut, die beständig steigt,
Eine Erinnerung, die jeder ab und zu hat, im Herzen des Schattens,
Der vor mir bleibt, 
Nehme ich mit mir die Spur, die von dir bleibt

Bis der Wind alles davonträgt

 

Hier Sophie Hungers Version in einem Livemitschnitt…

 

…und hier zum Vergleich das Original von Noir Désir:

 

Natürlich sind neben dem monumental-abgründigen Noir Désir-Werk „Des Visages Des Figures“ und dem bereits erwähnten Sophie Hunger-Album „1983“ (auf welchem die Coverversion zu finden ist) auch die letzten Alben der begabten Schweizerin, „Monday’s Ghost“ von 2008 und das im letzten Jahr erschienene „The Danger Of Light„, auf welchem unter anderem der derzeitige Red Hot Chili Peppers-Gitarrist und Josh Frusciante-Schüler Josh Klinghoffer zu hören ist, sehr und uneingeschränkt zu empfehlen.

Hier drei weitere Stücke von Sophie Hunger, welche, wie „Le vent nous portera“ auch, während der „1983 – Now…live“-Session aufgenommen wurden:

 

 

Rock and Roll.

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