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Das Album der Woche


Iggy Pop – Every Loser (2023)

-erschienen bei Atlantic/Warner-

„Sorry, geänderte Wagenreihung“, bekommt Nico Rosberg von einem oberkörperfreien Senioren mit breitem US-amerikanischem Akzent zu hören, der auf seinem ICE-Platz sitzt. James Newell „Jim“ Osterberg aka. Iggy Pop als Werbefigur für die Deutsche Bahn? Überraschte anno 2018 höchstens diejenigen, die sich Anfang der Siebziger haben einfrieren lassen. Die Jazz-Ausflüge konnte man zwar bereits auf „Fun House“ erahnen, aber auch sonst schlug der einstige Stooges-Frontmann in seiner fast fünf Dekaden umspannenden Karriere als Solo-Musiker, Schauspieler und sowieso dauerarschcoolsympathische Persona so manche unerwartete Richtung bis hin zu Chanson-Fingerübungen ein. Und weil ihn oberflächliche Sellout-Vorwürfe genauso wenig wie alles andere jucken, konnte er für sein 19. Solo-Album auch den vierzig Jahre jüngeren, mit Arbeiten für Justin Bieber, Ed Sheeran, Miley Cyrus oder unlängst Pearl Jam erfolgreichen Produzenten Andrew Watt engagieren, ohne auch nur im Geringsten mit der Punk-Rock-Wimper zu zucken. Doch Pop hat natürlich nicht plötzlich Bock auf Pop (sic!), sondern will nach den sedierten Vergänglichkeitsreflexionen von „Free„, 2019 erschienen und von Jazztrompeter Leron Thomas produziert, im Gegenteil mal wieder richtig losrocken – dass er selbigen Rock mit Leichtigkeit aus der ledrigen Westentaschen zu schütteln vermag hatte der 75-Jährige ja ohnehin bereits 2016 beim einerseits feinen, andererseits jedoch auch nach verwehter Abschiedsstimmung duftenden „Post Pop Depression„, für welches ihm unter anderem Josh Homme von den Queens Of The Stone Age sowie Mark Helders von den Artic Monkeys unter die nimmermüden Arme griffen, unter Beweis gestellt. Und benannter Andrew Watt hat schließlich auch Leute wie Ozzy Osbourne oder Eddie Vedder im Portfolio stehen und kuratiert für „Every Loser“ daher eine verdammt namhafte Truppe, welche mit Stone Gossard (Pearl Jam) oder Dave Navarro (Jane’s Addiction) an den Gitarren, die Bassisten Duff McKagan (Guns N‘ Roses) und Eric Avery (Jane’s Addiction) sowie Chad Smith (Red Hot Chili Peppers), Travis Barker (blink-182) und dem inzwischen verstorbenen Taylor Hawkins (Foo Fighters) am Schlagzeug nicht eben ins unterste Qualitätsregalfach greift, die dem „Godfather of Punk“ seinen Wunsch erfüllen.

So spuckt gleich das eröffnende „Frenzy“ über jaulenden Saiten und brachialem Rhythmus so mit verbaler Säure um sich, dass Idles und all die anderen Bands der aktuellsten Punk-Revival-Welle erst einmal durchs Familienbuch blättern müssen. Tatsache: Iggy Pop singt nicht nur von seinem Gemächt, sondern haut hier mal eben den wohl brachialsten eigenen Song der vergangenen zwei Jahrzehnte raus: „Got a dick and two balls / That’s more than you all“. Für „Strung Out Johnny“ packt das Punk-Rock-Urgestein im Anschluss seinen gravitätischsten Bariton aus, erinnert mal wieder an seinen alten Weggefährten David Bowie und kommt auch mit diesem eleganteren Stück Synth-Rock, diesem postmodernes “Gimme Danger”, geradlinig auf den Punkt. Auf „Every Loser“ werden keine Dylan-Thomas-Gedichte rezitiert oder Houellebecq-Romane als Inspirationsstoff verschreddert, das Mission Statement des Künstlers war ein ganz simples: „The music will beat the shit out of you. I’m the guy with no shirt who rocks.“ Und mit dieser Erkenntnis schlittert der passionierte Oben-ohne-Träger, der mit seiner Frau Nina Alu seit fast 25 Jahren in Coconut Grove, einem Vorort von Miami, lebt und auch ein bescheidenes Domizil in der Karibik sein Eigen nennt, hochmotiviert und kampflustig in den mindestens drölften Frühling einer Karriere, die zwar zig Haken und Wendungen, jedoch nie wirklich Herbstlaub gesehen hat.

„Ich war oben, ich war ganz tief unten in der Gosse, und ich habe bis heute diesen Alptraum, dass ich barfuß und mit nur einem einzigen zerknitterten Dollarschein in der Tasche durch eine mir fremde Stadt laufe. Was immer auch geschehen ist oder noch geschehen wird – ich werde niemals aufhören, mich als Underdog zu fühlen.“ (Iggy Pop)

Was nicht zuletzt daran liegt, dass die Platte, wie bereits im Eingangsdoppel zum Ausdruck gebracht, keinesfalls einseitig Backpfeifen verteilt. Stattdessen lässt der 75-jährige Hanspop in allen Gassen eine altersgemäß getragene Akustikballade wie „Morning Show“ am Hardcore-Kurzschluss „Neo Punk“, der blauhaarige Poppunks, die weder singen können noch ohne Viagra einen hochkriegen, in die imaginäre Tonne pfeffert, zerschellen, während er sich athletisch durch die Stimmlagen wieselt. Das wavige Highlight „Comments“ wartet nicht nur mit einem sich unmittelbar in den Gehörgang fräsenden Refrain auf, sondern auch mit einer rüden Attacke wider die vermeintlichen Segnungen des Internets sowie einer geexten Pulle Selbstironie, die das immer wieder mit Kommerz und Biedermeier flirtende Image aufs Korn nimmt: „Sell your face to Hollywood / They’re paying good, paying good / Sold my face to Hollywood / I’m feeling good, looking good.“ Ist das schon Grandad-Rock? Wenn dieser immer mit so viel Spielwitz, Augenzwinkern und Abwechslungsreichtum daherkommt: gerne mehr davon! Selbst wenn good ol‘ Iggy, der unter anderem an Skoliose, einer Wirbelsäulenerkrankung, leidet, es aufgrund altersbedingter Wehwehchen mittlerweile etwas ruhiger angehen lässt: „Ich habe mich vom Stagediving verabschiedet, mische mich zwar bei Shows immer noch gern unter die Leute, aber das mit dem Springen lasse ich sein. Ich bin ja nicht bescheuert. Es ist einfach zu gefährlich für meinen gebrechlicher werdenden Körper. Ich bin schon froh, dass ich überhaupt noch laufen kann.“ Wohl wahr, der „alte weiße Mann“ kann sich nach all den Drogenexzessen sowie (s)einem grundlegend ausufernden Lebenswandel in den Siebzigern glücklich schätzen, überhaupt noch unter den Diesseitigen zu weilen.

Foto: Promo / Vincent Guignet

Dass das Album seinem Ansatz geschuldet ein paar Tiefenschichten vermissen lässt und nicht ganz an Pops größte Meisterwerke herankommt, ist ein komplett zu vernachlässigender Nicht-Kritikpunkt, wenn Songs wie „Modern Day Rip Off“, quasi „Frenzy“ Teil 2, das auch den Asheton-Brüdern gefallen hätte, oder das vom ebenso verstorbenen Taylor Hawkins über die Serpentinen getrommelte „All The Way Down“ so viel Spaß machen. Das zwischen Spoken Word und Stadion-Melodiebogen changierende, Klimakrise mit L.A.-Swagger kombinierende „New Atlantis“, das ironisch zwischen Therapiesitzung und Tanzsaal swingende Minuten-Epos “The News For Andy” sowie der dezent proggige, gegen das korrupte Hollywood- und Musikbranchen-Babylon ätzende Closer „The Regency“, gegen den „Won’t Get Fooled Again” wie Kammermusik wirkt, schielen in Richtung Epik und untermauern endgültig den eigenen Schädel des dahinterstehenden Mannes. Ist es also verwunderlich, dass „Every Loser“ den musikalischen Blinker auf links legt und dermaßen auf die Überholspur zieht? Bei anderen 75-Jährigen wohlmöglich schon, aber Jim Osterberg, die olle Lederhose des Punk Rock, hatte ja schon immer zig Überraschungen in petto. So sitzt Iggy Pop, der untote Nihilist des Rock’n’Roll und neben Keith „Keef“ Richards der arschcoolste (noch lebende) Altvordere im Rock-Business, im Schnellzug der Rrrrrrockgeschichte da, wo er, Scheiße noch eins, eben will, und lässt sich höchstens von den eigenen Launen – oder seinem musikverrückten Kakadu Biggy Pop – von seinem Platz vertreiben. Da kann selbst ein ehemalige Formel-1-Weltmeister wie Nico Rosberg nur verdutzt auflachen.

Rock and Roll.

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Songs des Tages: Eddie Vedder – „Matter Of Time“ + „Say Hi“


Zwar mögen auch bei Pearl Jam aktuell alle Tour-Pläne zum im März erschienenen Album „Gigaton“ auf Eis liegen (beziehungsweise zunächst auf 2021 verschoben sein). Untätig sind die US-Grunge-Rock-Veteranen aus Seattle jedoch keineswegs und halten sich derzeit – notgedrungen – mit anderen Projekten beschäftigt. So bringt Stone Gossard, die eine Gitarren-Hälfte der Band, in wenigen Tagen das selbstbetitelte Debütalbum seines Nebenprojektes Painted Shield raus, während sich etwa Mike McCready, die andere gitarrenschwingende Hälfte, in den vergangenen Monaten mit so einigen Jams an der Seite von Künstlerinnen wie Brandi Carlile sowie karitativen Beiträgen oder dem Protest für „Black Lives Matter“ die Langeweile vom Leib hielt.

Und Frontmann Eddie Vedder? Nun, der hat unlängst die beiden neuen Solo-Songs „Matter Of Time“ und „Say Hi“ veröffentlicht. Diese stellte er ihm Rahmen des „Venture Into Cures„-Livestreams vor, einer von Vedder und seiner Frau Jill unterstützten Benefiz-Veranstaltung für an Epidermolysis Bullosa erkrankte Kinder und ihre Familien. Organisiert wurde das Event, zu dem auch Musiker*innen, Schauspieler*innen und TV-Persönlichkeiten wie Billie Eilish, Alessia Cara, Bradley Cooper, Laura Dern oder Jimmy Kimmel ihren Teil beisteuerten, von der Non-Profit-Spenden-Organisation „EB Research Partnership“ (EBRP), die 2010 von Jill und Eddie Vedder sowie betroffenen Eltern gegründet wurde. Zusätzlich kamen Betroffene und Familien von Betroffenen zu Wort, die von ihrem Leben mit Epidermolysis Bullosa berichteten. Weltweit leiden etwa 500.000 Menschen an der Krankheit, für die es bisher weder eine Heilung noch eine Therapie gibt. „Ed und ich sind unglaublich dankbar für jede einzelne Person, die uns bei ‚Venture For Cures‘ unterstützt hat“, so Jill in einem offiziellen Statement, „EBRPs Mission ist es, eine Heilung für Epidermolysis Bullosa zu finden und dieses Event hilft uns dabei, diesem Ziel ein Stück näher zu kommen.“

So handelt „Matter Of Time“ von der angeborenen Krankheit, die die Haut an vielen Stellen extrem empfindlich macht und große Schmerzen verursacht – die Erkrankten werden deshalb oft „Schmetterlingskinder“ genannt, weil sie so empfindlich sind wie ein Schmetterlingsflügel. „Say Hi“ dagegen handelt von Eli, einem Jungen mit Epidermolysis Bullosa, der zusammen mit Vedder im vergangenen Jahr um mehr Aufmerksamkeit für die Krankheit warb – zu sehen im Clip weiter unten. Vedder hatte das Stück zwar schon öfter live performt, aber nie offiziell veröffentlicht. Beide Songs sollen nach ihrem digitalen Release im kommenden Jahr auch auf Seven-Inch erscheinen.

Rock and Roll.

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Song des Tages: Pearl Jam – „Alive“


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Im Laufe des Lebens wechselt man unweigerlich so viele Sachen: Jobs, Autos, Schuhe, bestimmte Vorlieben und Gewohnheiten, Lebensabschnittspartner, Unterhosen… Doch zwei Dinge – so sehe zumindest ich das – bleiben. Und dann fürs Leben: der Lieblingsverein und die Band des Herzens.

Und beinahe so lang wie an die Schwarz-gelben mit dem schönsten Stadion der Welt, der größten Stehtribüne der Welt, die während der Bundesligasaison eine ansonsten nicht besonders schöne Stadt im Ruhrpott in ein Tollhaus verwandelt, habe ich mein Hörerherz an eine Band aus Seattle verloren. Freilich, ich habe noch tonnenweise andere Lieblingsbands, -künstler und -künstlerinnen, bei deren Musik meine Synapsen höher und höher schlagen (und die hier aufzuzählen einer Sisyphusarbeit gleichkommen würde), doch keine bewegt mich, begleitet mich seit nahezu zwanzig Jahren wie Pearl Jam. Mein erstes Album war anno 1998 „Yield“, für teure Taschengeldmark gekauft in einem lokalen Kleinstadtplattenladen, kurz nachdem ich – Teenager, auf der Suche nach Werten und Bedeutungen (Sie kennen das sicher) – einen Song namens „Do The Evolution“ höchst offiziell für „cool“ befunden hatte (dazu stehe ich natürlich auch noch heute, mit Dreißig plus).

Und natürlich trage ich für den regelmäßigen Leser gerade die Eulen nach Athen, habe ich doch sowohl die Band als auch den Frontmann über die Jahre auf diesem bescheidenen Blog schon oft hervorgehoben – wegen der Musik, wegen der Menschlichkeit, wegen der Persönlichkeit(en). Lassen wir das also. Meine „heiligen Kühe“ heißen Pearl Jam und Eddie Vedder. Isso.

Und es ist auch nach all den Jahren noch immer schwierig zu beschreiben, was Songs wie „Rearviewmirror“, „Black“, „Indifference“, „Jeremy“, „Smile“, „Yellow Ledbetter“, „Given To Fly“, „State Of Love And Trust“ (um nur mal einige Wenige zu nennen, welche mir gerade in den Sinn kommen) oder eben „Alive“, anno 1991 auf dem Debütalbum „Ten“ erschienen, in mir auslösen. All das sind Stücke, die mich durch viele nicht immer einfache Zeiten hindurch begleitet haben, die mich gleichzeitig runterziehen und wieder aufbauen, die mich aufwühlen und wieder zur Ruhe bringen, die mir einen Schub zurück in die Vergangenheit geben und mich im Nu wieder ins Hier und Jetzt ziehen. So viele Erinnerungen… Gänsehaut. Ich kann – die mich kennen, wissen das nur zu gut – stundenlang über Musik reden. Doch nur tagelang über Pearl Jam. Echte Liebe. Jahrhundertband. Für mich. Fürs Leben. Das können eine Million Worte nicht beschreiben, das muss man hören. Oh I, oh, I’m still alive…

 

 

„Son, she said
Have I got a little story for you
What you thought was your daddy
Was nothin‘ but a fool

While you were sittin‘
Home alone at age thirteen
Your real daddy was dyin‘
Sorry you didn’t see him
But I’m glad we talked…

Oh I, oh, I’m still alive
Hey, hey, I, oh, I’m still alive
Hey I, oh, I’m still alive

Oh she walks slowly
Across a young man’s room
She said ‚I’m ready, for you‘
I can’t remember anything
To this very day
‚Cept the look, yeah the look
Oh, you know where
Now I can’t see, I just stare
I, I, I’m still alive
Yeah, yeah I, oh, I’m still alive
Yeah, yeah I, oh, I’m still alive
Yeah, yeah I, oh, I’m still alive

‚Is something wrong?‘
She said
Of course there is
‚You’re still alive‘
She said
Oh do I deserve to be?
And is that the question?
Oh, and if so, if so…
Who answers?
Who answers?

I, I, I’m still alive
Yeah, yeah I, oh, I’m still alive
I’m still alive

Yeah, yeah, yeah, yeah…“

 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Pearl Jam – Lightning Bolt (2013)

Pearl Jam - Lightning Bolt (Cover)erschienen bei Monkeywrench/Universal-

Pearl Jam. Allein schon die bloße Nennung des Namens ruft beim kundigen Rockpublikum eine Reaktion hervor. Die einen huldigen seit Jahren jeder Note und jedem Karriereschritt des Quintetts aus der US-amerikanischen Amazon-und-Starbucks-Stadt Seattle, die anderen stehen den von Frontmann Eddie Vedder stets mit allerhand heiligem Ernst und nah am rockistischen Pathos kratzenden Songs mit Verachtung oder stoischer Nichtbeachtung gegenüber…

Zum Glück für die Band überwiegt bereits seit den Anfangstagen – 23 Jahre ist das nun schon her?!? Kinder, wo ist die Zeit geblieben? – die erstere Gruppe. Und Eddie Vedder (Gesang und Gitarre), Mike McCready (Gitarre), Stone Gossard (Gitarre), Jeff Ament (Bass) und Matt Cameron (seit 1996 hinterm Schlagzeug) können mit Fug und Recht von sich behaupten, eine der treuesten Fangemeinden hinter sich – beziehungsweise bei Konzerten: vor sich – zu haben. So hat schon mancher Hardcore-Fan ganze Kontinente oder die halbe Welt mit seiner ewigen Lieblingsband bereist, zwei- oder dreistellige Konzertzahlen vorzuweisen – und umso mehr Anekdoten auf Lager. Und all die Zuneigung kommt auch kaum von ungefähr: Kein Pearl Jam-Konzert gleicht dem anderen, die Band variiert stets ihre Setlists und ist während der dreistündigen Shows (diese Länge ist eher die Regel denn die Ausnahme) offen für spontane Aktionen. Und: Kaum eine andere Band verkörpert Werte wie Loyalität, Integrität und Aufrichtigkeit seit all den Jahren in auch nur ansatzweise gleichem Maße wie die deshalb oft als „Authentizitätsrocker“ titulierten Endvierziger. Wer mag, findet in der Bandbiografie allerlei Belege (Stichworte: Ticketmaster, Kurt Cobain, Roskilde-Unglück, Vote For Change). Dass sich Pearl Jam über all die Jahre dabei stets die Wut im Bauch und das Herz auf der Zunge bewahrten, dass sie sich – politisch wie persönlich – dabei nie und von keiner noch so unumstößlich wirkenden Instanz verbiegen ließen, dass ihnen ihr soziales Engagement stets eine ernsthaft betriebene Herzensangelegenheit war und ist, dass sie bei aller scheinbaren Zornesröte auch immer ein Lächeln und Zwinkern durchblitzen ließen – all das kann Eddie Vedder & Co. kaum höher angerechnet werden. Pearl Jam, die letzten Großen der längst toten Grunge-Szene (im Übrigen ein Begriff, der schon in den Neunzigern zu klein für den klanglichen Bandkosmos erschien), sind noch immer da.

Pearl Jam #1

Natürlich bewegten sich Pearl Jam qualitativ stets auf ebenso hoch gelegenem wie dünnem Eis. Bereits das Debütalbum „Ten“ wird 1991 im Fahrwasser von Nirvanas „Nevermind“ zum internationalen Kassenschlager, die Band findet sich, gemeinsam mit befreundeten Gruppen wie Soundgarden oder Alice In Chains, unvermittelt im Licht der breiten Musiköffentlichkeit wieder, während MTV ihre – auch aus heutiger Sicht – recht kontroversen Musikvideos zu „Alive“ oder „Jeremy“ auf Heavy Rotation spielt. Die damals von der Inhaltsleere des Achtziger-Jahre-Classic Rocks und Hair Metals (ich sage nur: Guns N’Roses!) gelangweilte Jugend hievt zerrissene Jeans, derbe Boots und Holzfällerhemden auf die Laufstege von New York bis Mailand – und dann beschließt Nirvana-Frontmann Kurt Cobain 1994, mithilfe einer Überdosis und Schrotflinte, einen Schlussstrich unter sein Leben zu setzen und dem Namen seiner Band eine unheilvolle Bedeutung zukommen zu lassen. Die Musikwelt ist geschockt. Und Pearl Jam? Statt die letzten Lebenssäfte aus den Eiern der im Sterben liegenden Grunge-Wollmilchsau zu pressen, tritt die Band konsequent hinter ihre Musik – keine Musikvideos, keine Promotion, kaum ein Interview geben Eddie Vedder und seine Mannen für lange Zeit in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Let the music do the talking. Und anstatt sich – wie so viele andere der befreundeten Bands (Soundgarden, Alice In Chains, Screaming Trees) – in der Auflösung oder Inhaltsleere des auf Einheitshurrakurs getrimmten US-Formatradios zu verlieren, werden Pearl Jam nur noch ausdrücklicher: ihr Publikum sei es ihnen wert, gegen die überzogenen Ticketpreise des nahezu monopolistisch agierenden Konzertveranstalters Ticketmaster vorzugehen (man zog gar vor Gericht), kein Mensch sollte von Politikern befürwortet werden oder gar in sinnlosen Kriegen sterben (die Band engagiert sich seit jeher in US-Wahlkämpfen für liberale Interessen sowie für Politiker wie den Grünen Ralph Nader oder den Demokraten Barack Obama). All das trug und trägt die Band, ungeachtet aller Konsequenzen, seit jeher frei zur Schau. Ihre acht seit „Ten“ veröffentlichten Alben waren daher – natürlich nebst persönlichen Gedanken – auch immer ein Spiegel der Lage in den USA sowie der Welt. War „Vs.“ (1993) noch die grandios um sich beißende Reaktion auf die plötzliche Erfolgsvereinnahmung, so drifteten schon „Vitalogy“ (1994), „No Code“ (1996), „Yield“ (1998) und „Binaural“ (2000) in experimentellere Gefilde ab, freilich mit Allzeit-Klassikern wie „Better Man“, „Off He Goes“, „Given To Fly“, „Do The Evolution“ oder „Nothing As It Seems“ an Bord. Pearl Jam hatten noch immer etwas zu sagen, nur brachten sie ihre Standpunkte eben nicht mit dem oberlehrerhaften Vorschlaghammer unter das ihnen die Stange haltende Hörervolk. Erst Anfang des neuen Jahrtausends gab die Band ihre mediale Verweigerungshaltung Schritt für Schritt auf, freilich ohne handzahm von ihren Vorsätzen abzurücken. Alben wie „Riot Act“ (2002) oder „Pearl Jam“ (2006) mochten zwar beim flüchtigen Nebenbeihören rockistischer und flüssiger wirken als manch anderes Werk der Banddiskografie, unter der Oberfläche experimentierte die Band jedoch weiter. Erst das bisher letzte, 2009 erschienene Album „Backspacer“ konnte sowohl Kritiker als auch Fans wieder einhellig von sich überzeugen: „So tolle Songs sind Eddie Vedder & Co. schon lange nicht mehr aus Herz und Hirn gefluppt, und in dieser Form schlägt man den Großteil der Pseudo-Alterna-Rock-Superstars der letzten Dekade um Längen.“ (Rock Hard) von einer Band, die „zurück zu den Basics“ (Allmusic) gehe. Und wieder zeigten Pearl Jam, wieso man nach über zwanzig Jahren noch immer gemeinsame Sache machte. Nach der Promotion von „Pearl Jam Twenty„, dem ersten abendfüllenden Film über die bewegte Bandhistorie, für die sich kein Geringerer als Musikfan und Regisseur Cameron Crowe (u.a. „Almost Famous“, „Vanilla Sky“, „Elizabethtown“) durch über 700 Stunden Filmmaterial kämpfte, und einer wie immer ausgedehnten Welttournee widmeten sich die Bandmitglieder ihren Familien und eigenen Projekten: Frontmann und Hobbysurfer Eddie Vedder, der sich schon 2007 mit dem Soundtrack zum Sean Penn-Film „Into The Wild“ auf recht erfolgreiche Solopfade begeben hatte, huldigte auf „Ukulele Songs“ (2011) seinem erklärten Lieblingsinstrument, die Gitarristen zogen bei ihren Zweitbands Brad (Stone Gossard) beziehungsweise Walking Papers (Mike McCready) andere Saiten auf, während Bassist Jeff Ament gleich bei zwei Gruppen (Tres Mts. und RNDM) die tiefen Töne erklingen ließ und Schlagzeuger Matt Cameron sich – aus alter Liebe zu seiner wiedervereinigten ersten Band – wieder bei Soundgarden hinter die Trommelfelle setzte. Album Nummer zehn? Konnte gut und gern warten…

© Bild: Universal

© Bild: Universal

Doch wer erwartete, dass Pearl Jam auf lange gemeinsame Sicht untätig bleiben würden, der kannte die Band schlecht. Immerhin war man nach einigen Shows 2012 noch bestens aufeinander eingespielt (eher: besser denn je), immerhin gab es durch die enttäuschenden Amtsjahre der (nur auf dem Papier) demokratischen Obama-Regierung (für deren Erfolg sich Pearl Jam ja im Vorfeld eingesetzt hatten) per se genug Stoff für den ein oder anderen neuen Song… Und siehe da: „Lightning Bolt“ machte seinem Namen alle Ehre, Album Nummer zehn war ohne größere Schwierigkeiten ruckzuck im Kasten.

Doch auch im dreiundzwanzigsten Jahr ihrer Bandhistorie müssen sich Pearl Jam – zumindest ihren Kritikern gegenüber – beweisen. Was kann „Lightning Bolt„? Können die „Grunge-Dinos“ an das nicht eben niedrige Niveau früherer Großtaten wie das wütende „Vs.“, das großartig abseitige „No Code“ oder – jüngst – das stringente, vier Jahre zurückliegende „Backspacer“ anknüpfen? Oder wird die Band zum Ende ihrer Vierziger etwa altersmüde? Nun, zumindest das derb drauf los polternde Dreigespann zum Anfang von „Lightning Bolt“ sollte letzteren Fakt in jedem Falle ad absurdum führen. Im bissigen Groover „Getaway“ bekundet Eddie Vedder so gar nicht handzahm seinen inneren Frieden mit religiösem Fanatismus und der manchmal widerwertigen Außenwelt („Mine is mine and yours won’t take its place / Now make your getaway“), während die bereits vorab ins Rennen geschickte Punkbastardsabfahrt „Mind Your Manners“ nicht lang‘ um den heißen Rockbrei herum tänzelt (und so quasi einen Wiederkehrer des „Yield“-Stückes „Brain Of J“ darstellt) und „My Father’s Son“ zu drängendem Refrain, prägnanten Basslinien und keifenden Vocals eines von Vedders Leibthemen anschneidet: die schwierige Beziehung von Vater und Sohn (er selbst lernte seinen leiblichen Vater nie kennen). Dass das darauf folgende „Sirens“ keinesfalls Vergleichen mit weingleichen Evergreens wie der Gänsehaut-Hymne „Black“ standhalten kann, dürfte als gesichert gelten. Trotzdem ist die Herzblutballade, welche es auf fünfeinhalb Minuten Länge schafft, kontinuierlich zu wachsen, und Mike McCready im Mittelteil gar Platz für ein kurzes Gitarrensolo lässt, wohl der offensichtliche Hit des Albums (insofern es den benötigt). Nach dem leider etwas mäßigen Titelstück, von dessen Midtempo-Rockismen Pearl Jam einfach schon ausreichend Gleichwertiges im üppigen Backkatalog haben, und „Infallible“, das zu Stakkatobassbummern unverblümt Stellung zur Selbstsicht der USA als paranoide Nation mit Alleinstellungsmerkmalen bezieht, beginnen dann zum ersten Mal die Experimente. So ist „Pendulum“ ein seltsam symbiotischer Bass-Schlagzeug-Schleicher, dessen atmosphärisch schwerfälligem Groove man sich lange Zeit nicht entziehen kann („Easy come and easy go / Easy left me a long time ago“). Danach geht’s wieder nach vorn: „Swallowed Whole“ ist diese Art von akustikgitarrengetragener Weltumarmungshymne, für die Pearl Jam seit Jahren ein Patent zu besitzen scheinen, „Let The Record Play“ ein flotter Bluesrock-Stampfer, der auch auf einem Back Keys-Album nicht eben unangenehm aufgefallen wäre, und „Sleeping By Myself“ zeigt zu süßlichen Country-Anklängen und zärtlich umher tanzender Ukulelen-Bridge auf, wie sich das Vedder’sche Soloalbum („Ukulele Songs“) im Bandkontext gemacht hätte. „Yellow Moon“ und „Future Days“ beschließen darauf als Doppel das Album, wobei ersteres ein bandgewordenes Wiegenlied mit ordentlicher Rock-Klimax und zweiteres eine zu Herzen gehende von Streichern getragene Liebeserklärung Vedders an seine Frau, das ehemalige Model Jill McCormick, darstellt („I believe / And I believe ‚cause I can see / Our future days / Days of you and me“). Nach vier Minuten bleibt einzig ein einsames Klavier zurück, das „Lightning Bolt“ beendet…

Pearl Jam #3

Wie also ist „Lightning Bolt“ im Pearl Jam’schen Kontext zu bewerten? Nun, zuallererst fällt bei den zwölf Stücken – in nahezu klassischer Albumlänge von knapp 50 Minuten -, denen Haus-und-Hof-Produzent Brendan O’Brien (u.a. auch Aerosmith, Rage Against The Machine, Bruce Springsteen) erneut ein wahnsinnig austariertes Klangbild verpasste, auf, das kaum ein Song auf- oder abfällt. Album Nummer zehn ist weder der derb aufspielende Rundumbiss der Marke „Vs.“ noch das sich allen Erwartungen verweigernde Experiment á la „No Code“. Eher dürfte vielen am neuen Album aufstoßen, dass Pearl Jam in Würde altern. Denn natürlich ist es vermessen zu glauben, dass Eddie Vedder & Co. nach über zwanzig Jahren im Musikgeschäft noch immer die weltfremd Radau schlagenden Berufsjugendlichen geben (dafür sind – leider? – noch immer seltsam untote On/Off-Bands wie Korn oder Limp Bizkit zuständig). Stattdessen besinnen sich Pearl Jam auf „Lightning Bolt“ auf ihre eigenen Stärken, setzten auf die Integritätskarte und lassen ebenso Persönliches wie explizit Politisches mit einfließen. Experimente gibt es auch im 23. Bandjahr – nur eben etwas unterschwelliger, dafür mit vielen spannenden und intensiven Ansätzen, die sich dem Hörer jedoch erst nach und nach erschließen. Denn, wie bei allen Vorgängeralben auch, wird letztlich die Zeit zeigen, wie gut „Lightning Bolt“, dem als Aus-einem-Guss-Album letztlich wohl nur die ganz großen Songs abgehen, altert. Ganz klar: Pearl Jam polarisieren, noch immer – hopp oder top, dazwischen gibt es für Eddie Vedder, Mike McCready, Stone Gossard, Jeff Ament und Matt Cameron wenig. Das Wichtigste jedoch: Pearl Jam sind da – und das zählt mehr als alles Andere…

Pearl Jam - Lightning Bolt tracklist

 

 

Hier gibt’s noch einmal den knapp neunminütigen Kurzfilm zum aktuellen Album „Lightning Bolt“…

 

…sowie die Musikvideos zu „Mind Your Manners“…

 

…und „Sirens“:

 

Rock and Roll.

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