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Der Jahresrückblick – Teil 1


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Dem regelmäßigen Besucher von ANEWFRIEND mag eventuell nicht entgangen sein, dass es in den letzten zwölf Monaten – gerade im Vergleich zu den Vorjahren – recht wenige „Alben der Woche“ gab. Doch keine Angst, natürlich – und auch das dürfte wohl aufgefallen sein – habe ich nicht plötzlich aufgehört, (neue) Musik wie ein nach Tönen verrückter Schwamm in mich aufzusaugen. Nein, 2016 ließ mir einfach, bei all den Nebenschauplätzen im Privaten und Beruflichen, zu wenig Raum und Energie, um mich hier in längeren Artikeln mit all den tollen, (für mich) neuen Alben und Künstlern zu beschäftigen. Stattdessen wurde so manches Werk – ob nun verdient oder nicht – im Zuge des ein oder anderen „Song des Tages“ *hust* „abgefrühstückt“.

Auch werden im diesjährigen Jahresrückblick Besprechungen zu meinen persönlichen „Filmen des Jahres“ und „Serien des Jahres“ fehlen. Und obwohl ich auch da das ein oder andere in Erinnerung bleibende Beispiel erwähnen könnte (etwa „Money Monster„, „Eye In The Sky„, „The Lobster“ oder „Miss Peregrine’s Home For Peculiar Children“ bei den Filmen sowie die Dauerkandidaten „The Walking Dead“ oder „Shameless“ bei den Serien, da jedoch auch die tolle britische Sci-Fi-Miniserie „Black Mirror„), fehlt mir in diesen letzten Tagen von 2016 einfach die Energie, um hier länger darauf einzugehen… Ich hoffe, ihr versteht das.

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Zeichnung: Oli Hilbring / Facebook

Doch zurück zur Königsdisziplin, den „Alben des Jahres“ von und auf ANEWFRIEND! Oder: zum Musikjahr insgesamt. War grässlich, oder? Klar, auch in den vergangen zwölf Monaten erschienen so einige tolle Alben von neuen wie bewährten Künstlern, aber was hat sich diese kleine Schlampe namens „2016“ für eine Mühe gegeben, nicht wenige unserer Lieblingskünstler nur ja nicht mit ins neue Jahr (aka. 2017) zu lassen? David Bowie, Prince, Leonard Cohen – alle drei Jahrhundertgenies und Musiker von Weltformat, die zwar nicht zu jedem Zeitpunkt ihrer Karriere unfehlbar waren (welcher Künstler ist das schon?), aber irgendwie immer da waren, immer verlässlich Neues und absolut Eigenständiges ablieferten. Außerdem für immer verstummt: Keith Emerson, Greg Lake, Alan Vega, Sharon Jones, Merle Haggard, Glenn Frey, Manfred Krug, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Guido Westerwelle, Fidel Castro, Bud Spencer, Götz George, Muhammad Ali, Roger Cicero, Peter Lustig, Roger Willemsen, Miriam Pielhau, Achim Mentzel, Alan Rickman, Anton Yelchin, und jetzt auch noch George Michael – um nur einige Wenige zu erwähnen. Ohne sie wird diese Welt keine andere sein („The show must go on“, um es mit Freddie Mercury zu sagen), jedoch eine weitaus weniger bunte. Ein Scheißjahr, was die Verluste für Kultur und Zeitgeschehen betrifft…

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(gefunden bei Facebook)

Hoffen wir also, dass sich 2017 milder zeigt als die vergangenen zwölf Monate. Denn wie unausstehlich wäre eine Welt, in der wir nur zwischen Helene Fischer, Frei.Wild und den sowieso unkaputtbaren Rolling Stones wählen könnten? Eben. Bleibt alles anders…

 

  

conor-oberst-ruminations1.  Conor Oberst – Ruminations

Wie ich bereits vor einigen Wochen schrieb: „‚Ruminations‘ ist ein großes, ernsthaftes Werk, an dem man sich kaum satt hören möchte. […] So gut, so nah, so ergreifend war Conor Oberst schon lange, lange Zeit nicht. Vielleicht sogar: noch nie.“ Dem habe ich auch heute kaum etwas hinzuzufügen, außer der erneuten Bitte, diesem grandiosen Singer/Songwriter-Werk euer Ohr zu leihen. Mit dieser Rückkehr zu alter Größe habe ich bei Conor Oberst – ganz ehrlich zugegeben – nicht gerechnet (jedoch immer gehofft). Umso schöner, dass dieser Mann – immerhin einer meiner Allzeit-Lieblingskünstler – es trotzdem geschafft hat, mich nach Jahren noch einmal komplett aus den musikalischen Socken zu hauen.

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will-varley2.  Will Varley – Postcards From Ursa Minor

Und auch auf dem Silber-Platz hohe Singer/Songwriter-Kunst – nur diesmal nicht aus dem US-amerikanischen Omaha, Nebraska, sondern aus good ol‘ England. Und obwohl „Postcards From Ursa Minor“ bereits im Oktober 2015 erschien, hat mich Will Varleys drittes Album wie kaum ein anderes durchs komplette Jahr 2016 getragen, denn auch zwischen Januar und Dezember brachte kein anderer Akustikgitarrenbarde einen derartigen – geglückten – Spagat zwischen intim angelegter Nachtmelancholie („The Man Who Fell To Earth“) und absolut hintersinniger Witznummer („Talking Cat Blues“) zustande, dessen Spektrum mal eben so ziemlich jedes menschliche Gefühl in Nylonsaiten gießt. Unterhaltsam, großartig, bewegend, lustig, traurig, niederschmetternd, hoffnungsvoll – durch jede Regung wird der Hörer in den 50 Minuten von „Postcards…“ gezogen. Und kaum jemals war all das schöner anzuhören. Da konnte der Nachfolger ja nur gegen anstinken (und tat das auch, wie weiter unten zu lesen ist)…

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julien-baker3.  Julien Baker – Sprained Ankle

Ebenfalls eigentlich im Oktober 2015 erschienen, ist das Debüt der 21-jährigen Musikerin aus Memphis, Tennessee meine persönliche Entdeckung des Jahres, dessen lediglich neun Songs tief ins von Melancholie getränkte Fleisch schneiden. PJ Harvey meets Elliott Smith, gepaart mit jugendlicher Naivität. Bewegend, ehrlich.

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daughter-not-to-disappear4.  Daughter – Not To Disappear

Ach, Elena Tonra muss eigentlich nur die Lippen bewegen, und schon hat sie mich. Dass die zehn neuen Stücke des zweiten Daughter-Albums auch das klangliche Spektrum der dreiköpfigen Band aus London um Songs mit dezent elektronischer Grundlage oder Klangkathedralen von Sigur Rós’scher Größe erweitern, ist dabei natürlich nicht von Nachteil. Aber, hey: Melancholie nimmt eben keine Gefangenen.

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summering5.  Summering – Summering

Dass diese kanadische Band noch immer (scheinbar) keine Sau kennt, ist – gelinde gesagt – eine riesige Sauerei. Ich verspreche: Wer die älteren Alben von Wintersleep mag und mochte, wird auch mit dem selbstbetitelten Debüt von Summering (ebenfalls im Oktober 2015 erschienen, ebenfalls erst 2016 bei mir angekommen) glücklich süchtig. Noch dazu gibt’s das Ganze als „Name your price“ via Bandcamp zum Download. Ausreden gibt’s also keine!

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frightened-rabbit-painting-of-a-panic-attack6.  Frightened Rabbit – Painting Of A Panic Attack

Dass Scott Hutchison und seine Lads von Frightened Rabbit nach drei Jahren ein neues Album veröffentlichen und dieses es dann nicht ANEWFRIENDs Top 3 des Musikjahres schafft (immerhin war der Vorgänger „Pedestrian Verse“ anno 2013 mit Abstand und Ansage mein „Album des Jahres„), dürfte eigentlich schon als Schlappe für die fünf Schotten gelten. Aber keine Angst, trotz der Tatsache, dass sich auf „Painting Of A Panic Attack“ weniger Songs befinden, die das Hörerherz sofort einkassieren und nicht mehr hergeben (oder war’s umgekehrt?), ist auch das mittlerweile fünfte Studioalbum des stets eigenwilligen schottischen Quintetts kein schlechtes.

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the-hotelier7.  The Hotelier – Goodness

Zig Mal gehört, und noch immer kann ich „Goodness“, das dritte Album von The Hotelier nicht so ganz einordnen. Ist das noch Indierock oder schon Naturstudie? Ist das noch Emo oder längst zu erwachsen dafür? Sind das noch eigenständige Songs oder ein 45-minütiges Konzeptalbum? Steht die Band aus dem US-amerikanische Worcester, Massachusetts nun die großen Band New oder doch eher den seligen Sunny Day Real Estate näher? Fragen, Fragen, Fragen – aber sind die spannendsten Alben nicht immer jene, die man eben nicht auf Anhieb versteht? Was „Dealer“ von Foxing im vergangenen Jahr war, ist dieses Album 2016 für mich gewesen: ein faszinierendes Kuriosum mit Repeat-Garantie. Und die acht Naturnudisten vom Cover machen meine Verwirrung nur noch runder…

 

tigeryouth8.  Tigeryouth – Tigeryouth

Tilman Benning ist ein korrekter Typ, der vor allem 2016 mit seiner Akustischen und (s)einer dezent zerschossenen Tom-Waits-Reibeisenstimme im Gepäck kreuz und quer durch die Bundesrepublik (und manchmal sogar darüber hinaus) gereist ist, um den Punks, Pennern und Penunzeneigentümern in all den kleinen Clubs und AJZs die Songs seines neusten, selbstbetitelten Albums näher zu bringen, welche Tigeryouth-Benning als torkelnden Troubadour mit Hang zum Geschehen am Tresen und dem Herzen nah an Leben und Scheitern präsentieren – opulenter manchmal gar, als noch auf dem 2014 erschienenen Debüt „Leere Gläser“.

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tiger-lou9.  Tiger Lou – The Wound Dresser

Tiger Lou sind zurück, acht lange Jahre nach dem letzten Album „A Partial Print“. Und obwohl „The Wound Dresser“ manchmal zu viel von allem will (und freilich auch all die kreative Energie der langen Auszeit kanalisieren muss) und am Ende zu selten wirklich große Songs dabei herausspringen (die vorab veröffentlichten Stücke „Homecoming #2“ und „California Hauling“ einmal ausgenommen), haben Frontmann Rasmus Kellerman und seine nicht mehr ganz so blutjungen Kumpels freilich immer ’nen festen Fleck für sich reserviert, der „The Wound Dresser“ in diesem Jahr eine Ecke in den Jahren-Top-Ten sichert…


 
touche-amore-stage-four10. Touché Amoré – Stage Four

Ein großes, ein lautes, ein wütendes Album ist Jeremy Bolm, seines Zeichens Stimme und somit Frontschreihals von Touché Amoré, da gelungen. Ein musikalischer Abschiedsbrief an seine Ende 2014 an Krebs verstorbene Mutter. Die Band steht damit – sowohl, was das Musikalische als auch, was das Lyrische betrifft – in einer Reihe mit persönlichen Herzwärmern wie La Dispute oder Pianos Become The Teeth, deren letzte Alben in den vergangenen Jahren lauthals in mein Hörerherz gepoltert sind. Und obwohl mir das auf Dauer eine Spur zu – ich geb’s offen zu – heavy ist, hat das im September erschienene vierte Album der Post-Hardcore-Band aus Los Angeles, „Stage Four“, auch mich bewegt und innerlich aufgewühlt. Ja klar, Touché Amoré lassen dem Indierock etwas mehr Raum als noch auf den Vorgängern, richten manch ein Stück geradezu spartanisch ein (was den Texten nur noch mehr Gewicht verleiht), haben mit dem abschließenden „Skyscraper“ gar ein Gänsehaut-Duett mit Julien Baker (ja richtig, der jungen Dame vom Bronzeplatz) an Bord. Vergleiche mit The National verbieten sich trotzdem. Alle in allem: Wer Screamo-Schreihälsen und laut polternden Gitarren nicht komplett abgeneigt ist, den können diese elf Songs gar nicht kalt lassen. Isso.

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…und auf den weiteren Plätzen:

Savages – Adore Life

Kevin Devine – Instigator

Die Höchste Eisenbahn – Wer bringt mich jetzt zu den Anderen

 

  

Geheimtipp 2016:

drawing-circlesDrawing Circles – Sinister Shores

Alternativer, melancholischer Ambient könnte man das Ganze nennen, was das Trio aus Bonn das auf dem Erstling „Sinister Shores“ (deutsch, in etwa: unheilvolle Ufer) da fabriziert. Dabei flüstert und schreit Sänger Vincent, er singt und presst sich seine Gefühle von der leidwunden Seele, mal still und in sich gekehrt, dann wieder mit sich fast überschlagender Stimme und rauchig-laut anklagend. Mit Worten unterlegte Postrock-Schlummermusik aus deutschen Gefilden und auf (fast) internationalem Niveau? Ist genommen.


 
Enttäuschungen 2016:

wintersleep-the-great-detachment-500x500Wintersleep – The Great Detachment

Drei verdammt großartige Alben haben Wintersleep bis zum 2007 erschienenen „Welcome To The Night Sky“ hinbekommen. Mittlerweile jedoch – und auch diese Serie hält nun schon drei Werke an – lassen mich die Alben der Band aus dem kanadischen  Halifax, Nova Scotia von Mal zu Mal mehr kalt. Daran ändert leider auch das neue „The Great Detachment“ nichts. Hoffen wir, dass Paul Murphy und Co. den Hebel irgendwann wieder in die andere Richtung umlegen können…

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wvlplargeWill Varley – Kingsdown Sundown

„These are the most honest songs I’ve ever written and they represent new ground for me creatively. They may not be radio friendly, or even ‚friendly‘ at all, but I’ve been wanting to make a record like this for a long time.“ Stimmt, die elf Stücke von „Kingsdown Sundown“ sind – gerade mit den Vorgängern verglichen – ein recht radikaler Schritt des britischen Singer/Songwriters hin zu mehr Trostlosigkeit und zur düsteren Seite der Melancholie – Radiofreundlichkeit hört sich logischerweise anders an. Radikal nicht der Musik selbst wegen, denn auch die Vorgänger kamen oft als Wanderbarden-Nummern ganz auf der Akustischen aus. Vielmehr sind die Themen, die Varley anstimmt, die einer Zeit, die wenig Licht ins Dunkel lässt. Auf den vorangegangenen Werken – gerade dem großen „Postcards From Ursa Minor“ (siehe Platz 2 ) – wurde den dunklen Thematiken noch zumeist eine Prise Ironie entgegengestellt. Da diese hier fast gänzlich fehlt, legt sich einem „Kingsdown Sundown“ schnell aufs Gemüt. Repeat? Gern, aber wohl dosiert…

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radiohead-coverRadiohead – A Moon Shaped Pool

Die unfehlbaren Radiohead. Die Meister, wenn es darum geht, den dunklen Zeiten von Technologiewahn und Kapitalismus den entsprechenden Soundtrack zu liefern. Klar, ich liebe die Alben von „OK Computer“ über „Kid A“, „Amnesiac“ bis zu „In Rainbows“ aus so vielen Gründen (die wichtigsten, logischerweise: die Songs sind einfach großartig, die Werke wirken als Ganzes intensiv nach). Das größte Plus von Thom Yorke und Co. ist freilich, dass ihrem Konzept noch niemand so ganz auf die Schliche gekommen ist und sie durch so einige kluge Schachzüge der Vergangenheit mittlerweile absolute kreative Narrenfreiheit besitzen – und diese nutzen sie auch auf „A Moon Shaped Pool“, Studioalbum Nummer neun seit 1993, genüsslich aus. Das Ergebnis ist stiller, intimer als noch das vor fünf Jahren erschienene „The King Of Limbs“, das vor technoiden Experimenten ganz wirr war. Die elf zumeist neuen Stücke (einzig das abschließende „True Love Waits“ kennen Fans bereits längst als Live-Version) baden oft knietief in den Orchesterarrangements von Jonny Greenwood, hat doch der sonst als Gitarrist tätige Tausendsassa durch so einige Soundtrack-Arbeiten längst sein Faible für raumfüllende Musik entdeckt. Hinten hinaus hockt natürlich dann Chefgreiner Thom Yorke und verbreitet seine finsteren Gedanken zur Welt als solche und verarbeitet obendrein noch die „total einvernehmliche“ Trennung von Lebenspartnerin Rachel Owen, mit der er 23 Jahre liiert war und zwei gemeinsame Kinder hat (zum verdammten 2016 passt dann wieder, dass Owen vor wenigen Tagen im Alter von 48 Jahren starb). Ist alles nicht wirklich schlecht anzuhören, lässt mich jedoch ebenso kalt wie die Stimmung, welche Radiohead wohl stets im Sinn haben… Schade.

 
Rock and Roll.

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Abgehört…


Nehmen wir doch einmal die ebenso platte wie wahre Pointe vorweg und legen die Karten gleich zum Anfang auf den Tisch: Eines Tages müssen wir uns alle – ob wir wollen oder nicht – auf die ein oder andere Art und Weise von denen, die wir lieben und die uns lieben, verabschieden. Man mag es wahrhaben oder geflissentlich verdrängen, aber dennoch macht der Tod auch vor unseren Leben nicht Halt. True story.

In der Musikwelt ist dieses Thema natürlich auch kein fremdes. Spontan kommen mir hier etwa Sufjan Stevens letztjähriges berührendes „Carrie & Lowell“ oder viele, viele der jüngsten großartigen Stücke von Mark Kozelek in den Sinn. Und: Seit ein paar Tagen, kann der, der sich an diese nicht eben wattebauschig leichte Thematik heran traut, zwei weitere großartige Platten in den Plattenregalen finden…

 

 

Nick Cave & The Bad Seeds – Skeleton Tree (2016)

packshot1-768x768-erschienen bei Bad Seed Ltd/Rough Trade-

Nicholas „Nick“ Edward Cave ist ein Getriebener. Ein Wahnsinniger. Ein wahnwitzig im Zeitplan arbeitender Kreativer. Und das seit über 30 Jahren. Und einer, der selbst seine den Wahn längst gewöhnten Fans immer noch zu überraschen weiß. Das hatte der 58-jährige Australier und Wahl-Engländer unlängst mit dem vor drei Jahren erschienenen Meisterwerk „Push The Sky Away“ bewiesen, dass ihn sowie seinen engsten musikalischen Vertrauten Warren Ellis und seine kongeniale Begleitband The Bad Seeds auf der Höhe ihres Könnens präsentierte – mit Songs voller Biss und untergründigem Drama, freilich massig dunklen Seiten und mannigfaltig bösem Witz. Wer danach unbedingt mehr Cave sehen wollte, bekam mit „20,000 Days On Earth„, der 2014 erschienenen abendfüllenden Dokumentation der Filmemacher Iain Forsyth und Jane Pollard, welche einen Tag im Leben des Musikers/Texters/Dichters/Schriftstellers/Drehbuchautors/Schauspielers zeigt (und dabei – ebenso wie Caves Songs – einen Bogen zwischen Genialität und Banalität spannt), noch mehr Futter zur (Über)Interpretation hinein in Nick Caves Wirken. Ja, dem Mann, der sich in all den Jahren seine eigene diabolische Welt der Narrenfreiheit zurecht gehauen hat, ging es gut. Und man kennt es ja nur zu gut von sich selbst. Kam möchte man zugeben, dass alles – frei nach Faustischem Prinzip – „eigentlich ganz okay“ ist, – und ich bitte meine Wortwahl zu verzeihen – fickt einen das Schicksal plötzlich umso härter.

Und so war es auch in Nick Caves Fall. Am 14. Juli 2015 starb sein 15-jähriger Sohn Arthur bei einem tragischen Unfall (Gossip-Spoiler: er stürzte im LSD-Rausch von einer Klippe in der Nähe des südenglischen Seebads Brighton, wo Cave und seine Familie leben). Nur böse Geister mögen hier wohl das Karma zur Verantwortung ziehen, denn ausgerechnet Cave, der es vor allem in den Achtzigern und Neunzigern mit bewusstseinserweiternden Substanzen und Parties so wild getriebenen hat wie vor ihm (fast) nur good ol‘ Keith Richards, Cave, der jahrelang intensiv heroinabhängig war, durch die Liebe (zu) seiner jetzigen Ehefrau Susie Bick jedoch glücklicherweise noch rechtzeitig den Absprung schaftte, dieser Nick Cave verlor nun – mutmaßlich durch im jugendlichen Leichtsinn durchgeführte Drogenexperimente – auf tragische Weise einen seiner vier Söhne. Ja, Karma ist eine miese kleine Schlampe.

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Caves nun erschienenes neustes Album „Skeleton Tree“ als „Werk über den Tod seines Sohnes“ zu werten, fällt da nur allzu leicht. Und: Ja, zu einem nicht unerheblichen Teil ist es das wohl auch (oder wird so zumindest in den allgemeinen Tenor der Musikhistorie eingehen). Dabei war ein guter Teil der acht Stücke bereits zu großen Teilen fertig, als sich die Tragödie ereignete. Und doch kann, will, sollte man „Skeleton Tree“ nicht ohne das Wissen um die Hintergründe seiner Entstehung hören, denn Zeilen wie „I call out, I call out right across the sea / But the echo comes back empty / Nothing is for free“ (im abschließenden Titelstück) brauchen die Metaebene. Außerdem klingt Cave nur drei Jahre nach „Push The Sky Away“, das ihn als zwar alterweisen Weltbeobachter, jedoch allzeit angriffslustigen Hansdampf in allen Gossen präsentierte, so ganz anders (und das ist wohl keine Überinterpretation): traurig, vom Schicksal betrogen, manchmal gar müde. Zwar sind auch 2016 seine Bad Seeds wieder mit im Boot, jedoch hört man kaum eine elektrische Gitarre, kommt das Schlagzeug – wenn überhaupt – nur sehr gediegen zum Einsatz. Stattdessen Piano, Vibraphon und akustische Gitarren, welche von Co-Produzent Warren Ellis hinter einem Vorhang versteckt werden, der sie eins werden lässt mit der Ambience, die er mit dem Synthesizer und den Loops erzeugt. Hinter diesem pechschwarzen Vorhang: Nick Cave. Natürlich war der stets edle Anzüge tragende Musiker nie der freundliche Kasper für die gepflegte Massenunterhaltung, jedoch ist selbst für ihn diese Stufe der Traurigkeit, wenn an manch einer Stelle die Stimme gerade noch fürs Letzte reicht, wenn er etwa „With my voice / I am calling you“ („Jesus Alone“) ins Studiomikrofon singt, recht harter Tobak, welcher schließlich im flehentlichen „I Need You“ seine Spitze erreicht („I will miss you when you’re gone / I’ll miss you when you’re gone away forever / Cause nothing really matters / I thought I knew better, so much better / And I need you / I need you“). Da wirkt das in sich ruhende „Distant Sky“, ein geradezu zum Beerdigungsmarsch prädestiniertes Stück, bei welchem Cave Unterstützung von der dänischen Sopranistin Else Torp erhält, geradezu wie Balsam auch auf die Hörerseele.

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Wie bereits der „Rolling Stone“ in seiner Review schrieb: „‚Skeleton Tree‘ ist nicht entstanden, weil Nick Caves Sohn gestorben ist, sondern obwohl er gestorben ist.“ Freilich  werden Album und Tragödie immer miteinander verknüpft bleiben. Freilich wäre auch die gemeinsam mit dem Album erschienene Dokumentation „One More Time With Feeling“ von Regisseur Andrew Dominik, welche Cave und seine Vertrauten bei der Entstehung von „Skeleton Tree“ begleitet und nicht selten persönlichste nahe kommt, ohne die Ereignisse vom Juli 2015 kaum so möglich gewesen. Doch Nick Cave wahrt in jeder der knapp 40 Albumminuten ein Stückweit kreative Distanz, macht keinen der acht Songs nur zu seinen, schafft so etwas universell Trauriges, Berührendes, geradezu Meditatives, dem in keinster Weise der Kirschfaktor eines „Tears In Heaven“ (das damals ja Eric Clapton unter ähnlich tragischen Umständen in die Saiten gefallen war). Und obwohl der Hörer (zumindest ist das bei mir der Fall) diese Distanz auch selbst für sich wahrnimmt, gehen die Gefühle, die Cave in „Skeleton Tree“ durchlebt, durch Mark und Bein – und über allem steht die Hoffnung, dass die Stücke vor allem dem Musiker selbst helfen werden, seinen Frieden mit dem Stich ins Herz zu machen, die ihm diese miese Schlampe Karma an jenem 14. Juli 2015 verpasst hat.

 

Hier gibt es Impressionen von „Skeleton Tree“ in Form von Musikvideos zu „Jesus Alone“ und „I Need You“:

 

 

Touché Amoré – Stage Four (2016)

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-erschienen bei Epitaph-

Auf den ersten Blick scheint Nick Cave und Jeremy Bolm gar nicht so viel zu einen. Der eine ist ein in Südengland beheimateter Australier, der in dreißig Jahren Musikgeschäft so ziemlich jede Höhe und Tiefe mitgenommen hat, der alles Helle, alle Dunkle in unser aller Seelen gesehen hat, in absehbarer Zeit das halbe Dutzend Jahrzehnte Lebenszeit auf diesem von Gott oder wemauchimmer verlassenen Planeten voll machen wird und sich dabei doch in beinahe jeder Minute seine künstlerische Restwürde bewahrt hat. Der andere ist der vorstehende Schreihals einer vor neun Jahren gegründeten Post-Hardcore-Formation aus dem US-amerikanischen Burbank, Kalifornien, der mit knapp über dreißig Jahren gut und gern Sohn des ersteren sein könnte. Klar könnte man Parallelen beim steten Arbeitsethos ziehen (Cave weist in dreißig Dienstjahren mindestens ebensoviele Veröffentlichungen plus Bücher plus Filme plus etc. pp. aus, Bolm hat mit seiner Band Touché Amoré nun vier Alben sowie  massig EPs und Split Singles vorzuweisen), eventuell könnte man beiden auch einen gewissen „heiligen Ernst“ (nebst bösem Augenzwinkern) unterstellen. Zudem sind weder Nick Cave noch Jeremy Bolm als große Spaß verbreitende Jubelcharaktere in Erscheinung getreten. Aber sonst? Ganz eigene Welten.

Und doch ist „Stage Four“, das vierte Album der fünfköpfigen Post-Hardcore-Band Touché Amoré, dem neusten Nick-Cave-Werk näher, als alle Genre-Grenzen vermuten lassen, denn die elf Stücke von Bolms Formation beschäftigen sich voll und ganz mit dem Krebstod seiner Mutter. Oder, genauer: mit dem, was bleibt.

„Stage Four“, das bedeutet: die letzte Stufe einer Krebserkrankung, Metastasen, Endstadium, keine Hoffnung mehr. Als Bolms Mutter und somit auch er und sein Bruder, die die Mutter als Alleinerziehende groß zog, von der finalen Diagnose erfuhren, kam diese wohl einem Schock gleich. Jeremy selbst schien, schenkt man der Musik Glauben, gerade auf dem sprichwörtlichen aufsteigenden Ast, denn mit Touché Amoré lief es nach drei veröffentlichten Alben, welche immer größere Zuhörerscharen anzogen, super, und vor allem „Is Survived By„, 2013 erschienen, ließ rein lyrisch nach Werken, welche offen zu erkennen gaben, sich zu jeder Zeit fehl am Platze zu fühlen, positive Tendenzen erkennen (freilich noch immer lautstark). Dann jedoch schlug das Schicksal mit voller Breitseite zu – nach dem Motto „Dir geht’s prima? Dann wart‘ mal ab!“. Plötzlich wurde Bolm der Boden unter den Füßen weg gezogen – also auch: der Bühnenboden. Seine Band steckte zwangsläufig in dieser Zeit zurück, damit der Sohn sich voll und ganz um seine erkrankte Mutter kümmern konnte. Da jedoch Jeremy wusste, dass seine Mutter nie gewollt hätte, dass sein Leben, seine Leidenschaft wegen ihrem Schicksal in die Brüche gehen würde, kehrte der Frontmann schließlich wieder zu Touché Amoré zurück, um eine Tour abzuschließen. Vielleicht sogar zum Schutz seiner eigenen geistigen Gesundheit. Und: Es kam wie es kommen musste – seine Mutter starb, während Jeremy Bolm auf der Bühne stand.

Und obwohl sie es wohl genauso gewollt hätte, macht sich Bolm – verständlicherweise, irgendwie – noch heute Vorwürfe deswegen. Wieso war ich nicht da? Wäre ich stark genug gewesen? Hätte sie nicht genau das verdient? Bin ich ein schlechter Mensch, ein schlechter Sohn gewesen? Tausend und noch mehr Fragen, welche nie eine Antwort finden werden…

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Und Fragen, davon gibt es während der gut dreißig Albumminuten von „Stage Four“ so einige. Nur Antworten, die findet Bolm selbst nicht. Vielmehr fühlt man sich als Hörer, als würde man den oft lautstark in Mikro geschrieenen, manchmal kehlig geraunten, mal verdruckst gesungenen Tagebucheinträgen des Thirtysomethings lauschen. Heißt auch: Feelgood-Atmosphäre sollte man verdammt nocheinmal woanders erwarten, nur nicht hier. „You died at 69 /  With a body full of cancer /  I asked your god: ‚How could you?‘ /  But I never heard an answer“ („Displacement“) – weder Gott noch irgendsonstjemand kann einen von der Schuld, der Leere, dem Alleinsein, der Hilflosigkeit erlösen. Und: Nein, die Zeit heilt auch lange nach der Todesnachricht („New Halloween“), lange nach existenziellen Sinnkrisen („Displacement“) keine Wunden, lässt höchstens ein wenig Gras darüber wachsen. So sortiert Bolm bei der Auflösung der Habseligkeiten seiner Mutter auch Momente, Erinnerungen, lässt den Schmerz des definitiven Abschieds Stück für Stück zu, um zum Schluss – im letzten Stück „Skyscraper“, bei welchem er Unterstützung von Singer/Songwriterin Julien Baker erhält – in New York City anzukommen, der Stadt, welche seine Mutter über alles liebte, und in der ihn von nun an jede Ecke, jedes Geräusch, jeder Geruch an die Frau erinnern wird, über deren Verlust er wohl nie so ganz hinweg kommen wird. Ein Hoffnungsschimmer ganz am Ende ist jedoch, dass der Sohn es endlich schafft, die letzte Sprachnachricht, die seine Mutter ihm hinterlassen hat, anzuhören. Und der Hörer ebenso. In den letzten Sekunden, die bleiben.

Rein musikalisch reihen sich Touché Amoré in die letzten Veröffentlichungen artverwandter „The Wave“-Bands wie La Dispute oder Pianos Become The Teeth ein, deren aktuelle Alben („Rooms Of The House“ beziehungsweise „Keep You„) ja auch schon einen Schritt weg vom dumpfen Haudrauf-Zwei-Minuten-Mathcore und hin zu progressive gefärbten Indierock-Klangstrukturen machten. Zwar bewegen sich Jeremy Bolm und Co. dabei näher an ihren Vorgängern als etwa Pianos Become The Teeth, die vor zwei Jahren auf „Keep You“ auf grandiose Art und Weise einen Richtungswechsel zu vergleichsweise sanfteren Songstrukturen suchten, lassen jedoch trotzdem fast erstmalig so etwas wie Melodien, Refrains, Wiederholungen in ihren Stücken zu, was der Musik bei allen Rimshot-Beats, glasigen Wave-Gitarren und Tom-Drumming nur zu mehr Vielschichtigkeit verhilft.

„Stage Four“ ist ein ebenso emotionales wie direktes und aufrichtiges Wechselbad aus Trauer und dem Kampf darum, damit klar zu kommen. Es erzählt von denen die gehen und wird von einem erzählt, der zurück blieb, um die Fragezeichen zu zählen und die Erinnerung zu wahren.

 

Eindrücke gefällig? Hier gibt’s die Musikvideos zu „Palm Dreams“ und „Skyscraper“:

 

Rock and Roll.

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