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Song des Tages: Talking To Turtles – „Grapefruit Knife“


Foto: Promo / Stella Weiss

Als Florian Sievers und Claudia Göhler 2008 ihre erste LP als Talking To Turtles in ihrer Leipziger Wohngemeinschaft einspielten, war die Welt noch eine andere. Damals konnte es sich das Pärchen noch leisten, unbekümmert in den Tag hineinzuleben, mit Keyboard und Gitarre im Schlepptau durch die Lande zu ziehen und auch mal auf fremden Sofas zu crashen um ihr Tour-Budget nicht allzu sehr zu strapazieren. Dass man so etwas natürlich nur mit jugendlichem Leichtsinn und einer gehörigen Portion Zuversicht durchziehen konnte, wurde spätestens dann deutlich, als die Omnipräsenz des Duos auf allen möglichen Bühnen nach der Veröffentlichung des dritten, 2014 erschienenen Albums „Split“ allmählich nachließ, um 2018 gänzlich zu versiegen. Was sich im ersten Moment wie künstlerisches Scheitern lesen mag, hatte vor allem etwas damit zu tun, dass sich Florian Sievers mit seinem deutschsprachigen Projekt Das Paradies, als Film- und Theaterkomponist und nicht zuletzt als Produzent (etwa für Hundreds, Lina Maly oder Albrecht Schrader) gleich mehrere neue Standbeine aufbaute. Für Talking To Turtles blieb da schlichtweg keine Zeit mehr.

Bis jetzt: Ziemlich überraschend – aber absolut überzeugend – kommt nun „And What’s On Your Mind„, das aktuelle Album des Duos, daher. Inzwischen sind Florian und Claudia zudem verheiratet und brauchen mit ihrer Musik weder sich noch anderen etwas beweisen, was die entspannte Selbstverständlichkeit erklärt, mit der Talking To Turtles musikalisch nahezu genau dort ansetzen, wo sie anno dazumal mit „Split“ aufgehört haben, dabei aber mithilfe von Produzent Sönke Torpus (und wohl auch der zwischenzeitlich kumulierten Contenance und songwriterischen Souveränität) noch mal ordentlich eins drauf setzen. Same same but different? Quasi. Im Prinzip sind sich beide treu geblieben und bieten auch auf Langspieler Nummer vier angenehm temperierten, zweistimmig vorgetragenen Folk Pop mit überschaubarer Instrumentierung, scheuen jedoch auch nicht davor zurück, sich mehr oder minder hemmungslos den Pop-Vibes ihres Materials hinzugeben. Es liegt eine freundliche Gelassenheit und melancholisch-sanfte Introspektion in dieser leise und unprätentiös gespielten Musik, die sich wiegt und langsam ausatmet.

I was tracing my believes / Now I’m facing the truth / The World Wide Web makes me feel lonely / And lonely you are too“ (aus „Answers Dot Com“)

Überhaupt: die Indie-Pop-Vibes. In den Songs von Talking To Turtles nach groß angelegten Botschaften, Bedeutungen und Geschichten zu suchen, macht keinen Sinn, denn das Musiker-Paar läuft mit weit aufgerissenen Augen staunend durch die Welt und findet dabei ebenso Trost im Absurden wie im oft genug seltsamen Humor des Schicksals. Wenn es hier um etwas geht, dann darum, einfach einmal inne zu halten und einen Schritt zur Seite zu treten, um die Welt aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Wie sonst wohl könnte man auf die Idee kommen, Songs aus der Sichtweise einer Plastikblume („I’m A Pretender“) oder über ein „Grapefruit Knife“ zu schreiben? Aber das mag ja auch spannender sein als auf das eigene, vielleicht profane alltägliche Leben zu schauen. Auf jeden Fall ist es viel charmanter – und das macht unterm Strich wohl den Reiz von „And What’s On Your Mind“ aus.

Zu Beginn ihrer Laufbahn mögen Talking To Turtles vielerorts noch als Folkies gegolten haben, hatten jedoch im Grunde schon immer ein richtig großes Herz für die Popmusik. Und das kann man nur zu gut in den zehn neuen Stücken hören. Zusammen mit Sönke Torpus (und Mixer Olaf Opal) erschufen Talking To Turtles in dessen Studio am nordfriesischen Deich ein mit Streichern und Bläsern angereichertes Setting, das nun wirklich nichts mehr mit dem Flair einer Wohngemeinschaft ihrer Anfangstage zu tun hat und sich angenehm ungezwungen an den Traditionen klassischer, handgemachter Pop-Musik orientiert. Mal klingt hier ein aufgeräumter Sufjan Stevens an, mal die Feinfühligkeit von Belle And Sebastian, mal könnte man glatt meinen, in eine sonntägliche Kleiner-Kreis-Jam-Session von Death Cab For Cutie hineingeschlurft zu sein. In einer besseren, sympathischeren Welt als etwa der in „Answers Dot Com“ besungenen, böte „And What’s On Your Mind“ sogar einen soliden Fundus veritabler, potentieller Indie-Radio-Hits.

Rock and Roll.

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Bittere Einsichten – The Mars Volta folgen At the Drive-In. The Mars Volta sind Musikgeschichte.


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Fragt man einen Meteorologen, so wird dieser wohl antworten, dass der Juni 2003 der heißeste sechste Kalendermonat seit 1901 war. Ich selbst erinnere mich vor allem an diesen Monat, weil ich damals zum ersten Mal „De-Loused In The Comatorium„, das Debütalbum von The Mars Volta, in meinen Händen halten durfte (ja, ich erinnere mich selbst daran, wann und wo ich es gekauft habe!). Heute, fast zehn Jahre später (Zehn Jahre? ZEHN Jahre?!?), liegt mir dieses Album noch immer sehr am Herzen. Ich würde sogar so weit gehen, es in seinem Facettenreichtum, seiner Tiefe, seiner Schwere, seiner Verspieltheit also das „The Wall“ meiner Generation zu bezeichnen. Denn egal, welch‘ monströsen Open der Bandrumpf um den virtuosen, höchst eigenen Gitarristen Omar Rodriguez-López und den Gesangsderwisch Cedric Bixler-Zavala danach noch veröffentlichte – und bei den nachfolgenden fünf Alben war Einiges an klanglicher Anstrengung dabei -, ihr 60-minütiges „Opus Magnum“, welches sich konzeptionell um eine Figur namens Cerpin Taxt und dessen Erlebnisse im durch eine Morphium-Überdosis verursachten Koma dreht (die traurige Inspiration dazu lieferte der Tod des aus El Paso, Texas stammenden Künstlers Julio Venegas, einem Freund Bixler-Zavalas, im Jahr 1996), konnten sie danach nicht mehr übertreffen. Dafür erforschten sie weiter einen Klangkosmus, dem das anfänglich noch überschaubar zusammengezurrte Rockmusikgestell schon bald zu eng wurde, dehnten ihn in Richtung Progressive Rock, Punk, Elektronik, Latin, Jazz oder Post-Hardcore aus, nahmen um sich herum in regelmäßigen Abständen einen munteren Austausch der Mitmusiker vor (Wikipedia zählt ganze 21 Musiker, die bisher bei und für The Mars Volta gespielt haben!) – und entfernten sich selbst immer mehr voneinander. Klar kommt so etwas selbst „in den besten Familien“ vor. Und dennoch ist es schade, dass diese beiden musikalischen Querdenker, die zuvor  – und bereits seit Anfang der Neunziger – bei den legendären Post-Hardcore-Rockern von At the Drive-In für Furore und frenetisch wirbelnde Moshpits gesorgt hatten, nun nicht mehr sind, denn Bixler-Zavala gab heute mit einer Menge Bitterkeit zwischen den Zeilen das Aus für The Mars Volta via Twitter gekannt:

„Soll ich mich benehmen wie eine neumodische Hausfrau und einfach dabei zuschauen, wie mein Partner mit anderen Bands vögelt? Wir schulden es den Fans zu touren (…) Ich kann hier nicht rumsitzen und länger so tun, als wäre nichts. Ich bin nicht mehr Mitglied von Mars Volta.“

Natürlich kann man den Grund für den Split bei Rodriguez-López‘ vielen Nebenbetätigungsfeldern und -projekten suchen – der Mann hat zwischen 2004 und 2013 immerhin rund 30 (!) Soloalben veröffentlicht (von Kollaboration man ganz zu schweigen), und mit Bosnian Rainbows immerhin ein veritables und vielversprechendes neues Bandprojekt in den Startlöchern. Eventuell lag es jedoch auch ein wenig daran, dass Sänger Cedric Bixler-Zavala selbst in letzter Zeit mehr Energie in seine Zugehörigkeit zur L. Ron Hubbard-Sekte Scientology investierte denn in die Musik…

Tausend potentielle Gründe, die noch auf ein Statement des Gitarristen warten und immer auf’s Gleiche hinaus laufen: The Mars Volta sind nun, wie bereits ihre Vorgängerband At the Drive-In (die für die letztjährige Festivalsaison und einige wenige Konzerte ein kurzes Live-Comeback feierten) Musikgeschichte. Schade, denn beim 2012 erschienenen sechsten Album „Noctourniquet“ zeigte die zum Qualitätsmesser umfunktionierte „Pommesgabel“ nach einigen mittelprächtigen Veröffentlichungen wieder überzeugt gen Himmel. Immerhin wird „De-Loused In The Comatorium“ als ewig turmhohes Vermächtnis bleiben. Viele Bands lösen sich nach weitaus weniger Erreichtem auf…

 

Wenn ich heute noch manchmal „De-Loused…“ durch die Ohrmuscheln rauschen lassen, bin ich wieder in diesem Sommer im Jahr 2003, fühle die Hitze, die Aufregung der Post-Abitur-und-Schul-Zeit, all die Verlockungen des Neuen, des Ungewohnten, des Ungehörten. Alles ist so vertraut, und neu zugleich. Alles ist Ruhe. Alles ist Euphorie…

 

Davon, dass The Mars Volta zu beinahe jeder Zeit ihres Bestehens eine gleichzeitig fantastische und kompromisslose Live-Band waren, durfte ich mich glücklicherweise selbst überzeugen (allen anderen sei etwa das 2005 erschienene Live-Album „Scabdates“ empfohlen). Diese 2003 mitgeschnittene Live-Version von „Cicatriz Esp“, dem wohl besten Song von „De-Loused…“, bringt diesen Fakt annähernd rüber:

 

Aber auch danach legten The Mars Volta keinesfalls minderwertige Songs vor, wie diese Beispiele…

 

…oder die „Abbey Road Session“ zeigen:

 

P.S.: Die Wulffs, die Van Der Vaarts, die Mars Voltas – der Januar scheint auch in diesem Jahr für viele Langzeitbeziehungen ein guter Monat zu sein, um mit unliebsam gewordenen „Altlasten“ zu brechen. Dieser Tradition folgt, wie’s ausschaut, auch Islands bekannteste Band Sigur Rós, die die Trennung von Keyboarder Kjartan Sveinsson, welcher immerhin seit 1998 zur enigmatischen Erfolgskollektiv gehörte, heute „semi-offiziell“ bekannt gaben und fortan als Trio weitermachen werden.

 

Rock and Roll.

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