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Das Album der Woche


Husten – Aus allen Nähten (2022)

-erschienen bei Kapitän Platte/Cargo-

Mal Butter bei die Kiementiere: Kaum einer Band kann man – mal abgesehen von einem italienischen Eurodance-Act, der in den Neunzigern mit Liedern wie „The Rhythm Of The Night“ oder „Baby Baby“ recht erfolgreich war, da aber logischerweise noch nicht ahnen konnte, dass sein Name einige Jahre später einmal mit einer weltweiten Pandemie in Verbindung kommen könnte – marketingtechnisch weniger Gespür für potentielles Assoziationstum attestieren als Husten, denn der Bandname mutet, zumal in Corona-Zeiten, nicht besonders einladend an. Mainstream-Durchbruch? Druff jeschissen, Keule!

Andererseits war es auch eine durchaus spezielle Reise, die das Trio bis hierhin hingelegt hat, denn eine „Band“ im eigentlichen Sinne – mit Alben, Konzerten, sonstigen Verpflichtungen und allem PiPaPo – war so nie angedacht. Stattdessen schmissen die drei – Liedermacher Gisbert zu Knyphausen, Studiobesitzer und Produzent Moses Schneider (u.a. Beatsteaks, Tocotronic, Turbostaat oder Olli Schulz) und Tobias „Der dünne Mann“ Friedrich (ehemals Sänger von Viktoriapark) – anno 2017 eine erste, selbstbetitelte EP ins Rund und versprachen, dass es bei soviel Freude am ungezwungenen Musizieren fortan einfach nur eine EP pro Jahr geben sollte. Das hielt das Dreiergespann zunächst – für drei Jahre und ebenso viele Kleinformate – ein, doch irgendwann (also: jetzt) musste es dann wohl doch ein vollwertiges Album sein… Eine durchaus bemerkenswerte Entwicklung für eine Combo, die zunächst nur ganz nebenbei und ohne jegliche planerische Zwänge für andere Projekte ungenutzte Songideen verwerten wollte. Und wer den Werdegang von Husten in den vergangenen fünf Jahren mit aufmerksamen Ohren verfolgt hat (etwa via ANEWFRIEND), den dürfte kaum wundern, dass das Trio, dessen vielseitige Indie-Poppe-di-Rock-Melange sich nicht nur alphabetisch, sondern auch klanglich wie wirkungstechnisch bestens neben Kombos wie Die Höchste Eisenbahn ins Plattenregal sortieren ließe, seinem nun erschienenen Langspiel-Debüt „Aus allen Nähten“ nicht nur ein überaus farbenfrohes Cover-Artwork, sondern auch einen ebenso fantasievollen Pressetext voranstellt:

„Eigenartige, schmutzige Geschichten über Unglück. Ohne lange zu überlegen, griff Fushigi nach dem Album, dessen buntes Cover aus der Wand mit den Zeitschriften, Büchern und Schallplatten herausragte. Neben den japanischen Schriftzeichen konnte sie auf der Hülle auch die deutschen Worte Husten und ‚Aus allen Nähten‘ erkennen. Fushigi bezahlte und machte sich zuhause daran, die auf Vinyl versammelten Lieder zu erforschen.

Obwohl sie nur Bruchstücke der fremden Sprache verstand, träumte sie in der Nacht von der in einem Song beschriebenen Nahtoderfahrung, von dem Mann, der sich in einem anderen Lied in eine Vaterschaft hinein illusioniert, schreckte um Viertel vor drei hoch, weil sie sich sicher war, dass – wie auf Platte – eine Krankenschwester um diese Zeit anrufen würde. Später sah sie im Schlaf das gelbe Haus der Ausgestiegenen und durchlebte die in szenischen Miniaturen geschilderte tragische Lebensliebesgeschichte eines anonymen Paares. Hörte noch im morgendlichen Halbschlaf neben dem deutschen Sänger die Schweizerin Sophie Hunger nachhallen. Sofort nach dem Frühstück recherchierte Fushigi und fand heraus, dass ‚Aus allen Nähten‘ nach vier EPs das erste Husten-Album war.

Warum es ein unglücklicher Zufall in dieser an Zufällen und glücklichen Unglücken so reichen Band-Geschichte war, dass deren Mitglieder Moses Schneider, Gisbert zu Knyphausen und der dünne Mann sich 2019 entschlossen hatten, ihre Tour 500 Tage im Voraus anzukündigen und die Pandemie daraus über 1.200 Tage zwischen Mitteilung und Konzertbeginn machte. Sie erfuhr von der anfänglichen fluxusartigen Liederresteverwertung der Musiker, die inzwischen einer live aufnehmenden Band gewichen war. Doch kreidebleich wurde Fushigi erst, als sie las, dass jemand sie selbst ausschließlich für das Info der Band erfunden hatte.“

Etwas spinnert, aber durchaus mit jeder Menge Herz, Hirn und Hintersinn, das Ganze, oder? Und dennoch nicht für alle und jede(n) gemacht, denn bei aller Sympathie darf man guten Gewissens mutmaßen, dass Husten-Songs nie im Nachmittagsprogramm irgendeines Formatradios stattfinden werden. Schlimm? Isset nich‘, Keule. Vielmehr machen Gisbert Wilhelm Enno Freiherr zu Innhausen und Knyphausen (nur echt mit eigenem Familienlandsitz in Eltville-Erbach im hessischen Rheingau!), Moses Schneider und Tobias „Der dünne Mann“ Friedrich mit wuseliger Vielschichtigkeit und kreativer Eleganz auch 2022 ganz ihr eigenes Ding.

Selbige – die Vielschichtigkeit, die Eleganz – legt schon der bereits im April 2021 veröffentlichte Opener „Weit leuchten die Felder“ mit seinem hypnotischen Streicher-Arrangement und dem gedehnten, leicht heiseren, vertrauten Gesang an den Tag, und berichtet dramatisch von einer Nahtoderfahrung. Rhythmus ist zunächst der pochende Herzschlag, die benannten Streicher setzen ein, zarte Elektronica übernimmt hintenraus. All das sprengt die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Außer-Takt-Klatscher hierzulande längst. Kaum verwunderlich dürfte außerdem sein, dass bei „Aus allen Nähten“, welches nun einige bisher veröffentlichte Husten-Singles vereint (wie das benannte „Weit leuchten die Felder“, aber auch „Der hier wird weh tun„, „Maria„, „Manchmal träum‘ ich von Träumen“ und „Dasein„), hin und wieder ein wenig was von zu Knyphausens letztem Solo-Werk „Das Licht dieser Welt“ mitschwingt. Beim Abschluss „Am Ende der Stadt steht ein gelbes Haus“ zum Beispiel, von dessen warmer Strömung man sich gern tragen lässt und den detaillierten Beobachtungen lauscht, die am Ende aber doch abseitiger, faszinierender daherkommt als viele Songs des dritten, 2017 erschienenen Knyphausen-Albums.

Und auch die ruhigeren Momente legen nur scheinbar eine Fährte, denn „Aus allen Nähten“ ist definitiv ein Band-Album geworden. So darf der schöne Indiepopper „Wind in den Antennen“ rund um seinen Refrain durchaus etwas Dampf machen, welchen die Uptempo-Nummer „Maria“ dann komplett aufnimmt und auf diversen E-Gitarren-Soli davon rauscht. So viel Hingabe zum Rock’n’Roll, auch zu hören im geschickt inszenierten „Der hier wird weh tun“ oder beim beinah noisigen kleinen, so herrlich zerrissenen Hit „Manchmal träum‘ ich von Träumen“, hatte Knyphausens Songwriting seit Kid Kopphausen, seinem ähnlich feinen Projekt mit dem leider 2012 viel zu früh verstorbenen Hamburger Musikerkumpel Nils Koppruch, sowie seinem tollen 2008er Debütalbum nicht mehr.

„Wenn ich gefragt werde, was für Musik ich mache, sage ich, dass ich deutschsprachige Lieder schreibe, die mal ganz sanft und mal ganz krachig klingen. Zwar gibt es darin auch viele positive Gefühle wie Freundschaft, Liebe und Lust am Leben, aber ich habe schon einen Hang zu traurigen Liedern. Ich mag diese melancholische Atmosphäre in Songs.“ (Gisbert zu Knyphausen im Interview mit „RBB“ im Jahr 2021)

Dass man das Gerüst vieler Kompositionen dem gebürtigen Rheingauer Winzersohn zuordnet, der seit eh und je als einer der besten bundesdeutschen Troubadoure gilt, jedoch selbst nie allzu viel Aufhebens um das eigene Talent macht (und sich vielmehr gern kopfüber ins kreative Freispiel wirft – nachzuhören etwa auf „Lass irre Hunde heulen„, seiner im vergangenen Jahr veröffentlichten Werkschau von Franz Schubert-Stücken mit Pianist Kai Schumacher, oder dem Gastbeitrag zum jüngst erschienenen – und ähnlich superben – Nullmillimeter-Debüt „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd„), ist natürlich kein Problem, sondern zugleich Wohlgefühl und gute Seele dieses Albums. Doch „Aus allen Nähten“ liefert nicht nur intime Momente und erzählt detailversessene Geschichten, es punktet auch immer wieder mit soundtechnischen Überraschungen. Dazu gehört weniger das zart besaitete Titelstück, das allein auf Stimme und Keyboard setzt und mit Zeilen wie „Hier ist jemand, dessen Liebe für dich platzt aus allen Nähten“ die immer greifbare Melancholie besonders gut verkörpert, aber ganz sicher der Hüftschwung, den „Ja im Sinne von Nein“ entfacht. Das Pfeifen aus dem Walde rauscht mit dem warmen Föhnwind herbei, bevor der Song als zweiminütige Anti-Hymne zu einem privat wie beruflich vorzeigbaren Instagram-Leben den süffisanten Tanz-Pogo zündet: „Wie sagt man nochmal ‚Ich kündige!‘ / Statt bloß ‚Ja‘ im Sinne von ‚Nein‘ / Ich möchte einfach wieder endlich einmal sein / Und zwar allein.“ – „Sag alles ab“ hätten die Hamburger-Schule-Rocker von Tocotronic hier vermutlich kommentiert, womit wir beim zwischen bewegend und berührend changierenden „Dasein“ mit der – ähnlich wie bei Knyphausen – eh dauertollen Sophie Hunger wären, gemeinsam mit Tocotronics „Ich tauche auf“ das wohlmöglich schönste Duett der jüngeren deutschsprachigen Musikgeschichte. Laut dem Label sei es „die in szenischen Miniaturen geschilderte tragische Lebensliebesgeschichte eines anonymen Paares“, zu welchem die Band zu berichten weiß: „Als sie am Tag der Aufnahme, einem hellen Wintervormittag, die Straße entlang gewippt kam, bester Laune, sang Sophie bereits die ersten Zeilen und grinste uns an: ‚Das wird künftig bestimmt viel auf Beerdigungen gespielt.'“ Traurigschön. Von alledem wird die tumbe Forster-meets-Giesinger-Formatradio-Zielgruppe jedoch kaum etwas mitbekommen…

Apropos „traurigschön“: Gisbert zu Knyphausens Ziel beim Songschreiben sei es – und hier wird eine Parallele zu seinem erklärten US-Vorbild Conor Oberst (Bright Eyes) deutlich -, „den eigenen Weltschmerz in kunstvolle Worte zu packen und in intensive Songs zu gießen“. Beides ist dem umtriebigen Musiker mit seinen beiden Husten-Buddies auch auf 45-minütiger Albumlänge dezent herausragend gelungen, wenngleich dem Bandnamen ein besseres Timing gewünscht gewesen wäre. Nichtsdestotrotz macht „Aus allen Nähten“, diese auf wundersamen (Um)Wegen entstandene Platte, traurig und glücklich zugleich – muss man auch erstmal hinbekommen.

Rock and Roll.

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Song des Tages: Bonaparte & Sophie Hunger – „Daft Punk spielen in meinem Haus“


Sophie Hunger und Bonaparte haben eine Studioversion ihres Coversongs “Daft Punk spielen in meinem Haus” veröffentlicht. Das Stück ist eine deutschsprachige Version von “Daft Punk Is Playing At My House”, welches ursprünglich 2005 auf dem selbstbetitelten Debütalbum der New Yorker Indie-Rocker LCD Soundsystem erschien.

Hunger und Tobias Jundt, der hinter dem Projekt Bonaparte steht, spielten die Neuinterpretation erstmalig im Rahmen ihres gemeinsamen Auftritts bei einem Livestream-Festival im vergangenen Februar. Den beiden wurde im Zuge der Entstehung der Studioversion auch eine besondere Ehre zuteil, immerhin spielte niemand Geringeres als LCD-Soundsystem-Mitglied Tyler Pope persönlich den Bass für selbige ein. Und damit nicht genug: Mit dem Song veröffentlichten die beiden Schweizer Musiker*innen außerdem eine gemeinsame EP namens “1”, welche noch drei weitere Tracks enthält.

Es ist zudem nicht die erste Kooperation des Künstler*innen-Duos: 2019 erschien auf dem Bonaparte-Album “Was mir passiert” der Track “Dene wos guet geit”, auf dem Hunger als Gastsängerin zu hören ist. Auf der Platte zeigte sich Jundts Welt zwischen Pop und Avantgarde zwar noch so clever und gewieft wie eh und je, allerdings fehlte die Partywut vergangener Tage. Wohl auch deshalb wird es ein resigniertes Manifest bleiben, das ohne seine eigene Vergangenheit wohlmöglich deutlich höheren Wellen geschlagen hätte.

Hungers aktuelles Album “Halluzinationen” erschien 2020. Darauf schwelgt der spannende, sich nahezu stetig verändernde Indie Pop der umtriebigen Schweizerin zwischen Vertracktheit und Dringlichkeit. Eines hat jedoch auch Platte Nummer acht mit ihren Vorgängern gemeint, denn so interessant und spannend all die Spielereien und Ausflüge in die verschiedensten Genres sein mögen, berühren am Ende des Tages doch die vermeintlich simpelsten Songs am meisten.

Die Musikerin erklärt, wie es zu der erneuten, diesmal sehr gitarrenlastigen Zusammenarbeit mit Bonaparte kam: “Eine der wenigen guten Dinge der Pandemie war, dass man genug Zeit hatte, wilde Postleitzahl-basierte Combos zu bilden. Man kann nur drei Personen aus zwei anderen Haushalten sehen? Kein Problem! Dann werden es Bass und Schlagzeug!”

Aller pandemischen Restriktionen zum Trotz toben sich Jundt und Hunger mit “Daft Punk spielen in meinem Haus” dabei in rockigen Feier-Gefilden aus. Ganz im Sinne der Originalversion bewegt sich auch das Cover zwischen knackigen Garage-Rock-Riffs und verschrobenen Elektro-Punk-Sounds. Das kreative Duo wechselt sich beim locker-lässigen Gesang ab und lässt den Song verflucht tanzbar grooven. Dabei fügt sich sogar der übersetzte Text nach einer kurzen Eingewöhnung hervorragend in das feierwütige Gesamtbild ein. Was da noch kommen wird? Man darf gespannt sein – und eventuell mal in die anderen Songs der EP hinein lauschen…

Rock and Roll.

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„Tausend Jahre sind ein Tag…“ – ANEWFRIENDs Top 10 der Jahreszahl-Songs


How-to-Promote-Mixtape

Kürzlich kam mir beim Hören von Frank Turners neustem Album „Be More Kind“ (welches kein schlechtes, jedoch bei weitem nicht sein bestes ist) ein spontaner Gedanke: Wie wäre es mit einer Top 10 der – spontan, freilich! – persönlich liebsten und tollstbesten Songs mit einer Jahreszahl im Titel?

Gedacht? Getan! Natürlich (ich schrob „spontan“, Ladies und Gentlemänner!) ohne Gewähr auf Vollständigkeit, jedoch feinstsäuberlich-deutsch chronologisch geordnet: hier ist meine eigene Liste…

(Falls euch noch das ein oder andere Stück in den Sinn kommen sollte: lasst es ANEWFRIEND und die internetze Welt da draußen in den Kommentaren wissen!)

 

 

The Gaslight Anthem – „1930“ (vom Album „Sink Or Swim“, 2007)

 

„And I see you like you were there

And I know just how you’d smile

Mary, you looked just like it was 1930 that night…“

 

 

 

Frank Turner – „1933“ (vom Album „Be More Kind“, 2018)

 

„The first time it was a tragedy

The second time is a farce

Outside it’s 1933 so I’m hitting the bar…“

 

 

 

Neutral Milk Hotel – „Holland, 1945“ (vom Album „In The Aeroplane Over The Sea“, 1998)

 

„The only girl I’ve ever loved

Was born with roses in her eyes

But then they buried her alive

One evening 1945

With just her sister at her side

And only weeks before the guns

All came and rained on everyone

Now she’s a little boy in Spain

Playing pianos filled with flames

On empty rings around the sun

All sing to say my dream has come…“

 

 

 

The Stooges – „1969“ (vom Album „The Stooges“, 1969)

 

„Well, it’s 1969 – OK all across the USA

It’s another year for me and you

Another year with nothing to do…“

 

 

 

The Smashing Pumpkins – „1979“ (vom Album „Mellon Collie And The Infinite Sadness“, 1995)

 

„Shakedown 1979, cool kids never have the time

On a live wire right up off the street

You and I should meet…“

 

 

 

Sophie Hunger – „1983“ (vom Album „1983“, 2010)

 

„Guten Morgen, 1983

Wo sind deine Kinder?

Ich bin zu Dir zurückgekehrt

Nur kurz, noch nicht für immer

1983, zeig mir deine Finger

Und frag nach deinem Abdruck…“

 

 

Prince – „1999“ (vom Album „1999“, 1982)

 

„Say, say two thousand zero zero party over, oops, out of time

So tonight I’m gonna party like it’s nineteen ninety-nine…“

 

 

 

Silverchair – „Anthem For The Year 2000“ (vom Album „Neon Ballroom“, 1999)

 

„We’ll make it up to you

In the year 2000

Build it up for you

In the year 2000

Make it up to you

In the year 2000

Build it up for you

In the year 2000 with you…“

 

 

 

Pearl Jam – „4/20/02“ (vom Album „Lost Dogs (Rarities & B-Sides)“, 2003)

 

„So all you fools

Who sing just like him

Feel free to do so now

‚Cause he’s dead…“

 

 

 

The World is a Beautiful Place & I am No Longer Afraid to Die – „January 10th, 2014“ (vom Album „Harmlessness“, 2015)

 

„But don’t you quiver

I am an instrument

I am revenge

I am several women…“

 

 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Faber – Sei ein Faber im Wind (2017)

71aztMRRAHL._SL1200_-erschienen bei Vertigo/Capitol/Universal-

Wikipedia ist mal wieder schlauer: „Der Begriff Homo faber (lat., ‚der schaffende Mensch‘ oder ‚der Mensch als Handwerker‘) wird in der philosophischen Anthropologie benutzt, um den modernen Menschen von älteren Menschheitsepochen durch seine Eigenschaft als aktiver Veränderer seiner Umwelt abzugrenzen.“

Nun ist freilich nicht bekannt, wie weit ein gewisser Julian Pollina ins Philosophische vorgedrungen sein mag. Vielmehr bleibt zu vermuten, dass sich der Schweizer Musiker, seines Zeichens Jahrgang 1993, seinen Kunst- und Künstlernamen Faber dem 1957 erschienenen Erfolgsroman „Homo faber“ seines Landsmanns Max Frisch entliehen hat. Denn die Parallelen, welche zwischen ebenjenem Buch und den Stücken des noch jungen Liedermachers bestehen, können kaum zufällig sein. Max Frisch erzählt in „Homo faber“ von Walter Faber, einem weltgewandten Ingenieur mit streng rationaler, technisch orientierter Weltanschauung, in dessen geordnetes Leben der Zufall und die verdrängte Vergangenheit einbrechen. Eine (unwissentliche) inzestuöse Liebesbeziehung mit tragischem Ende, todkranke Einsichten über Verfehlungen und Versäumnisse – die ganz große philosophische Tragikkeule. Worin die Parallelen zur Lyrik Pollinas liegen? Mehr dazu später…

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Denn vor allem brauchte der 24-Jährige wohl ein Pseudonym, um nicht ständig als „der Sohn von“ Pippo Pollina, einem in der Schweiz (und im italienischen Sprachraum) bekannten Musiker, den man in Deutschland wohl am ehesten über eine Zusammenarbeit mit Konstantin Wecker kennen könnte, verglichen zu werden. Und solange diese erschaffene Kunstfigur Faber die Authentizität nicht durch Gekünsteltes und Künstlichkeit erstickt, sollte das nur recht und billig sein.

Den Entschluss, sich fortan als alter ego aus Max Frischs wegweisendem Gesellschaftsroman durchs Musikgeschäft und über Konzertbühnen zu bewegen, fasste Julian „Faber“ Pollina irgendwann im Jahr 2013. Also scharrte der Züricher Liedermacher, dem in einer derart musikalischen Familie beinahe keine andere Wahl blieb, ein paar befreundete Musiker um sich, schrieb erste eigene Stücke, fasste sich irgendwann ein Herz und spielte diese seiner Landsfrau Sophie Hunger vor, welche das junge Talent kurze Zeit später als Vorgruppe mit auf Tournee nahm (die Schweiz erscheint klein genug, sodass man sich irgendwann einfach zwangsläufig über den Weg laufen muss). Wiederum zwei EPs später („Alles Gute“ 2015, „Abstinenz“ 2016), mit deren Songs sich der Musiker weitere Aufmerksamkeit – auch über die Grenzen seiner Schweizer Heimat hinaus – erspielte, erschien nun im Juli sein Debütalbum „Sei ein Faber im Wind“. Und das hat es in sich.

Warum?

Nun, spannen wir doch einfach einen lyrischen Bogen…

So heißt es – wenn auch noch ein wenig holprig getextet – im tollen „Tausenfrankenlang“, dem vierten Stück der damals noch via Crowdfunding finanzierten 2015er Debüt-EP „Alles Gute“:

„Ich habe dich geliebt / Tausend Franken lang / Und wenn du neben mir liegst / Sehe ich dich an / Dann schwebe ich davon / Tausend Meter hoch / Mir wird warm / Jetzt bin ich arm / Ich halt dich fest…“

Zwei Jahre später, im abschließenden Titelsong des Debütwerks „Sei ein Faber im Wind“, wiederum singt Faber folgende Zeilen:

„Einer von uns beiden hat gelogen / Und das war ich / Ich habe dir gesagt / Es sei egal, ich komme klar auch ohne dich / Und du hast es nicht geglaubt, hast laut gelacht / Und hast gesagt: ‚Mal schauen‘ / Und bist einfach abgehauen / Und jeder Jäger träumt von einem Reh / Jeder Winter träumt vom Schnee / Jede Theke träumt von einem Bier / Warum, du Nutte, träumst du nicht von mir?“

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Ja, Fabers Texte sind engmaschig durchzogen von einer nicht eben optimistischen Lebensweise. Meist haut er dem Hörer Sätze um die Ohren, die dieser – in ihrem durchlebten Fatalismus, behaftet mit lakonischer Resignation – vielleicht von jemandem erwartet hätte, der gerade das halbe Jahrhundert voll gemacht hat, kaum jedoch von einem Mittzwanziger. Und: Faber liebt es deftig. So heißt es etwa in „Bratislava“:

„Die Fischertöchter angeln sich nun Männer / Zeigen Bein und Brust, wenn’s denn sein muss / Für etwas Geld tut man alles in der Welt / Es sind dieselben, die bei uns Schlange stehen / Auf den Straßen, um dir schnell einen zu blasen / Oder sich ficken lassen in deinem Wagen…“

Jedoch ist dieser Gossenjargon bei dem Schweizer Musiker – und da besteht der größte Unterschied zu Bands wie Kraftklub, die ihre Ex-Freundin unlängst auch medienwirksam als „Hure“ in einem Song verewigten – nie pures Mittel, um 15 Minuten Aufmerksamkeit abzugreifen. Pollinas Skizze ebenjenes Fabers sieht einfach schmutzige, direkte Worte wie diese vor. Anderswo, im großartigen „Wer nicht schwimmen kann der taucht“ (allein der Titel – großartig!), singt er:

„Ich bin bestimmt kein Rassist / Und gegen Ausländer habe ich nichts / Aber ich schau euren Schlauchbooten beim Kentern zu / Im Liegestuhl, am Swimming Pool, am Mittelmeer / Kratz mich am Bart, kratz mich am Bauch / Wer nicht schwimmen kann, der taucht / Wer nicht schwimmen kann, der taucht…“

Trotz – oder gerade wegen – bitterer Zeilen wie dieser, welche im Satz „Wenn es mir schlecht geht, seh’ ich gern, dass es euch schlechter geht“ kulminiert, wird man 2017 kein treffenderes Stück Musik über Europas Haltung zur Flüchtlingspolitik finden – dass diese ausgerechnet von einem jungen Schweizer stammen, ist durchaus bezeichnend. Insgesamt trifft Fabers vor einigen Jahren selbst getroffene Beschreibung ganz gut: „Ich schreibe (wahn)witzige, traurige und ernste deutsche Texte über bedingungslose Liebe, Identität, Moral, kleinkriminelle Idole und alles was einen sonst so beschäftigt. Am liebsten würde ich wie Jacques Brel klingen. Ich klinge leider anders.“

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Doch wären all die tollen Texte freilich kaum etwas wert ohne die dementsprechende musikalische Begleitung. Und auch da setzt Julian Pollina, dieser süße, meist verlegen drein blickende Wuschelkopf, dem eine ganz ähnliche, scheinbar von – gefühlt – tausend Whiskey-und-Kippen-Nächten gegerbte Stimmfarbe wie AnnenMayKantereit-Kopf Henning May geschenkt wurde (auch wenn dessen Texte bisher nicht über die vier Wände der Studentenbude hinaus zu blicken wagen), die Messlatte hoch an. Gemeinsam mit seiner über die Jahre zusammen gestellten Begleitband entwerfen die dreizehn Songs von „Sei ein Faber im Wind“ einen musikalischen Road Trip durch Europa. Da gibt es Stücke, die Zach Condons Weltmusiker von Beirut kaum besser zu Gesicht gestanden hätten (die Trompete in der einminütigen „Ouverture“!). Da kommen einem die großen deutschsprachigen Liedermacher von Hannes Wader bis Reinhard Mey in den Sinn, genauso wie die ewigen französischen Chanson-Schwerenöter von Jaques Brel bis Leonard Cohen (näher an diesem als mit dem feinen „J’ai toujours rêvé d’être un gangster“ von der „Alles Gute“ EP kann man dem Kanadier in deutscher Sprache ohnehin nicht kommen). Wer bei Stücken wie „Nichts“ nicht mindestens mit einem Fuß wippt, der dürfte klinisch tot sein. Anderswo, bei „In Paris brennen Autos“, klingt der Tango an, während ein Song wie „Lass mich nicht los“ neue Maßstäbe in Punkto französisch-fatalistischer Schwermut setzt. Insgesamt brennen Faber und seine Band, deren Äußeres einen an eine lässige europäische Festland-Version der frühen Mumford & Sons denken lässt, eine reichhaltige Melange aus Folk, Balkan-Humpta, Jazz und Weltmusik ab, während der 24-jährige Frontmann in seinen Texten tief in kaputte männliche Egos abtaucht, dorthin wo sexueller wie gesellschaftlicher Frust, (National)Stolz und latente Aggression ein tristes Schattendasein fristen. Dort, wo auch der schönste Smartphoneschein nicht die eigene existenzielle Leere überstrahlen kann. Europäische First World Problems im 21. Jahrhundert, gebannt auf der besten deutschsprachigen Platte des Jahres. „Sei ein Faber im Wind“ ist mal leichte, mal fordernde Musik, jedoch zu jeder Minute große Kunst, durch und durch.

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Wer sich beim Hören des Debütalbums (zur Lektüre danach sei euch auch dieser „Musikexpress“-Artikel über Faber empfohlen) nicht allein auf die Musik beschränken mag, für den haben Faber zu nahezu jedem Albumstück ein oft ungewöhnliches, jedoch in jedem Fall ansehnliches Musikvideo gebastelt. Hier gibt’s die YouTube-Playlist:

 

Dass Faber durchaus Sinn für Humor und Ironie hat, beweist, dass er das Persiflage-Video von Luksan Wunder via Facebook mit „größte Ehre“ kommentierte:

 

Auch interessant: Fabers Auftritt bei Inas Nacht“, bei welchem er „Alles Gute“ zum Besten gab…

 

…sowie das „Blind Date“ mit „Musikexpress“-Redakteur Fabian Soethof, bei dem dem Schweizer Newcomer Einiges an (ihm meist hinlänglich bekannter) Musik vorgespielt wurde:

 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Sophie Hunger – The Rules Of Fire (2013)

Sophie Hunger - The Rules Of Fire (Cover)-erschienen bei Two Gentlemen Records/Rough Trade-

„Akzeptiere, dass Du nie Jesus oder Leonardo Da Vinci sein wirst! Rechtfertige Dich nie für Deine Arbeit! Denk immer daran, dass Charlie Chaplin ein großartiger Geschäftsmann war und Bob Dylan so aussehen wollte wie er. Versuch niemals zu gefallen! Geh nie mit einem Drink auf die Bühne!“  Oha! Willkommen in der Dogmenschreinerei?

Keine Angst, so weit kommt’s bei Sophie Hunger noch lange, lange nicht! Denn wer die 30-jährige Schweizer Musikerin – besser: ihre Alben und Songs – kennt, der weiß, dass diese Grenzen nur die äußere Hülle berühren. Und doch hat die aus Bern stammende Emilie Jeanne-Sophie Welti, die sich damals, 2006, zu Zeiten der Veröffentlichung ihres ersten Soloalbums „Sketches On Sea„, den Künstlernamen „Sophie Hunger“, zusammengesetzt aus ihren zweiten Vornamen sowie dem Geburtsnamen ihrer Mutter, verlieh, ihr erstes offizielles Livealbum ausgerechnet „The Rules Of Fire“ getauft. Was es mit dem Titel auf sich hat, erklärt die Künstlerin denn auch im begleitenden 60-minütigen Dokufilm des französischen Regisseurs Jeremiah, der Hunger hierfür auf ihrer zurückliegenden Tournee begleitetet, selbst: Zehn Regeln für den Künstler. Zehn Regeln zur Wahrung der Würde und Freiheit. Der Rest? Ist Intuition, ist wandelbar…

Sophie Hunger (Augustin Rebetez)

Dabei weiß Sophie Hunger, ihres noch recht jungen Alters zum Trotz, wovon sie spricht. Bereits seit ihrer Jugend macht die Schweizerin, die als Tochter eines Diplomaten nicht selten Länder und Wohnorte wechseln musste, Musik, spielt anfangs in Bands, kollaborierte mit so einigen Künstlern (etwa mit der Schwytzerdütsch-Rapperin Big Zis, dem französischen Jazztrompeter Erik Truffaz oder jüngst mit dem Ex-Freundeskreis’ler Max Herre), verfolgte ansonsten stringent ihre Solokarriere – und sorgte gar als Schauspielerin und Filmmusikkomponistin – wenn auch in kleinerem Rahmen – für Aufsehen (im Zuge der Indie-Produktionen „Der Freund“ und „Der Fremde“). Schon ihr zweites, 2008 erschienenes Album „Monday’s Ghost“ bot einen Großteil der Eigenarten und Faszinationen auf, die Hunger noch heute ausmachen: brillante Dramaturgien zwischen zuckersüßen, süchtig machenden Melodien, kleinen Experimenten und schwermütigen Ernsthaftigkeiten. Die Musikerin legte damit einen Senkrechtstart ins Bühnenlicht der breiten Öffentlichkeit hin, die sich mehr als einmal verwundert die Augen reiben durfte ob der Tatsache, dass eine so weltgewandte und uneitle Person ausgerechnet aus der sonst so kleinlauten und neutralen Schweiz kommen sollte (erinnert sich wer an DJ Bobo?). Bereits zwei Jahre darauf legte Hunger mit „1983“ den nächsten Albumstreich nach, der noch reifer, noch formvollendeter, noch toller, verspielter und ernsthafter ums Eck lugte. Wer Zweifel hegte, der durfte besonders beim absolut zeitgeistig ausformulierten Titelstück oder dem grandiosen Noir Désir-Cover „Le vent nous potera“ (ANEWFRIEND schrieb hier bereits darüber) eines Besseren belehrt werden. Die Qualität blieb denn auch im Ausland nicht verborgen. So waren Sophie Hunger und Band 2010 die erste (!) Schweizer Kombi auf der Bühne des altehrwürdigen Glastonbury Festivals, während man andererseits auch ausverkaufte Ränge beim trés sophistiqué Montreux Jazz Festival oder dem legendären Paris Klub „Cigale“ bespielte. Die Musikerin konnte das, durfte das, denn ihr Mix aus Singer/Songwritertum, Jazz, Pop, Blues und Rock gab es her. Und dennoch schlug sie im vergangenen Jahr mit ihrem bislang letzten Studioalbum „The Danger Of Light“ wieder in eine andere stilistische Kerbe. Mehr den je hieß die Losung des irgendwo zwischen Los Angeles, Montreal und der heimatlichen Schweiz aufgenommenen Songverbunds, auf welchem unter anderem auch der virtuose Red Hot Chili Peppers-Gitarrist Josh Klinghoffer zu hören ist: „Alles kann, nichts muss“. Mal melancholisch, mal bedrohlich, mal beschwingt und mal weltweise – Sophie Hunger wechselte und wechselt Stimmungen wie die Sprachen, in denen sie singt. Und bereits da hat sie von Englisch über Französisch bis zu Deutsch und Schwytzerdütschen Mundarten so Einiges in petto…

Foto: © Marco Zanoni, 2007

Foto: © Marco Zanoni, 2007

Nun also zieht Sophie Hunger nach vier Alben Revue. Dabei teilt sich „The Rules Of Fire“ in zwei Seiten: „The Live“ mit zwölf Favoriten aus ihrem Liverepertoire einerseits, „The Archives“ mit elf Raritäten, unveröffentlichten und frühen Stücken andererseits. Am Ende der über 90 Minuten bleibt unterm Strich wohl Hungers größte Stärke hängen, denn wenngleich ihre Studioalben schon eine Menge Virtuosität, Talent und Hintergründigkeit versprühen – auf der Bühne wird all das noch um ein Vielfaches intensiver. Klar sind es auch hier die Albumfavoriten, die herausragen. Über das clevere „Das Neue“ („Dreißig ist das neue Zwanzig / Der Mann ist die neue Frau / Freiheit ist das neue Gefängnis / Und reich ist das neue Schlau / Islam ist die neue katholische Kirche / Und Deutschland die neue Türkei /…/ Zuckerberg ist der neue Kolumbus / Der Bankmann die neue Aristokratie / Gesundheit ein neuer Exorzismus / Et la fatigue c’est la nouvelle follie / Nichtraucher sind die neuen Raucher / Alte fühlen sich neu, immer jünger / Intelektuelle sind neu völlig unbrauchbar / Frei zum bestehlen ist neu,  Sophie Hunger“) könnten sowohl Philosophie- als auch Germanistikstudent ganze Abhandlungen schreiben. Die noch immer großartig apokalyptische Zäsur „1983“ trägt die Musikerin auch hier mit einer Menge Intensität vor – und stellt ihr wohl nicht eben zufällig das beschwingte „LikeLikeLike“ nach. Denn obwohl auch im Bühnengewand von „The Rules Of Fire“ die akustisch reduzierten Instrumente wie Gitarre, Piano oder Upright Bass dominieren, wird schon mal die Posaune losgelassen („Souldier“), setzt das Piano zu einem kurzen Hechtsprungversuch in Richtung Freejazz an („Das Neue“), setzten E-Gitarrensoli kurze, prägnante – und wichtige! – Akzente („Citylights Forever“, „My Oh My“), bei denen sich denn auch Hunger kurze Pausen gönnt. An den Enden der jeweiligen Seiten stehen dann die Stimmen für sich: im schwytzerdütschen – genauer: berndeutschem – „Z’Lied vor Freiheitsstatue“ träumt die Künstlerin zu Gesangsharmonien von der großen weiten Welt, während sie im Gedicht „A Letter To Madonna“ der einstigen „Queen Of Pop“ boshaft augenzwinkernd all ihre Übelkeit ins Gesicht schreibt „I don’t like how you speak to yourself when you speak to someone else. Dear Madonna, changing your clothes every day does not make you special – it just makes you change your clothes a lot…“. Klasse, wem Klasse berührt…

Sophie Hunger (Augustin Rebetez)

The Rules Of Fire“ bietet in Kombination mit dem Dokufilm und dem 48-seitigen Bild- und Wortband einen gelungenen Einblick ins bisherige Schaffen der Schweizer Musikerin. Dabei sind Hungers Songs weltweise, ohne zu belehren (wie schrieb das SRF so schön: „Hungers Texte tragen Frage-, eine Ausrufezeichen“), sind nachdenklich, ohne in unnötig dunkle Gefilde zu verschwinden, sind virtuos, feinsinnig und luftig, jedoch nie gekünstelt oder gar künstlich. Denn bei allem Weltbürgertum hat sich Sophie Hunger noch immer ihre Bodenständigkeit bewahrt, nimmt zwar ihre Musik ernst, sich selbst jedoch nicht – Ironie, Authentizität und die gewisse nötige Prise Anarchie müssen sich schließlich keinesfalls ausschließen. Man darf Vergleiche wie den des „größten Schweizer Exports“ oder den der „Poplyrik in vier Sprachen für emanzipierte Bob Dylan-Freunde“ getrost ad acta legen, denn Sophie Hunger hat längst mehr als das zu bieten. „Never try to please!“ Gefallen, ohne gefallen zu wollen? Wenn’s dann noch gut geht – reife Leistung…

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Hier gibt’s einen kurzen Trailer zum begleitendenden Dokufilm…

 

…sowie die Musikvideos der jüngsten – und meines Erachtens höchst gelungenen – Zusammenarbeit mit Max Heere in Form des Stückes „Fremde“…

 

…zu „LikLikeLike“, in welchem Miss Hunger fussballkickend wie einstweilen David Beckham durch Paris spaziert…

 

…und dessen filmischer Fortsetzung „Souldier“ (bei beiden Videos führte übrigens der Doku-Verantwortliche Jeremiah ebenfalls Regie):

 

Außerdem findet ihr hier Sophie Hungers Interpretation des Noir Désir-Evergreens „Le vent nous portera“…

 

…und ihr komplettes Gastspiel beim diesjährigen „Haldern Pop“-Festival:

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Song des Tages: Noir Désir / Sophie Hunger – „Le vent nous portera“


Sophie Hunger- Le vent nous portera

Noir Désir dunkles Verlangen. Wäre das nicht ein wenig over the top pathetisch, könnte man meinen, der Name seiner Gruppe wäre für den französischen Sänger Bertrand Cantat zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden…

Wobei: geworden? Schon immer umwehte die in den frühen Achtziger Jahren in Bordeuax gegründete Band ein melancholisch-düsterer Nebel – auf den Anfangsalben, welche Punkrock mit französischem Einschlag boten, ebenso, wie während ihrer Bühnenauftritte. Doch erst mit dem 2001 erschienen Album „Des Visages Des Figures“ verdichteten Noir Désir ihren Bandsound zu einem dunkel schimmernden Amalgam, welches Einflüsse aus Alternative Rock, Jazz, Folk und Weltmusik einbezog und  für einen musikalischen Wimpernschlag von 68 Minuten Frankreich zur gefühlten heimlichen Weltmusikhauptstadt machte. Und zu kaum einer Band passen wohl folgende unheimliche Fakten besser als zu Noir DésirDes Visages Des Figures (Cover)

Fakt eins: Ausgerechnet jenes Album, das mit inwendigen Angsthymnen wie „L’Appartement“ oder „L’Europe“ nicht eben Zuversicht auf die Zukunft bereitete, erschien am 11. September 2001 (!) – und mögen auch vermeintlich findige Fernsehjournalisten Enya als Tröster-Heulboje für passabel gehalten haben, DAS HIER, „Des Visages Des Figures„, ist der wahre Soundtrack zu einem der memorabelsten Tage der jüngeren Menschheitsgeschichte! Neben Radioheads „Kid A“ und „Amnesiac“. So man so etwas denn braucht. Zumindest für mich.

Fakt zwei: Im Juli 2003 verprügelte Bertrand Cantat seine damalige Freundin, die aufstrebende französische Schauspielerin Marie Trintignant, nach einem Streit in einem Hotel in der litauischen Hauptstadt Vilnius so stark, dass diese ins Koma fiel und nicht mehr daraus erwachte. 2004 wurde er zu acht Jahren wegen Totschlags verurteilt, kam jedoch nach dreieinhalb Jahren wegen guter Führung wieder frei. Und doch kam Cantat, der bisher als schüchtern und zurückhaltend gegolten hatte, nach all dem nie wieder auf die Beine. Ebenso wie Noir Désir, die mit dem Nummer-Eins-Album „Des Visages Des Figures“ (in Frankreich und Belgien) den Durchbruch geschafft zu haben schienen. Nach einem versuchten Neustart verließ Gitarrist und Gründungsmitglied Serge Teyssot-Gay „wegen persönlicher und musikalischer Differenzen mit Bertrand Cantat“ die Band, die verbliebenen drei Mitglieder gaben wenig später die Auflösung von Noir Désir bekannt.

Noir Désir - Le vent nous portera

Was bleibt, ist dieses Album: „Des Visages Des Figures“, das auch nach über zehn Jahren zu gleichen Teilen – und beinahe in beängstigendem Maße – so abstoßend wie anziehend wirkt. So, als hätten die zwölf Stücke schon in der Zeit ihrer Entstehung all die dunklen Schatten der Zukunft in sich getragen. Und auch nach all den Jahren, die mich das wohl beste Stück des Albums, „Le vent nous portera“, nun schon begleitet, geht mir der Song, bei welchem übrigens ein gewisser Manu Chao an der Gitarre zu hören ist, noch immer zu Herzen. Wegen dem Text (eine deutsche Übersetzung findet ihr nachstehend). Wegen der Musik. Wegen der Band. Wegen all der Dinge und Geschichten, die sich um die Noten und Zeilen und die Zeit ranken…

Nur zu gut, dass die von mir höchst geschätzte schweizer Musikern Sophie Hunger 2010 beschloss, das Stück für ihr Album „1983“ zu covern. Ihre Interpretation steht dem Original dabei in nichts nach, fügt der Noir Désir-Version mit melancholisch-ruhigen, angejazzten Grundtönen und einer einsam und groß aufspielenden Trompete sogar noch neue Aspekte hinzu. Tolle Frau. Tolles Lied. Ewig großes Lieblingsstück.

 

Weil der Wind uns tragen wird

Ich hab‘ keine Angst vor dem Weg,
Weil ich ihn sehen will, ihn auskosten will,
Jede Biegung, jede Windung, bis es gut ist,
Weil der Wind uns tragen wird

So wie all‘ das, was du den Sternen sagen würdest, 
Wie der Lauf der Dinge, 
Wie die Zärtlichkeit und der Schlag, 
Wie anderer Tage Paläste, von gestern, von morgen

Ein flüchtiger Eindruck wie aus Samt,
Und dann kommt der Wind und trägt alles davon

Unser Erbgut, unsere Gene nimmt er,
Trägt sie in die Luft, in die Atmosphäre,
In die Galaxie, wie ein fliegender Teppich,
Der Duft der Jahre davor und all‘ das, was Einlass verlangt an deiner Tür,
Diese Unendlichkeit von Schicksalen, wovon man eines lebt,
Und was bleibt von all‘ dem zurück?

Eine Flut, die beständig steigt,
Eine Erinnerung, die jeder ab und zu hat, im Herzen des Schattens,
Der vor mir bleibt, 
Nehme ich mit mir die Spur, die von dir bleibt

Bis der Wind alles davonträgt

 

Hier Sophie Hungers Version in einem Livemitschnitt…

 

…und hier zum Vergleich das Original von Noir Désir:

 

Natürlich sind neben dem monumental-abgründigen Noir Désir-Werk „Des Visages Des Figures“ und dem bereits erwähnten Sophie Hunger-Album „1983“ (auf welchem die Coverversion zu finden ist) auch die letzten Alben der begabten Schweizerin, „Monday’s Ghost“ von 2008 und das im letzten Jahr erschienene „The Danger Of Light„, auf welchem unter anderem der derzeitige Red Hot Chili Peppers-Gitarrist und Josh Frusciante-Schüler Josh Klinghoffer zu hören ist, sehr und uneingeschränkt zu empfehlen.

Hier drei weitere Stücke von Sophie Hunger, welche, wie „Le vent nous portera“ auch, während der „1983 – Now…live“-Session aufgenommen wurden:

 

 

Rock and Roll.

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