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Song des Tages: mastersystem – „Notes On A Life Not Quite Lived“


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Fast, aber nur fast, hätte ich glatt die Veröffentlichung dieser Platte vor einer Woche verpennt! Was eigentlich gar nicht passieren könnte, handelt es sich bei „Dance Music“ – nomen ist in diesem Fall einmal nicht omen und wohl vielmehr mit einem schottischen Augenzwinkern zu sehen – um das Debütalbum der neusten schottischen Supergroup, welcher darüber hinaus noch zur Hälfte aus Mitgliedern der seit eh und je auf diesem bescheidnen Blog verehrten Frightened Rabbit sowie zu je einem Viertel aus einem Mitglied der Editors und Minor Victories besteht. Holla, die Vorschusslorbeeren!

Diesen werden mastersystem für all jene gerecht, die musikalisch in den seligen Neunzigern sozialisiert wurden, denn die gerade einmal neun Songs des Debüts geben dem geneigten Hörer nichts weniger als den Glauben an den crunchy, direkt und ohne große Schnörkel auf Tape gebannten Indierock dieses Jahrzehnts zurück. Und wer die alte Schrammelschrabnelle – mit viel auf Radau gebürsteter Liebe und Herzblut fürs Detail im Gepäck – derart wieder zum Glühen bringt, kann wahrlich kein Schlechter sein…

51guWedpEXLSchon unglaublich gut, wie die mit den Geschwistern Scott Hutchison und Grant Hutchison (Frightened Rabbit), Justin Lockey (Editors) und James Lockey (Minor Victories) dezent prominent besetzte Band, deren Grundstein der Legende nach an einem übelwettrigen Tag in Berlin anno 2016 gelegt wurde, die alte Indie-Flamme wieder zum Lodern bringt und auch das Spiel mit dem langsamen Distortion-Schrammelaufbau zu gesanglichem Lament ebenso beherrscht wie eindrucksvolles Laut-Leise-Stop’n’Go mit Bratzgitarren im Wechselspiel mit Scott Hutchisons zuweilen einsam Raum stehendem Gesang. Die Gitarren haben oft den unwiderstehliche wogenden Klangwucht-Punch der frühen Smashing Pumpkins, gepaart mit Wall-of-Sound-Shoegazer-Anleihen á la Slowdive oder My Bloody Valentine, und einem allzeit wummernden Bass im Stile von Nirvanas „In Utero“. In nicht wenigen der Songs ergeben sich dank der Kombination mit Hutchisons prägnanter Stimmfarbe Momente, in denen einem Sebadoh in den Sinn kommen könnten, in anderen Momenten denkt man wohl an atonale Noise-Indierocker der Sonic Youth’schen Duftmarke, wobei einmal mehr die Gesangsmelodien hängen bleiben und die Scheibe eindrucksvoll über die leider lediglich 35 Minuten tragen. Erstklassige Wiederbelebung der Neunziger gefällig? So und nicht anders, bitte!

 

Hier gibt es das Musikvideo zur ersten – und dezent großartigen – Single „Notes On A Life Not Quite Lived“:

(oder via YouTube…)

 

Mehr Infos aus den Mündern der Band zu den einzelnen Songs von „Dance Music“ gefällig? Auf GoldFlakePaint findet man ein Track-by-Track-Interview mit mastersystem…

 

Rock and Roll.

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Auf die Plätze, fertig, Kuss! – Ein zweiter Blick auf den „10 first kisses“-YouTube-Hit


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Im Grunde dürften das alles alte Hüte des vitalen Marketings sein: Eine Marke tarnt sich besonders subtil hinter schönen Bildern, die mal besonders witzig, mal besonders ausgefallen, mal besonders anstößig, mal besonders herzzerreißend oder eben aufs Schönste stilisiert und besonders trivial daherkommen. In jedem Sinne: besonders muss es sein, ansonsten geht ein so kleines Datenpaket – sei es nun in Schrift-, Bild- oder Videoform – schnell in schnelllebigen digitalen Zeiten wie diesen, wo eine vermeintliche heiße Neuigkeit längst die nächste jagt, schnell verloren und unter. Und wer sich einmal zwei, drei Minuten Zeit nimmt und überlegt, welche Beispiele es da in letzter Zeit gegeben haben könnte, der wird sicherlich schnell im Hinterstübchen der Erinnerung fündig: etwa der sehr sehr geile Greis Friedrich Liechtenstein, der mit seinem „supergeilen“ Flaniertanz durch die Regalreihen von Edeka zur „deutschen Antwort auf den Gangnam-Style“ avancierte, oder das dezent skandalöse Oben-ohne-Werbeplakat einer Muslima der US-aerikanischen Bekleidungskette American Apparel. Ganz klar: Fünf Minuten Web-Fame sind mit etwas Kreativität und Glück für Jedermann drin, und bei guten Bildern nimmt das Gros der Klickenden gern die unterschwelligen Reklamebotschaften in Kauf.

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Das beweist auch das neuste Beispiel in der Reihe der „gut getarnten Kommerzpropaganda“, welchem etwa die Online-Ausgabe des Spiegel den so treffend nichtssagenden Titel „Zehn erste Küsse“ gab. Und wirklich: Würde man das etwa dreiminütige Video der (käuflichen) Visual-Künstlerin Tatia Pilieva nicht weiter hinterfragen, so wäre es vor allem eines: eine besonders schöne Idee. Klappe Spiegel: „Was passiert beim ersten Kuss? Die Künstlerin Tatia Pilieva hat diese Frage mit einem Video beantwortet. In einem Fotostudio stellte sie zehn Paare zusammen, die sich vor der Kamera küssen sollten. Das Besondere daran: Die Personen kannten sich vorher nicht, sie begegneten sich zum ersten Mal.“ Bild.de haut gar – erwartetermaßen – noch derber mit der Pathos-Peitsche zu: „Knutsch-Video wird YouTube-Hit: Einmal küssen, bitte!“. Doch was im ersten Licht der Schwarz-weiß-Bilder wirkt wie die künstlerisch kompetente Zurschaustellung eines soziologischen Feldversuchs, ist im Grunde nichts weiter als eine ebenso einfache wie effektive Werbekampagne des Modelabels Wren Studio. Gut, man könnte der Bekleidungsmarke aus dem US-amerikanischen Lake Forest, Illinois zugute halten, dass es gar nicht erst so tut, als würde es sich hinter irgendwelchen romantischen Zeitlupenschmatzern verstecken, immerhin erscheint bereits zum Anfang des Videos: „Wren presents“. Und doch war wohl am Ende alles gar nicht so spontan und losgelöst, immerhin besteht Pilievas Zwanzig-Personen-Cast beinahe ausnahmslos aus in Kussszenen und Inszenierungen geübten Models, Musikern und Schauspielern, die freilich nicht nur die eigene Visage, sondern auch den – freilich von Wren Studio eingekleideten – formschönen Astralkörper in die Kamera hielten. Da ist die Frage, was nun echt ist und was Mienenspiel, nur allzu berechtigt. Oder wie es blog.rebellen.info – auch in Bezug auf die umfassende Berichterstattung in so ziemlich jedem News-Portal – so treffend formuliert: „Wenn selbst Journalisten nicht mehr zwischen Werbung und Inhalt unterscheiden können, dann wird Werbung zum Inhalt.“ Das hält die auf menschliche Urinstinkte geeichte Tatia Pilieva/Wren Studio-Koproduktion freilich keineswegs davon ab, fleißig Zuschauer einzusammeln – ganze 25 Millionen Mal wurde das Drei-Minuten-Filmchen in etwas mehr als zwei (!) Tagen allein auf YouTube angeklickt…

Letztendlich muss wohl wie immer jeder für sich selbst entscheiden, wie weit er der schönen Viral-Fassade im weltweiten Netz über die digitalen Datenwege traut. Denn obwohl auf dem einen Auge vor allem die künstlerisch wertvollen Absichten im Fokus zu stehen scheinen, so gilt auch hier: mit dem Zweiten sieht man besser. Oder man gibt sich vollkommen der Berieselung hin. That’s entertainment…

 

 

Rock and Roll.

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Abgehört…


Nix los gewesen in meinen Gehörgängen in der letzten Zeit? Weit gefehlt! Hier mehr oder minder kurz die ein oder andere interessante Beobachtung…

 

The Australian Pink Floyd Show – Live at the Hammersmith Apollo 2011 (2012)

Australian Pink Floyd-erschienen bei Blackhill/Edel-

Mit Coverbands ist das ja so ’ne Sache… Bei den meisten merkt man bereits nach wenigen Minuten, dass hier ein paar sehr enthusiastische Jungspunde (respektive: bierbäuchige, gestandene Mannsbilder mittleren oder gesetzteren Alters – man gestatte mir diese kleine Persiflage) zusammen gekommen sind, um – mehr schlecht als recht – ihren großen Idolen im Kleinen nachzueifern. Dass dabei Einsätze verpasst und kaum eine Tonlage getroffen oder gehalten werden kann – scheiß drauf, der Wille zählt!

Nun sollte man annehmen, dass sich eine – vor allem in ihrer Spätphase, und Dank ihres Ex-Kopfes Roger Waters – derart auf künstlerische Perfektion konzentrierte Band wie Pink Floyd als nahezu uncoverbare „heilige Art Rock-Kuh“ ausnehmen würde. Nix da! The Pink Floyd Sound (holländische Tribute Band), Pink Project, Pink Floyd Project, Echoes (die bekannteste deutsche Tribute Band), Brit Floyd (unverkennbar: aus Großbritannien), Pink Noise, Eklipse, The Floyd Sound – die Liste ist lang und könnte gern noch um einige Namen verlängert werden (wenngleich die polnische Kombo Pink Freud trotz ihres preisverdächtigen Namens nicht dazu zählt). Die weltweit beste Pink Floyd-Coverband sind jedoch ohne Zweifel The Australian Pink Floyd. Warum? Nun, wer je ein Konzert von „Aussie Floyd“ besucht hat, der merkt sofort, dass hier keine Kerle ans Werk gehen, die nur mal eben so, bei ein, zwei, drei Feierabendbieren, zusammenstehen, um die größten Schmonzetten ihrer Jugendhelden nachzuklimpern. Nein, die gut zehnköpfige Band um Leadsänger Steve Mac setzt seit ihrer Gründung 1988 im australischen Adelaide alles daran, ein möglichst perfektes Ebenbild der ewig großen Pink Floyd abzugeben – musikalisch wie visuell. Und das hört man, und das sieht man. Egal, welchen Song „Aussie Floyd“ sich zu eigen machen, es sitzt jede Note, (beinahe) jede Harmonie und jeder Akkord am angestammten Floyd’schen Platz. Dazu flimmern, ebenso wie damals bei den Originalen (oder nun bei Roger Waters Soloshows), kunstvolle Visuals über große LED-Leinwände, bevor ein überdimensionales Känguru am Bühnenrand erscheint (analog zum Floyd’schen Schwein – aber: hey, soviel Heimatverbundenheit hat Charme!).

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Einen ersten, umfassenden Eindruck hiervon kann man sich anhand des vor zwei Jahren in London mitgeschnittenen Livealbums „Live at the Hammersmith Apollo 2011“ machen. Die Setlist umfasst ebenso die unvermeidlichen Klassiker („Shine On You Crazy Diamond 1-5“, „Money“, „Breathe“, „Wish You Were Here“, „Another Brick In The Wall, Part 2“, „Comfortably Numb“…) wie kleine Obskuritäten wie „Careful With That Axe, Eugene“ oder die Syd Barrett-Komposition „Arnold Layne“ (aus dem Jahr 1967 und damit Pink Floyds erste Single überhaupt!). Keine Frage, hier sind begeisterte Könner am Werk. Die stilbildende Gesangsachterbahn „Great Gig In The Sky“ wird ebenso souverän bewältigt wie die – live! – ewig große Tour de Force „Comfortably Numb“ (als eindeutig an der Waters-Version geschulter Dreizehnminüter). Wer Unterschiede oder gar eigene Noten heraushören möchte, der muss – selbst als Floyd-Kenner – schon sehr genau zuhören. Ob „Aussie Floyd“ am Ende mehr sind als eine mächtig professionelle Tribute Show? Nun, zumindest wurde ihnen bereits vor einiger Zeit der Segen von den Original-Floyd-Mitgliedern erteilt, die Band spielte (und jamte!) gar auf dem 50. Geburtstag von Gitarrist David Gilmour. Analog zum Livealbum sei jedem jedoch die visuelle Variante (ob nun als Blu-ray oder DVD) ans Herz gelegt, denn ebenso wie bei Pink Floyd macht auch bei The Australian Pink Floyd erst der Gesamteindruck aus allen Komponenten das Bild richtig rund… Und bei nächster Gelegenheit heißt’s dann: live dabei sein!

 

(Wer mag bekommt anhand der halbstündigen Dokumentation „Welcome To The Machine“ einen Einblick ins Innenleben der höchst professionellen Coverband…)

 

 

Lee Ranaldo And The Dust – Last Night On Earth (2013)

Lee Ranaldo And The Dust - Last Night On Earth-erschienen bei Matador/Beggars-

A propos „ausschweifende Gitarrenhuldigungen“: Schlussendlich scheint der Quasi-Split der ewig krediblen New Yorker Rockinstitution Sonic Youth, dem am Ende schlicht und ergreifend das Beziehungsaus der beiden Köpfe Kim Gordon und Thurston Moore zugrunde lag, doch etwas Gutes bewirkt zu haben… Okay, der eine Teil (Moore) schrammelt sich mit ehemals coolem Indie-Krach der neuen Kapelle Chelsea Light Moving konsequent an den Rand der Beachtung, über den der andere Teil (Gordon) mit den feministisch beschmierten Feedback-Orgien des Projekts Body/Head per se bereits hinaus geschlittert ist. War da aber zu seligen Sonic Youth-Zeiten nicht noch jemand?

Klar, Lee Ranaldo, der dauerdienliche Gitarrist, der Gordon und Moore als Frontpaar stets die Indie-Bühnen überließ! Stattdessen spielt er die Saiten stets aus dem Schatten heraus und veröffentlichte damals unter eigenem Namen immerzu obskure, beinahe unhörbare Solo-Sachen – avantgarde as avantgarde can be. Dass ausgerechnet er nun der zugänglichste Soloaktivist der Sonic Youth-Bande sein würde, hätte wohl kaum jemand ahnen können… Umso überraschender fiel das im vergangenen Jahr erschienene „Between The Tides And The Times“ aus, für das sich Ranaldo keine Geringeren als Wilco-Saitenderwisch Nels Cline, Ex-Sonic Youth-Schlagmann Steve Shelley, den ebenfalls von Sonic Youth bekannten Bassisten Jim O’Rourke sowie Jazzer John Medeski zur Seite nahm. Heraus kam ein vor Fern- wie Heimweh wimmerndes, jedoch stets angriffslustiges Indierock-Gebräu, das den DIY-Bodensatz von Sonic Youth mit den mal zugänglichen, mal ausufernden Seiten/Saiten von Neil Youngs Crazy Horse, R.E.M., The Byrds oder Dinosaur Jr. vermengte. Überraschung? Definitiv gelungen!

Lee Ranaldo And The Dust

Und genau da setzt nun auch Ranaldos nächster Streich „Last Night On Earth“ an. Der apokalyptisch anmutende Titel kommt dabei nicht von ungefähr, entstand das Grundgerüst eines Großteils der neun neuen Stücke doch im Oktober 2012, als der von Hurrikan Katrina betroffene Musiker für eine Woche von Leitungswasser, Heizung und Elektrizität abgeschnitten war und lediglich auf seine Akustikgitarre zurückgreifen konnte. Umso erstaunlicher, dass  man nun ausgerechnet diesen Fakt eben nicht hört. Klar, die Endzeitstimmung, die fragile Ruhe vor dem Sturm, sie strömt dem Album quasi aus jeder musikalischen Pore. Und doch vernimmt man den Akustik-Unterbau nur sehr, sehr selten, während die nun eigenes mit Namenszusatz „And The Dust“ aufgeführte Backing Band aus Steve Shelley, Alan Licht und Ted Young in fast jeder der knapp 65 Minuten (mit Songlängen zwischen dreieinhalb und zwölf Minuten) ein wahres Jam-Feuerwerk abfackelt. Dass man sich beim Spinett in „Last Descent #2“ kurz an den Hof des französischen Sonnenkönigs  versetzt fühlt und einem das feinen Titelstück genüssliche Gänsehaut bereitet („The last night on earth / The last thing we wanted / Was to see the sunrise / The last thing we wanted / The last night on earth / Was seeing daylight in your eyes“), während sich der Rest in einen klaustrophobischen Rockrausch steigert, der in der finalen Existenzialismus-Endlosschleife „Blackt Out“ mündet, sind da gern genommene Nebeneffekte. Alles in allem hatte zwar der Vorgänger („Between The Tides…“) die besseren, kompakteren Einzelsongs – mit Ranaldo als Vordenker und Nels Cline als gekonntem Saitenmaler. „Last Night On Earth“ ist der Soloversuch eines Bandalbums des 57-jährigen Ex-Sonic Youth-Gitarristen, das von Furcht und Zuversicht in Zeiten von Occupy, nahenden Weltwirtschaftskrisen und allabendlichen Protestkundgebungen berichtet und nicht im Traum daran denkt, sich kompakt zu fassen. Darauf ein Saitensolo! Und allen, die neue, harmonisch getränkte Gitarrenschleifen als potentielle Folterinstrumente suchen, sei dieses Werk wärmstens empfohlen… Effekthascherei mit allerhand Effektgeräten.

 

Hier gibt’s den Albumopener „Lecce, Leaving“ in der „Buzzsession“-Variante:

 

 

Louise Distras – Dreams From The Factory Floor (2013)

Louise Distras - Dreams From The Factory Floor-erschienen bei Street Revolution Records-

Man lasse sich einmal folgendes Bild zart schmelzend und genüsslich grinsend vor dem inneren Auge zergehen: Der auf ewig unbelehrbar gut vom Klassenkampf klampfende Britenbarde Billy Bragg und die Ex-Distillers-Röhre Brody Dalle hätten auf einer besudelten Backstage-Couch heimlich Nachwuchs gezeugt und den seligen Clash-Frontmann Joe Strummer postum als Taufpaten bestimmt. Okay, zwischen Bragg und Dalle mögen ein, zwei Jährchen Altersunterschied liegen… Okay, der eine mag sittsam wirken, die andere im Rückspiegel der Inbegriff für die rockgewordene Gift-und-Galle-Spuckerei sein (und es mittlerweile wohl leider vorziehen, das Herdheimchen für die Brut von QOTSA-Frontmann Josh Homme zu geben)… Okay, dann würde der Nachwuchs kaum selbst schon auf der Bühne die Faust zur Akustischen erheben… Aber: Man nehme all dies einmal an. Und genau so klingt Louise Distras.

Louise Distras - Press-2

Nun hat die Mittzwanzigerin aus dem englischen Wakefield, die ANEWFRIEND im August bereits vorstellte, ihr Solodebüt in die Regale gestellt. „Dreams From The Factory Floor“ setzt dabei alles auf eine Punkrock-Karte und agiert ohne Netz und doppelten Boden. Und erzählt mal zur kämpferisch angeschlagenen Akustischen, mal zu munterem drauf los rockendem, pubseligem Punkrock Geschichten, die zwar am Bordstein beginnen, jedoch kaum in den höheren Etagen der trés chicen, very expensive Londoner Skyline enden. Stattdessen: graue Realitäten, soziale Missstände, herbe Rückschläge und die Aussicht auf die nächste Nine-to-Five-Schicht am Fabrikfließband. Und doch sind die innerhalb von 33 Minuten durchgerockten zwölf Stücke keine Tearjerker, denn ständig bleibt bei Distras die Erkenntnis, dass da am Ende der langen Nacht irgendwo irgendjemand da draußen ist, dem es genauso gehen mag – „Stand Strong Together“. Da darf dann schonmal die Mundharmonika gezückt („Black And Blue“), am Piano geklimpert („Love Me The Way I Am“), das Titelstück als Gedicht vorgetragen und mit viel Pathos und seltsam niedlichem Idealismus zu Werke gegangen werden. „Dreams From The Factory Floor“ ist kein Ausnahmealbum. Dafür ist es das Debüt einer realitätsnahen Träumerin, die – gefühlt – einer altvorderen Rockröhre wie Bonnie Tyler mal eben das rostige Abflussrohr der Punkschuppentoilette an den Hinterkopf zimmert. Sympathisch, das alles. Mit der Dame möchte man doch gern mal eine Kneipentour starten, oder?

 

 

 

Lissie – Back To Forever (2013)

Lissie - Back To Forever-erschienen bei Columbia/Sony Music-

A propos „Kneipentour“: Auch Lissie wäre wohl eine nicht eben unangenehme Kandidatin für eine ausschweifendes Saufgelage zu nächtlicher Stunde…

Gute drei Jahre ist es bereits her, dass die 31-jährige, aus dem US-amerikanischen Hinterland (aka. Illinois) stammende Musikern erst mit einer vielversprechenden EP, dann mit ihrem von Jacquire King (u.a. Kings Of Leon) und Bill Reynolds (Band Of Horses) in Form gebrachten Debütalbum „Catching A Tiger“ auf sich aufmerksam machte. Darauf zu hören: viel sonniger Middle Of The Road-Rock der besten Sorte, der auch gern mal ein genüsslich-nächtliches Melancholiebad nahm und Road Trips initiierte, bis der Tank des Oldtimers leer war und über einem nur noch die Sterne schienen. Dabei konnte die Dame auch noch so herrlich und nach Jungen-Manier fluchen, derbe drauf los rocken und brachte superbe Coverversionen – etwa von Lady Gagas „Bad Romance„, Metallicas „Nothing Else Matters„, Kid Cudis „Pursuit To Happiness“ oder Led Zeppelins „Stairway To Heaven“ – zustande, die sich beileibe nicht hinter den Originalen zu verstecken brauchten… Cool.

LISSIE

Dass Lissie nun mit ihrem zweiten, „Back To Forever“ betitelten Wurf nach Größerem greift, mag man ihr dabei nicht einmal jemand verdenken. Trotzdem benötigen die von Garett „Jacknife“ Lee (u.a. R.E.M., U2, Bloc Party) produzierten Songs den ein oder anderen Durchgang mehr als noch der Vorgänger, um ihren Weg ins Hörergehör zu finden. Und das hat seine Gründe, denn anders als bei „Catching The Tiger“ finden hier mal Folk-Rockpop mit angezeichneten 70er-Jahre-Disco-Vibes („Further Away (Romance Police)“), mal recht blasse Country-Pop-Durchschnittsware („I Don’t Wanna Go To Work“), mal aufgeblasene Powerpop-Ballade („They All Want You“) zusammen. Dass all das am Ende trotzdem funktioniert, liegt wohl an Lissies ausgeprägtem Gespür für tolle, eingängige Melodien sowie ihrem nicht nur – aber vor allem! – in „Sleepwalking“ an Fleetwood Mac-Ausnahmesirene Stevie Nicks erinnernden Gesangsorgan. Mit einer Stimme wie der nimmt man der Dame dann sogar die ausgefahrenen Krallen der (für sie) höchst ungewöhnlichen Vorab-Single „Shameless“  („I don’t want to be famous / If I got to be shameless / If you don’t know what my name is, name is / So what, so what?“) ab, lässt sie das ein oder andere genüssliche „Fuck“ oder „Shit“ in Richtung der vorderen Chartsregionen spucken oder mit „Mountaintop Removal“ einen Song – inklusive hymnischem Solo! – abliefern, der wie geschaffen ist als Abschlussstück eines großen Blockbusters (im besten Sinn).

Nein, „Back To Forever“ ist weder Lissies großes Rockalbum noch die Enttäuschung von in sie gesetzten Erwartungshaltungen. „Back To Forever“ macht es allen recht – und dabei paradoxerweise ebenso viel richtig wie falsch. „Back To Forever“ ist ein Album für lange Autofahrten bei zarten Sonnenstrahlen, zum Jahresende und dann wieder im nächsten Sommer. Aber Lissie, dieses feine All American Girl mit Mädchencharme und Gitarrengurt, in Holzfällerhemd, mit Grashalm im Mundwinkel und Diplom im Weitspucken, darf das. Denn Lissie ist ’ne Gute. Und wenn sie will, dann trinkt sie euch starke Männer wohl gern unter den Tisch…

 

Hier gibt’s die Videos zu „Further Away (Romance Police)“…

 

…und „Shameless“:

 

 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Lee Ranaldo – Between The Times And The Tides (2012)

-erschienen bei Matador-

Ein Roadtrip. Der Tank ist voll, Tequila und zwei Stangen Zigaretten liegen im Koffer verstaut auf dem Rücksitz. Der Schlüssel rastet ins Zündschloss ein, der Motor startet mit einem Rumpeln, und schon geht’s los…
Keyboards, sachte E-Gitarrenakkorde, dann das erste Riff. Kurz darauf nimmt „Waiting On A Dream“ Fahrt auf. „Comin‘ down from Colorado / Took a late night trip out of the snow / I need to see your face tomorrow / Just an hour or two before you go“ – Lee Ranaldo begibt sich auf eine Reise, die eigene Historie stets bewusst im Rückspiegel, den Blick offen für alles, was vor und um ihn geschieht. Schon bald entschwindet alles ins Feedback und machen den Weg frei für „Off The Wall“. Mit Textzeilen wie „Chaos in the streets / These are the days of rage“ beschreibt er die Stimmung, die universell die in den USA, jedoch auch die in Europa oder im Nahen Osten beschreiben könnte. Nichts und niemand ist mehr sicher, alles kann, darf und sollte in Frage gestellt werden. Gleichzeitig merkt er an, er sei lediglich „Half a man / Trying to get home“. Zu hause – wenn er wüsste, wo das wär’… „Explosions in the city / Explosions deep in me“ – der wütende Mopp auf den Straßen steht sinnbildlich für das Infragestellen im Inneren. Bei „Xtina As I Knew Her“, mit etwa sieben Minuten das längste Stück des Albums, sieht Ranaldo in einem Meer aus Gitarrenspuren Erinnerungen an eine alte Freundin vorbeiziehen, im nicht minder gitarrenlastigen „Angles“ werden die endlos scheinenden Sommer der Jugend besungen, der warme Regen und die Sterne. „Hammer Blows“ beginnt mit einer einsamen Akustikgitarre. „Last night I stopped by your house, in the rain / But I could see you weren’t home / … / Maybe I see you out on the road“ – die alte Freundin ist längst weitergezogen, und nach dem kurzen Zwischestopp will sich nun auch Ranaldo wieder auf die Highways begeben, als ihm plötzlich jemand unvermittelt auf die Schulter klopft. „It’s nice to have you back / I wasn’t ready for a change / Here’s a present for the road / I’ll give you back your name“ – eine Trennungshymne par excellence, bei der jeder Akustikgitarrenakkord ins Seelenfleisch schneidet und das Klopfen der Faust auf den Klangkörper am Ende dem des eigenen Herzens gleicht. Wieder zurück auf der Straße lassen einen der Einstieg und die Soli von „Fire Island (Phases)“ an Hendrix‘ grandiose „All The Watchtower“-Coverversion denken, das Gaspedal durchdrücken und all den Gefühlsunrat schnell kleiner werdend im Rückspiegel zurücklassen. Im darauffolgenden „Lost“ mit seinem vorwärtspreschenden Schlagzeug geht’s dann auch schon reichlich beschwingter zu. „You’re lost but you’re whole“ – es gibt wohl für viele Menschen nichts Heilsameres, als sich in der Fremde zu verlieren… „Shouts“ berichtet dann mit all seinen bedrohlichen Gitarrenspuren, Backgroundchören und der Reporterstimme aus dem Off wieder von der Stimmung auf den Straßen der Großstädte: „This whole world’s upside down / I still can hear the shouts“. Den krassen Gegensatz dazu bildet „Stranded“. Ranaldo ist nach endlosen Meilen und vielen Widrigkeiten in einem einsamen Motel am Rande einer „town full of jerks“ gestrandet, sehnt sich nach seiner Liebsten, will nichts anderes als ihr nahe sein. Doch das stete Klingeln am anderen Ende der Leitung lässt nicht einmal ein paar tröstende Worte zu. Die sucht er folglich auf dem Boden der Teqilaflasche aus seinem speckigen Koffer, der wohl bereits mehr Meilen gesehen hat als die meisten seiner US-amerikanischen Landsleute. Das abschließende „Tomorrow Never Comes“ leidet am Folgetag noch unter einem leichten Kater, die unbarmherzigen Sonnenstrahlen tun ihr übriges. Und doch muss es, obwohl man „nowhere to call home“ hat, doch irgendwie weitergehen. Ranaldo verlässt das Motel, steigt in seinen Wagen, dreht den Zündschlüssel und begibt sich wieder auf die Reise. In den Städten sieht er Leute die staubigen Straßen ihrem Alltag hinterherlaufen. Und weiß, dass sie tief in ihrem Inneren ebenso Sinnsuchende sind wie er selbst.


Während sich Lee Ranaldo bei Sonic Youth mit seinem Saiteninstrument in den vergangenen 30 Jahren im Hintergrund aufhielt und dem Paar aus Thurston Moore und Kim Gordon die große Indie-Bühne überließ, tritt er nach deren Trennung um dem damit verbundenen Quasi-Split seiner bisherigen Hauptband auf seinem mittlerweile achten Soloalbum (Live-Alben und EPs nicht mitgerechnet) nun selbst ins Rampenlicht und beweist, dass er alles andere als ein austauschbarer Melodiengehilfe ist. Im Studio standen dem „George Harrison von Sonic Youth“ (Zitat von Plattentests.de) dabei, neben Produzent John Agnello, sein (Noch-)Bandkollge Steve Shelley sowie Ex-Bandkollege Bob Bert am Schlagzeug, Nels Cline von Wilco an der Leadgitarre, Ex-Bandkollege Jim O’Rourke und der Jazz-Musiker John Medeski zur Seite. „Between The Times And The Tides“ ist ein beinahe klassisches Songwriter-Album geworden, das den schwierigen Spagat meistert, gleichzeitig spontan und kunstvoll zu erscheinen, zu gleichen Teilen Mucker-Jam unter Freunden im Studio und unheilsschwangere gesellschaftliche Bestandsaufnahme. The Beatles, R.E.M., Rolling Stones, The Byrds, Neil Youngs Crazy Horse, Dinosaur Jr. und J. Mascis – ein wildes Potpourri an Rockmusik-, Country- und Folk-Assoziationen wird hier wach. „Between The Times And The Tides“ ist ein kurzweiliger Soundtrack für sommerliche Roadtrips, ohne jedoch den erforderlichen Tiefgang missen zu lassen. Chapeau, Mr. Ranaldo! Sollte sich Ihre Zeit bei und mit Sonic Youth tatsächlich dem Ende neigen, Ihnen muss nicht bange vor der Zukunft sein. Wo immer Sie die Straßen auch hinführen mögen…

Wer möchte, kann sich das komplette Album hier, über die US-amerikanische Online-Ausgabe des Rolling Stone, im Stream anhören.

Hier das Video zu „Off The Wall“:

 

Rock and Roll.

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