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Song des Tages: Gerry Cinnamon – „Head In The Clouds“


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Wer zur Hölle ist bitte Gerry Cinnamon? Das neuste englische Fussballtalent aus den Nachwuchsschmieden von Liverpool, Arsenal oder Manchester United etwa? Einer von vielen Travestiekünstlern aus dem – zumindest unter normalen Umständen – stets gut besuchten bunten Nachtleben der Hamburger Reeperbahn? Nee? Ein Musiker von den britischen Inseln? Ach, da schau her! Und bei genauerem Hinhören ist’s schon erstaunlich, dass ausgerechnet er – der zugegebenermaßen recht dämliche Künstlername mal außen vor – bislang keine Erwähnung beim deutschen „Rolling Stone“ fand…

41oupB9kIjL._SS500Im heimischen UK hat sich Gerry Cinnamon nämlich längst einen Namen über sämtliche Geheimtipp-Stati hinaus gemacht. Das Bemerkenswerte dabei: Der Singer/Songwriter, der 1984 als Gerard Crosbie holterdiepolter in diese Welt fiel und im Glasgower Arbeiterdistrikt Castlemilk aufwuchs, erspielte sich diesen Erfolg in den vergangenen sechs Jahren ganz ohne groß angelegte PR-Maschinerie, sondern im Wechselspiel von Oldschooligkeit und Zeitgeisthöhe vielmehr mit Hilfe von Schwarnbegeisterung und Sozialer Medien. Nachdem Crosbie ein paar Erfahrungen in lokalen Bands gesammelt hatte (eine davon hieß eben „The Cinnamons“, womit nun auch schnell das Mysterium seines Künstlernamens geklärt wäre), schnappte er sich seine Akustische und trat immer öfter als Solo-Künstler bei Open-Mic-Abenden in einer Bar in der Sauchiehall Street im Glasgower Zentrum auf. Seine „brutal ehrlichen“ Songs, die der Singer/Songwriter-Newcomer mit breitestem schottischen Akzent vortrug (daran hat sich auch bis heute erfreulicherweise herzlich wenig geändert) machten schnell als (ab)gefeierte außergewöhnliche Live-Shows die Runde, die Verbreitung dieser Neuigkeiten via Facebook und Co. als neue Mundpropaganda verlief also fast zwangsläufig. So waren alsbald auch seine Ein-Mann-Shows in Schottland, Irland und England binnen weniger Minuten ausverkauft und das anwesende Publikum zeigte sich auch abseits von Songs wie den Singles „Sometimes“ oder „Belter“ jederzeit textsicher, wie so einige Live-Aufnahmen im Netz beweisen. Keine Frage, dass sich Gerry Cinnamon begeistert ob der Entwicklung zeigte: „Es bedeutet, dass jeder Mensch, der zu meinen Konzerten kommt, aufgrund seiner Liebe zu meinen Songs kommt. Und genau das zeigt sich auch. Von dem Moment, wo die Türen aufgehen, fängt das gesamte Gebäude an zu wackeln. Es ist ein verrücktes Gefühl, wenn die Masse jedes einzelne Wort mitsingt. Selbst das schönste Chaos kann an dieses Gefühl nicht heran reichen.

Das 2017 in Eigenregie veröffentlichte und selbst produzierte Debütalbum „Erratic Cinematic“ erreichte kurz nach dessen digitaler Veröffentlichung die Spitze der iTunes-Charts, und nur ein Tölpel würde wohl nicht annehmen, dass das ein oder andere Majorlabel angesichts der Top-10- und Top-20-Erfolge in den schottischen, irischen und UK-Charts noch nicht bei ihm angeklopft haben dürfte. Trotzdem erscheint heute auch der Nachfolger „The Bonny“ auf dem eigenen Label – der Glasgower Songwriter bleibt sich also treu, und das nicht nur im Hinblick auf seine Vertriebswege. Den im UK redlich erarbeiteten Mini-Kultstatus sollte Gerry Cinnamons Zweitwerk einen weiteren Schub verleihen. Und definitiv neue Anhänger auch außerhalb des UK bescheren, schließlich führt der 35-Jährige in den zwölf neuen Songs den eingeschlagenen Weg konsequent weiter fort…

81wUmoLooAL._SL300_Gesang, semiakustische Gitarre, ein paar simple Drumparts und Harp – alles vom ersten Album Bekannte, und auf der Bühne solo hervorragend Funktionierende, findet man auch auf „The Bonny“ wieder. Es ging für Cinnamon auch wieder gut los: Die erste, bereits im vergangenen Oktober veröffentlichte Single „Sun Queen“ eroberte die Spitze der UK-Vinyl-Singles-Charts. Kaum verwunderlich, bietet der Song doch vier Minuten lang ebenjenem anschmiegsamen, dezent romantischen Indie-Songwriter-Pop, der die Emotionalität Cinnamons in geradezu geschmeidiger Form einfängt. Überhaupt dürften alle, denen schon die direkte, rohe Intensität von „Erratic Cinematic“ zusagte, auch mit „The Bonny“ schnell warm werden, denn obwohl manch ein Stück nun etwas voller und mutiger zu Werke geht, behält Gerard „Gerry Cinnamon“ Crosbie all seine Trademarks von der Akustischen bis zum Glaswegian Akzent bei und changiert noch immer gekonnt zwischen Billy Bragg (mit etwas weniger seligem Ernst) und Oasis (ohne die allzeit auf Krawall gebürstete Rowdy-meets-Gigantomanie-Attitüde der Gallagher-Brüder).

Und manchmal fühlt man sich auch an die guten Seiten der Hymnik der frühen Mumford & Sons erinnert, wie beispielsweise in „Dark Days“, das durch den überschwänglichen Harp-Einsatz auffällt. Gerry Cinnamon, der mit der aus Bands und Künstlern wie den Rolling Stones, Simon & Garfunkel, den Beatles oder Bob Dylan bestehenden Plattensammlung seiner Eltern geradezu „klassisch“ sozialisiert wurde und in den Neunzigern (wie viele andere auch) ein Fan der ersten Oasis-Alben war, ist, ganz ähnlich wie der unbeugsame englische Arbeiterklassen-Troubadour Billy Bragg, ein mit klaren Augen aufs Leben schauender, Geschichten erzählender Optimist, seine Texte sind oftmals vertonte Mutmacher, die sich anbieten,  einen durch dunkle Tage tragen: „If life is just a game / And luck is loser / Then I’m winning again / Dark days, these are dark days / But I heard that there’s an easier way“. Selbstverständlich beglückt einen der Schotte auch auf „The Bonny“ mit zahlreichen kleinen Hymnen, die seine Fans auf den hoffentlich in absehbarer Zeit wieder stattfindenden Konzerten mitschmettern können. Bestens geeignet scheinen der Titelsong, „Outsiders“ oder „Roll The Credits“. Im bereits erwähnten „Sun Queen“ nimmt sich der Singer/Songwriter die Scheinheiligkeit der Musikindustrie vor, im zurückhaltend tollen „Head In The Clouds“ bringt er eigene Erfahrungen mit Schlaflosigkeit und ein wenig Love Story zusammen, und sozialkritische Anklänge gibt’s ohnehin einmal mehr zuhauf. Mit „Where We’re Going“ hat Gerry Cinnamon außerdem noch einen ungemein catchy Indie-Pop-Rock-Song im Köcher, der an die besten Tracks von DMA’s oder The Vaccines gemahnt. In Summe ist Gerry Cinnamon auch mit „The Bonny“ ein gradliniges und überzeugendes Werk gelungen, welches auf seine recht eigene Weise eine Schneise in all diesen Lärm das draußen schlägt, und von dem sicherlich auch bald im deutschen „Rolling Stone“ und Co. zu lesen sein sollte…

 

 

Rock and Roll.

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Auf dem Radar: The Homeless Gospel Choir


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Merke: Derek Zanetti, auch bekannt als The Homeless Gospel Choir, ist ein Protestsänger, Autor und Künstler aus dem US-amerikanischen Pittsburgh, Pennsylvania. Durch seinen – zugegebenermaßen oft recht eigenwilligen – Bühnenhumor und seine offen zur Schau getragene Verletzlichkeit schafft Zanetti schnell eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft. Er setzt sich mit seinem Publikum auf eine Weise auseinander, die es wissen lässt, dass es – mit was auch immer – nicht allein ist. Seine jüngste Platte wurde von Pub-Punk-Darling Frank Turner himfuckingself als „ein Album, das für die Underground-Punk-Szene eine prägende Rolle spielen wird“, beschrieben. Oha! Darf’s noch eine Lobeshymne mehr sein? Klar: „In einer halben Stunde erinnerte Derek mich daran, was Punk sein sollte.“

Doch hören wir mal genauer hin…

a0595802290_16Schnell wird klar: Es gibt wenige Künstler, die so tönen wie The Homeless Gospel Choir. Indem er ehrlich empfundene Texte mit seinen Punk-Wurzeln und einem scheinbar unerschütterlichen Sinn fürs Humorige vermischt, hat Derek Zanetti mit „The Homeless Gospel Choir Presents: Normal“ einen Musik gewordenen Kommentar über das Erwachsenwerden geschaffen – Songs, die irgendwie zu sich selbst finden, während der reichlich verpeilte Typ dahinter noch versucht, sich allein in einer furchterregend eigenartigen Welt zurechtzufinden. Zanetti legt dabei im Handumdrehen von null auf hundert los, macht sich über seine eigenen Unsicherheiten lustig, bevor er dem geneigten Zuhörer versichert, dass er viel Zeit hat, seine Probleme zu lösen, da auch er selbst ja noch dabei ist, alles zu verstehen…

„6th Grade“ eröffnet das Album mit ebenjenem Sinn für Humor und subjektiven Realismus, der allen elf Songs zueigen ist. Doch wo der Opener noch Spaß versteht, geht’s gleich beim zweiten Song, „Depression„, lyrisch ein wenig härter zu: „With friends like that / Who needs friends when you have seasonal depression?“. Alle distinguierten Ü30-Indie-Heads werden sich wohl schnell in ihre (späte) Teenagerzeit zurückversetzt fühlen, als sie, mit allerhand melancholischem Weltschmerz beladen, in ihrem Zimmer saßen und Trost in einem Bright Eyes-Song fanden. Denn tatsächlich ähnlich der Sound des Homeless Gospel Choir manchmal sehr dem von Conor Obersts Anfangstagen, jedoch mit einer indie’esken Grobkörnigkeit, die ihn – zumindest in einer gerechteren Welt – schnell zur Stimme der modernen Punk-Kids machen würde.

Normal“ ist darauf im Grunde das perfekte Stück nach „Depression“: eine Hymne für alle Außenseiter, Ausgestoßenen und – jawollja! – Punks; etwas, das man aus vollem Hals mitgrölen darf, wenn Zanetti singt: „You’re never gonna be normal / ‚Cause you’re a punk!“. Ja, das sind Songs, in denen unsichere Jugendliche Trost finden mögen, während alle 20- und 30-Jährigen sich noch auf spiritueller Ebene mit ihnen identifizieren können (und eventuell die Replacements-Anleihen erkennen).

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Besonders das folgende Stück „Don’t Know“ wirkt denn passenderweise sehr kathartisch, sehr kraftvoll. Kein Geringerer als oben genannter Frank Turner besorgt bei diesem Song den emphatischen Gastgesang, der das ohnehin schon hohe Emotionalitätslevel nur noch weiter verstärkt. Darauf: „Crazy„, eine Art chaotisches Pendant zu „Don’t Know“. Thematisch mögen sich beide Lieder recht nahe stehen, klanglich jedoch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Sogar Frank Ieros (My Chemical Romance) ausreichend wilder Gastgesang auf „Crazy“ steht im Kontrast zu Turners weicherem Ton in „Don’t Know“, aber irgendwie passen sie perfekt zusammen.

Die Übergänge zwischen den Songs mögen sich im Verlauf des Albums manchmal als etwas hakelig erweisen, da Derek Zanetti hochenergetische Punk-Kracher direkt neben langsamere Beinahe-Balladen setzt, aber ehrlich gesagt: macht andererseits auch Sinn. Wäre ja irgendwie auch nicht richtig, wenn dieses Werk wie in einem Rutsch durch die Gehörgänge fließen würde… Alles, was Zanetti auf „The Homeless Gospel Choir Presents: Normal“ in die Klampferhände fällt, purzelt am anderen Ende wieder hakelig und unsicher, verwirrt und chaotisch heraus, und der Fluss des Langspielers (oder das Fehlen eines solchen) spiegelt dementsprechend eben direkt die Emotionen hinter den Songs wider.

A-3557680-1456092025-9508Langsam, kurz vor Schluss lugt „Sometimes“ bevor, das im Grunde alles hat, was einen starken The Homeless Gospel Choir-Song ausmacht: unverblümt offene und denn doch relativ deutbare Texte und einen schwarzen Sinn für Humor. Dann kommt „Alright“, ein kraftvolles, eigenwilliges und persönliches vorletztes Lied, das die K(r)ämpfe des Erwachsenwerdens und des Versuchs, dem eigenen Leben irgendwie auf die Schliche zu kommen, dokumentiert.

Wenn sich „The Homeless Gospel Choir Presents: Normal“ schließlich nach einer unterhaltsamen halben Stunde dem Ende neigt, wird sich manch ein Akustik-Punk-Fan fühlen, als hätten er soeben eine semi-religiöse Erfahrung durchgemacht, besonders nach dem – passend betitelten – letzten Song „Holy Shit“. Diese elf Stücke wirken in der Tat – bestenfalls – kathartisch, abgrundtief ehrlich und unglaublich kumpelhaft – fast unabhängig vom Alter des jeweiligen Hörers und seinem Platz im Leben. All das sind schließlich emotionale Schützengräben, in denen (fast) wir alle bereits gelegen haben – ob wir sie nun damals, in der Blüte unserer mal mehr, mal weniger pickeligen Jugend, aus vollem Halse und Herzen geschrien oder uns augenzwinkernd über sie lustig gemacht haben, wie Derek Zanetti es eben an mancher Stelle tut. Unfair? Ach Quatsch – an machen Tagen lässt sich dem Alltagsgrau einfach nur mit einem entschlossenen Grinsen gegenüber treten! Bewaffnet mit ausreichend Sinn fürs Abseitig-Humorige und einer irgendwie auch realistischen Lebensperspektive gibt es kein Thema, das für den Homeless Gospel Choir auf Album Nummer fünf tabu wäre, und so eben auch nichts, worüber sich kein Song schreiben ließe.

 

Via Bandcamp gibt’s „The Homeless Gospel Choir Presents: Normal“ im Stream:

 

Für das Musikvideo zu „Normal“ hat Derek Zanetti, dieser komische Kauz, Alanis Morissettes ikonisches Video zu „Ironicshot-by-shot machgestellt. Macht ja Sinn, schließlich eignen sich beide Songs formidabel als Autofahr-Karaoke-Hits…

 

Rock and Roll.

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