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Song des Tages: Fenne Lily – „Berlin“


Foto: Nicole Loucaides / Promo

Ein alter Philosophen-Witz lautet: Treffen sich zwei Solipsisten. Ein(e) Solipsist(in) geht davon aus, dass das er oder sie das einzig existierende Ich auf der Welt ist. Philosophisch begründet: Weil man in der eigenen Wahrnehmung über andere Individuen keine begründeten Aussagen treffen kann. Und küchenpsychologisch begründet: Weil man sich ohnehin wie der einzige Mensch auf Erden fühlt. Sogar unter Leuten im Supermarkt. Wenn man aber wirklich allein ist auf der Welt, kann man auch Bananen mit offenem Mund zerkauen. Wie Fenne Lily in ihrem halb schwermütigen, halb slackigen “Solipsism”…

Um 2014 herum, mit gerade mal 17 Jahren, fängt die junge britische, in London geborene Songwriterin an, von ihrer Heimatstadt Dorset nach Bristol zu pendeln – weil da mehr geht und sie irgendwann Support-Slots für etwa Marika Hackman und KT Tunstall übernehmen darf. 2018 veröffentlicht sie ihr Debütalbum „On Hold“ selbst. Selbiges erschien genau zur richtigen Zeit. Warum? Weil für diese Art von Musik im Grunde jede Zeit die absolut richtige ist. Manche mochten sich anfangs wohl ein wenig gewundert haben, wie eine blutjunge Britin mit ihren unscheinbar gezupften, introvertierten Folk-Miniaturen schon vor Veröffentlichung der ersten Platte millionenfache Streams und Klicks aufweisen konnte. Die Antwort ist eigentlich ganz simpel: weil diese sanft sprudelnden akustischen Trostquellen eine universale Sprache sprechen. Lily schreibt in ihrer emotionalen Zugänglichkeit massentaugliche Songs, die aber unbedingt alleine und in Ruhe gehört werden wollen (Stichwort: Kopfhörermusik). Ihr zweites, vor wenigen Tagen erschienenes Album „BREACH“ kommt also mit einem noch besseren Timing als ohnehin schon, da Isolation und Trostbedürfnis in diesem so seltsamen, so unheilvollen Jahr 2020 Sonderrollen spielen. Und als hätte Lily einen Moment der Vorahnung gehabt, hatte sie sich, noch bevor Corona und Co. uns alle in unsere Schlafzimmer drängte, auf einen Selbstfindungstrip in die eigene Isolation begeben. Zwar hat die junge Songwriterin die elektronischen Akzente des Vorgängers im klingenden Endergebnis durch ein paar dezente, von keinem Geringeren als Noise-Pabst Steve Albini unterstützte Rock-Gesten ersetzt, doch an Empathie und Subtilität ging dabei nichts, aber auch mal so gar nichts verloren.

Dass „BREACH“ jedoch auch Biss hat, beweist schon allein die Single „Alapathy„. Piano und Schlagzeug pulsieren mit einem nervösen, aber bestimmten Momentum, die schrammelige E-Gitarre erfährt ein paar mittelschwere Noise-Zuckungen. Lilys tiefe, verträumte Stimme klingt so warm und wohlmeinend wie immer, doch giftet sie hier – der Titel ist ein Kofferwort aus den Begriffen „apathy“ und „allopathic“ – gleichsam gegen die misslungene Medikation ihrer psychischen Erkrankungen und den sehr westlichen Ansatz, nur die Symptome des Problems zu behandeln und nicht den eigentlichen Grund. Für den Großteil der Platte steht allerdings eher ein Stück wie „Elliott“ stellvertretend, welches mit Streichern und Fahrradklingeln sein folkiges Sehnsuchtsskelett umschmeichelt. „Seicht“, „kitschig“ oder „selbstmitleidig“ könnte der Berufszyniker diese einfachen, melancholischen Kompositionen nennen, die schlichte Schönheit vor musikalische Ambitionen stellen. Doch wer emotional noch nicht völlig grau und abgestorben ist, findet in den Gedanken und Geschichten der 23-Jährigen alters- wie geschlechtsübergreifende Bezugspunkte und einen verständnisvollen Resonanzraum des eigenen juvenilen Seelenlebens.

Ähnlich wie ihre stilistische Kollegin Phoebe Bridgers schmückt Lily die im Kern reduzierten Songs gerne mit üppigeren Arrangements aus (passenderweise veröffentlichen beide mittlerweile beim Label Dead Oceans). Dies geschieht – wohl auch dem Budget sei Dank – merklich opulenter als noch auf „On Hold“, jedoch keinesfalls weniger organisch. Kein Instrument wirkt wie angepappt, die Melodien und Harmonien wachsen natürlich in die Höhe wie Efeu an einer urbanen Hinterhofhauswand. Vor allem „Berlin“ und „Birthday“ türmen sich mit grandiosen klimaktischen Steigerungen auf, lassen ihre Streicher und Gitarren ums Licht konkurrieren. Mit dem bereits erwähnten „Solipsism“ bekommt auch die zweite Plattenhälfte ihren rohen Rocksong: Ein besonders motivierter Bass erzeugt mit Feedback-Rauschen und einer gelegentlich aufblitzenden Orgel einen hypnotischen Groove, der ein wenig an das selige Slackertum oder psychedelischen Britpop erinnert. Lily stellt diese raren Ausbrüche allerdings nicht zur Schau, sondern integriert sie unaufdringlich in den Albumfluss.

„Zu unaufdringlich“, ließe sich hier anbringen, möchte man auf hohem Niveau etwas zum Meckern haben. Fenne Lily schwimmt eher etwas im Strom mit, anstatt sich von den anderen ebenfalls sehr guten Singer/Songwriterinnen ihrer Generation abzuheben, die es auf beiden Seiten des Atlantiks zuhauf gibt (man denke – neben eben Phoebe Bridgers – nur an Laura Marling, Lucy Dacus, Elena Tonra, Adrianne Lenker, Julien Baker oder Angel Olsen). Doch warum sollte man ein Album zwanghaft mit der Außenwelt vergleichen, wenn es sich vor genau dieser hermetisch abriegeln möchte? Dem Talent sei’s gedankt, dass die talentierte Indie-Künstlerin mit „BREACH“ für genau jenes Rückzugsgefühl ein knapp 40-minütiges Luftloch reißt. Hier kann sie sich mit der jugendwunden Vergangenheitsabrechnung „I Used To Hate My Body But Now I Just Hate You“ ein Bad der Selbstreinigung eingießen, während ein fragil-puristisches Folk-Meisterstück wie „Someone Else’s Trees“ auch die Seelen aller anderen pflastert.

Fenne Lily vermag also weiterhin zwischen Nabelschau und Selbstreflexion pendelnde Herz-auf-der-Zunge-Songs für ein weitläufiges Publikum zu schreiben, die sich im richtigen Moment anfühlen, als hätte man sie ganz für sich allein. Ein solcher lärmgeschützter Hort der Schwermut und Intimität ist auch außerhalb von globalen Krisen und Pandemien pures Klanggold wert – und das nicht nur für alle musikverliebten Philosophen. Bedroom Pop klingt typischerweise eher minimalistisch und reduziert – wer hat schließlich schon noch genug Platz für fünfzig Instrumente im Schlafzimmer. Die Songs auf „BREACH“ haben hingegen spätestens beim zweiten Hören erstaunlich viel Herz und Tiefgang. 

„Listen to the siren call, it’s crying
Bleeding on a foreign floor, slow dying

It’s not hard to be alone anymore
Though I’m sleeping with my key in the door

Run until your lungs are sore, ash flying
You’re looking like you want it more but you’re lying

And it’s not hard to be alone anymore
Though you’re waking to a day you ignore

And it’s not hard to be alone anymore
It’s not hard to be alone anymore
It’s not hard to be alone anymore
It’s not hard to be alone anymore
It’s not hard to be alone anymore
It’s not hard to be alone anymore

Listen to the siren call, it’s crying“

Rock and Roll.

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