Will Varley – Postcards From Ursa Minor (2015)
-erschienen bei Xtra Mile Recordings/Indigo-
Es gibt ja den bekannten Spruch „Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz – wer es mit vierzig immer noch ist, hat keinen Verstand.“ (mal wird er dem ehemaligen britischen Premierminister Sir Winston Churchill zugeschrieben, mal anderen). Und irgendwie passt dieser Satz auch zu Will Varley…
Nun ist der 28-jährige Londoner kein Billy Bragg, schreibt nicht wie der seine politische Gesinnung jedem Zuhörer lauthals um die Ohren und versucht, einen – wenn auch, wie in Braggs Fall, durchaus sympathisch – sprichwörtlich auf links zu drehen. (Des Weiteren ist es gerade in Großbritannien viel typischer als etwas im moderat verknacksten Deutschland, dass ein Musiker seine Klassenzugehörigkeit etwas mehr raushängen lässt.) Nein, Varley ist – so lässt sich vermuten – vielmehr ein talentierter Leisetreter, der irgendwie aus der Zeit gefallen wirkt. Einer, der schon mal einen für die heutige Zeit höchst ungewöhnlichen Fortbewegungsweg von Auftrittsort zu Auftrittsort wählt: er läuft. Und obwohl man anhand dieses Fakts einen Alt-Sechziger-San-Francisco-Hippie im Körper eines Endzwanzigers vermuten könnte, hat Will Varley seine Ohren und seine Augen durchaus am Puls der Zeit. Das verrieten bereits augenzwinkernd zeitgeistige Stücke wie „I Got This Email“ (von zweiten, 2013 erschienenen Album „As The Crow Flies„), bei denen man einfach nur schmunzeln muss und die schon einige von Varleys Trademarks verraten: der Mann nimmt sich selbst nie zu ernst, schreibt jedoch tolle Songs, die nicht selten zu Herzen gehen und so ziemlich jedem mit einem selbigen aus der Seele sprechen können. Das war schon auf dem bereits erwähnten 2013er Werk „As The Crow Flies“ so, oft genug auch auf dem 2011 veröffentlichten Debüt „Advert Soundtracks
“ (ganz groß: „King For A King„). Und mit seinem neusten Streich, dem im vergangenen Oktober erschienenen dritten Album „Postcards From Ursa Minor
„, stellt Varley sein Können wiederum auf eine neue Stufe.
Aber warum eigentlich? Denn im Grunde ist das, was der 28-Jährige tut, ja nichts Besonderes, ist er doch Folk-Singer/Songwriter. Und die gibt es ja – spätestens seit Hank Williams oder Bob Dylan – wie den sprichwörtlichen Sand am Meer. Jene nicht selten von schummrigen Kellerspelunken ausgebleichten (mehr oder minder) jungen Männer, die viel zu früh viel zu schnell alt geworden zu sein scheinen und einem nun etwas vom prallen, einsamen Leben „on the road“ und vom Herumtrieben in der weiten Welt erzählen wollen. Beispiele findet wohl jeder genug, mir etwa fallen spontan Frank Turner (mit dem sich Will Varley passenderweise gerade auf Tour befindet), The Tallest Man On Earth, Rocky Votolato, Scandinavian Cowboys wie Kristofer Åström oder Christian Kjellvander, Damien Rice, Josh Ritter oder Marcus Mumford (bevor der sich entschloss, mit seinen Sons die Stadien zu bespielen und jeglichen Charme ad acta zu legen) ein. Da gehört in einem Genre wie diesem schon einiges dazu, um herauszustechen. Und wer auf „Postcards From Ursa Minor“ genau zuhört, der wird schnell merken, dass Will Varley genau das tut…
Dabei kommt es viel weniger auf das Was an – die Zutaten sind mit einer Akustischen und Varley dezent rauem Gesangsorgan oft überschaubar -, sondern vielmehr auf das Wie. Und der Einstieg „As For My Soul“ gerät in splelunkiger Pub-Manier schon einmal recht kumpelhaft, wenn Varley einem Zeilen wie „Light a fire / Drink a beer / Sing a song“ entgegen schleudert. Doch schon das darauf folgende „The Man Who Fell To Earth“ (Cineasten werden merken, dass der Songtitel einem Film von 1976 entliehen ist, in welchem ein gewisser David Bowie die Hauptrolle spielte) ist wiederum ganz anders. In eindringlichen, wunderschönen Worten und Melodien schildert Varley das Erwachen der Welt um London herum, und seiner melancholischen Bildersprache kann man sich fünf Minuten lang kaum entziehen. Ähnlich groß auch „Seize The Night“, die wortgewaltige Erzählung „Outside Over There“, welche beinahe an ein englisches Traditional gemahnt, oder das zu Tränen rührende, leicht sentimentale „This House“, das Erinnerungen wie in einem Fotoalbum vorbeiziehen lässt und die bittere Schwere der thematisierten Vergänglichkeit in wärmenden Trost verwandelt. Anderswo, wie etwa bei „From Halcyon“, merkt man, dass Varley seinen Dylan gut und innig studiert hat, oder dass in dem Briten durchaus ein Romantiker steckt („Dark Days Away“). Vortrefflich zeitgeistig wiederum gerät „Talking Cat Blues“ (halb Dylan, halb Johnny Cash), in dem Will Varley den Bogen von Slackertum über Youtube-Videos von Kanye West imitierenden Katzen hin zum dritten Weltkrieg spannt. Klingt irre? Ist es irgendwie auch, und dazu bekommt auch der britische Premierminister David Cameron sein Fett ab (wie übrigens verdammt oft in Varleys Songs). Muss man gehört haben… So augenzwinkernd sind die Stücke gegen Ende des
Albums dann aber kaum. So ist „Send My Love To The System“ mit Zeilen wie „Maybe I got older maybe I can’t see / Or maybe I just realised that I want to be free“ ein Abgesang an die harte Ellenbogengesellschaft, „Concept Of Freedom“ ein Protestsong, der beinahe die Güteklasse eines Dylan-Stücks wie „Masters Of War“ besitzt (wobei Varley mit „We Don’t Believe You“ da unlängst einen ähnlich tollen Song abgeliefert hat). In eine identische Kerbe schlägt auch „Is Anyone Out There?“, das sich fragt, ob der Mensch in und von seiner Geschichte überhaupt etwas gelernt hat, bevor „The Question Of Passing Time“ Varleys drittes Werk nach etwa 50 Minuten beinahe meditativ zum Abschluss bringt.
Warum also sollte man diese Platte, die nur dem Titel nach zu den Sternen greift („Ursa Minor“ ist der lateinische Name des Sternbildes des Kleinen Bären), sich während der Spieldauer jedoch zutiefst erdverbunden zeigt, hören? Weil Will Varley ein brillanter Beobachter ist, der es versteht, alles Gute wie Schlechte in Stücke umzumünzen, die sowohl in Wort wie in Ton zu überzeugen wissen? Weil diese Stücke wiederum ebenso britisch wie universell klingen (und man nicht selten gar den nächtlichen Fahrtwind eines einsamen US-Highways zu spüren meint)? Weil sich hinter jedem der dreizehn nachdenklichen Songs Botschaften zum Nachdenken, zum Lachen, Weinen, zum wütend, fröhlich oder einfach tatträumerisch sein, verstecken? Weil Varley wie ein sympathisches Hippie-Relikt mit absolutem Gespür für Zeitgeist erscheint? Weil ihm mit „Postcards From Ursa Minor“ eines der besten Folk-Singer/Songwriter-Werke des vergangenen Jahres gelungen ist, für das es auch 2016 noch nicht zu spät ist (denn es ist nie zu spät für tolle Musik)? Alles richtige Argumente, und wer „Postcards From Ursa Minor“ nicht gehört hat kann nun nicht mehr sagen, ich hätte ihm (slash: ihr) das Album nicht ans Hörerherz gelegt…
Hier gibt es die Musikvideos zu „The Man Who Fell To Earth“, „Seize The Night“ und „Talking cat Blues“, welche alle von Will Varleys aktuellem Album stammen…
Rock and Roll.