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Der Jahresrückblick 2013 – Teil 2


Natürlich könnte sich der cineastische Teil des ANEWFRIEND’schen Jahresresümees wieder eben jene Musikdokumentationen in Erinnerung rufen, die 2013 besonders viel – und nachhaltig – Eindruck hinterließen: „Sound City“ von Sympathieass und Regieneuling Dave Grohl (Foo Fighters, Nirvana etc. pp.), das Oscar-prämierte „Searching For Sugar Man„, die so einfache wie bewegende Black Protopunk-Doku „A Band Called DEATH“ oder das vollkommen den Boss-Jüngern und ihrer Verehrung gewidmete und von Starregisseur Ridley Scott produzierte „Springsteen & I„. Natürlich ließe sich an dieser Stelle eine ellenlange Ode herunterbeten, die auch der zweite Teil von Peter Jacksons „Der Hobbit“-Verfilmung vollkommen verdient hätte. Natürlich… Aber all das wurde bereits vielfach an anderer Stelle, ob nun auf diesem bescheidenen Blog oder anderswo im weltweiten Netz, getan. Stattdessen gibt’s den ANEWFRIEND’schen Filmtippnachschlag für die letzten Tage des alten Jahres…

 

Prisoners“ (2013)

Prisoners posterOh, du trügerische Ruhe… Ein verschlafenes kleines Städtchen irgendwo im Nirgendwo von New England im Nordosten der USA, in dem im Grunde jeder jeden in den uniformen Einfamilienhaussiedlungen kennt und man die Haustüren nie abschließen muss. In dem man schnell Freundschaft mit den Nachbarn schließt und gemeinsam die Feiertage verbringt. So auch die beiden Kumpels Keller Dover (Hugh Jackman) und Franklin Birch (Terrence Howard), die sich in bester Laune zum familiären Beisammensein bei Thanksgivingbraten und Wein treffen. Auch ihre sechsjährigen Töchter Anna und Joy sind beste Freundinnen, und da es den Mädchen im Haus schnell langweilig wird, rennen sie zum Spielen nach draußen. Doch als Keller nach dem Rechten sehen will, fehlt von den Kindern jede Spur. Panik bricht aus, und der einzige Anhaltspunkt ist ein heruntergekommenes Wohnmobil, das Kellers jugendlicher Sohn kurz zuvor nahe der Familienhäuser parkend vorgefunden hat. Schnell kann die verständigte Polizei Wohnmobil und Besitzer ausfindig machen, und wäre dieser Film einfacher gestrickt, dann wäre die Lage schnell klar… Am Steuer des Fahrzeugs finden die Cops um den ermittelnden Detective Loki (Jake Gyllenhaal) den geistig zurückgebliebenen Alex Jones (Paul Dano) vor. Doch aus dem jungen Mann mit dem IQ eines 10-Jährigen ist, vom dem ein oder anderen zusammenhangslosen Wort einmal abgesehen, beim Verhör nichts herauszubekommen. Und so müssen der Detective und seine Kollegen Jones wieder auf freien Fuss setzen. Das kann und will Dover – und das ist bei einem Vater, den die ständige Sorge um seine Tochter um den Verstand zu bringen droht, nur all zu gut nachzuvollziehen – natürlich so nicht geschehen lassen. Also kidnappt er – mehr im Affekt – Jones kurzerhand, und setzt so die Suche nach den Mädchen mit unbarmherzigen Verhörmethoden und auf seine Art und Weise fort…

Mit „Prisoners“ hat der frankokanadische Regisseur Denis Villeneuve ein US-Filmdebüt nach Maß geschaffen. Dabei hätte es den Streifen gut und gern nie geben können. Jahrelang versuchte Warner Bros., den so vielversprechend von Aaron Guzikowski („Contraband“) zu Papier gebrachten Thrillerstoff zu realisieren, hatte mal Christian „Batman“ Bale und Mark „Ted“ Wahlberg für die Hauptrollen im Visier, mal Bryan Singer („X-Men“) oder Antoine Fuqua („Training Day“) für die Regiearbeit im Gespräch. Sieht man das nun endlich von Villeneuve in großartiger Manier zu Ende gebrachte Resultat, so hätte man schwerlich eine bessere Auswahl als die jetzige treffen können. In der Atmosphäre mit all den neblig grauen, alltäglich gleichen Fassaden und dem wolkenverhangenen Wetter spiegeln sich ebenbürtige Werke von David Fincher („Sieben“, „Zodiac“) oder Clint Eastwood („Mystic River“), denen, wie auch in „Prisoners“, zwar der dezente Hang zur minutiösen Überlänge zueigen ist, diese jedoch jederzeit mit offenen Enden, Twists und Turns, Fehlläufen und geradezu irrwitzigen Wendungen einhunderprozentig wett machen. Zum auf schaurige Art und Weise zu Herzen gehenden Schauspiel tragen jedoch vor allem die beiden Hauptdarsteller Hugh Jackman („Wolverine“) und Jake Gyllenhaal („Donnie Darko“) bei, die zwar mit dem gleichen Einsatz versuchen, das Leben der verschwundenen Mädchen zu retten, jedoch mit nahezu komplett unterschiedlichen Waffen.

In seiner Gesamtheit ist „Prisoners“ einer der wohl spannendsten, mitreißendsten und wendungsreichsten Thriller der letzten Jahre, der in seinen zweieinhalb Stunden ebenso viele Fragen wie (bewusst) fehlplazierte Antworten ins Feld wirft, bis der Zuschauer kaum noch weiß, wer zur Hölle hier eigentlich Täter, wer Opfer ist. Natürlich ist weder die zum Äußersten neigende Handlung, noch der sich immer enger schlingende Plot etwas für schwache Nerven (und auch das Ende bietet reichlich Diskussionsstoff), aber dennoch: Wer ein hochkarätig besetztes cineastisches Ratespiel sucht, der sollte sich „Prisoners“ keinesfalls entgehen lassen. Und gut in die Stille hinein hören…

 

 

Byzantium“ (2013)

Byzantium DVD Cover - FSK 16Keine Frage, spätestens seit „Twilight“, jener Filmreiheadaption der keuschen Romanvorlagen der US-amerikanischen, mormonischen Jugendbuchautorin Stephanie Meyer, haben die Vampire das mal mehr, mal weniger blutige Gänsehautzepter der Zombies und Werwölfe übernommen (obwohl zweitere, als muskelbepackte Sixpacker, auch ihren Platz in „Twilight“ bekommen). Dabei waren es gerade die blutsaugenden Fledermauswandler, die als mysteriöse, lichtscheue Wesen seit jeher das cineastische Horrorgenre bestimmt haben – man denke nur an F.W. Murnaus Stummfilmklassiker „Nosferatu“ (von 1922!), dessen 1979-Remake mit Klaus Kinski in der Rolle des spitzzähnigen Bleichgesichts, an Roman Polanskis „Tanz der Vampire“ (1967), an „Bram Stoker’s Dracula“, das 1992 mit einer bildhübschen Winona Ryder und großartiger Atmospähre aufwartete. Wer nach Action rief, der bekam etwa in der „Blade“-Reihe (1998-2004) einen Wesley Snipes als arschcoolen Vampirjäger oder im unterkühlten Pendant „Underworld“ Kate Beckinsale als um sich schlagende Allzweckwaffe im hautengen Lederdress. Egal welcher Kultregisseur, ob nun Robert Rodriguez („From Dusk Till Dawn“), John Carpenter („John Capenter’s Vampires“) oder Guillermo del Toro („Cronos“) – im Halbdunkel konnte bislang keiner der Verlockung zweier spitzer Eckzähne an schönen Frauenhälsen widerstehen… Und selbst diejenigen Filmfreunde, denen all das längst zu einseitig, stinografisch und vorhersehbar geworden sein mag, dürften mit den so wunderbar anderen Vampirstreifen wie dem schwedischen „So finster die Nacht“ (2008, der nur zwei Jahre später mit dem erstaunlich guten „Let Me In“ sein US-Remake erfuhr) oder dem südkoreanischen „Durst“ (2009, einer der eigensinnigsten Filme in dieser Auszählung) bestens unterhalten worden sein. In den Neunzigern dürfte wohl jedoch vor allem „Interview mit einem Vampir“ (1994) stilbildend gewesen sein, eine epische Erzählung, in der sich das ewig junge und ewig schöne maskuline Vampirduo aus Tom Cruise und Brad Pitt (aka. Lestat de Lioncourt und Louis de Pointe du Lac) durch Zeitalter und Jahrhunderte schlägt, schläft und saugt. Dass nun ausgerechnet Neil Jordan, der Regisseur eben jenes Films, mit „Byzantium“ auf das eigene Meisterwerk antwortet, wirkt anfangs eventuell ein wenig schräg und selbsteingenommen, passt jedoch nur zu gut…

Clara Webb (Gemma Arterton) und ihre Tochter Eleanor (Saoirse Ronan) befinden sich seit Jahrhunderten auf der Flucht vor einer geheimnisvollen, unbarmherzigen Bruderschaft. Nachdem die beiden grundverschiedenen Vampirdamen, die sich stets als Schwestern ausgeben (der Alterslosigkeit sei Dank!), einmal mehr übereilt ihr Quartier verlassen mussten, landen sie in einer trostlosen englischen Küstenstadt im heruntergekommenen Hotel „Byzantium“. Während Clara sich nur für das Hier und Jetzt interessiert und versucht, als Prostituierte Geld zu verdienen, hat Elenor das Bedürfnis, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Die auf ewig 16-Jährige erinnert sich, wenn auch nur fragmentarisch und im Traum, daran, dass sie vor ihrer Vampirwerdung in eben diesem Küstenstädtchen in einem Waisenhaus aufwuchs. In einem Schreibkurs bringt sie ihre Lebensgeschichte zu Papier, was bald schon ihren Mitschüler Frank (Caleb Landry Jones) auf sie aufmerksam macht. Als immer mehr Menschen aufgrund von Blutverlust sterben und Eleanors Lehrer (Tom Hollander) sich mit der schier unglaublichen Geschichte seiner Schülerin auseinanderzusetzen beginnt, spitzt sich die Situation für Mutter und Tochter zu. Und auch die eigene Vergangenheit holt sie in Form zweier Gesandter der auf Rache sinnenden Bruderschaft wieder ein…
Wer „Byzantinum“ lediglich als weibliches Pendant zum von Testosteron durchzogenen Epos „Interview mit einem Vampir“ bezeichnet, tut wohl beiden Filmen unrecht. Denn obwohl auch in der Verfilmung von Moira Buffiniaus Drama „A Vampire’s Play“ zwei gleichgeschlechtliche Personen im Fokus stehen – und die eben in diesem Film weiblich sind -, schneidet der irischstämmige Regisseur Jordan jedes Fitzelchen Zelluloid auf das in vollstem Maße überzeugende Darstellerduo Gemma Arterton („James Bond 007 – Ein Quantum Trost“, „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“) und Saoirse Ronan („Abbitte“, „Wer ist Hanna“) zu, die ihrerseits den Fokus dazu nutzen, die beiden Figuren mit einfachsten Gesten mal voneinander weg, mal zueinander finden zu lassen – Ambivalenz in Blutrot. Dass dies zu Lasten der deutlich limitierten Handlung und am offenen Faden hängenden Geschichte geht, ist zwar in der Tat bedauerlich. Man wird jedoch mit der in Masse vorhandenen morbid-melancholischen Atmosphäre und so, so vielen tollen Kameramomentaufnahmen für jede offene Frage entschädigt. Vampirfilme gibt es eh genug. Und den pubertären Jungfrauen bleiben noch immer Edward und Bella und Jacob und „Twilight“…

 

 

Sightseers – Killers On Tour!“ (2012)

Sightseers posterBeim ersten Mal könnte es noch ein Unfall gewesen sein. Doch schon der eigentümlich selbstzufrieden aufblitzende Ausdruck in Chris‘ (Steve Oram) Gesicht, nachdem er beim Zurücksetzen seines Wagens einen unfreundlichen Umweltverschmutzer über den Haufen gefahren hat, gibt dem verdutzten Zuschauer eine Vorahnung dessen, was da noch kommen wird… Tina (Alice Lowe) ist mit Chris auf Wohnwagen-Tour durch England, für beide ist es mit Mitte Dreißig die erste richtige Beziehung. Chris möchte sich als Autor versuchen und (s)ein Buch schreiben, Tina soll seine Muse sein – welch‘ ein Idyll! Lässt man sich das etwa zerstören von pöbelnden Mittouristen, die möchten, dass man hinter dem – freilich gestohlenen – Hund herputzt? Oder von einem Campingplatznachbarn, der es tatsächlich schon geschafft hat, ein Buch zu schreiben – derer drei sogar! -, und der einen noch tolleren Caravan fährt als man selbst, dieser eitle, ach so perfekte Angeber? Natürlich nicht!
Irgendwie ist diese Melange schon irrwitzig, die Regisseur Ben Wheatley („Kill List“) da auf die Leinwand bringt. Da schickt er ein nach Außen vage zwischen ewigem Backfisch und asozialem Spießertum pendelndes Pärchen auf einen chaotischen Roadtrip quer durch die wohl unschönsten Touristenattraktionen der englischen Insel, während dem sie sich mehr und mehr – und umso inniger! – zu hassen lernen. Und: Chris und Alice hinterlassen in ihrer gesellschaftsfernen Gangart eine wahre Spur von Blut und Verwüstung, die zuerst mit unachtsamen Zufällen beginnt, jedoch schon bald nur noch willkürlich aus reinster Mordslust besteht. Für Zartbesaitete ist diese Mischung aus „Natural Born Killers“ und „Little Britain“ tatsächlich nicht die allerbeste Wahl der Unterhaltung. Vielmehr sollte man bei der schwarzhumorigen Splatterkomödie, beim Publikumsliebling des Fantasy Filmfests 2012, an dessen Drehbuch die beiden Hauptdarsteller selbst mitschrieben, schon einiges an Faibel für Sarkasmus und Ironie mitbringen, um über diesen Streifzug der englischen Vorstadtentsprechung von „Bonnie und Clyde“ lachen zu können… Freunden des oft gerühmten britischen Humors sei „Sightseers – Killers On Tour!“ jedoch bedenkenlos empfohlen.

 

 

Paulette“ (2012)

Paulette posterEigentlich könnte einem Paulette (Bernadette Lafont) leid tun… Vor langer Zeit hatte sie einst scheinbar alles: eine glückliche Familie, einen Mann, Wohlstand, Ansehen und ein eigenes Lokal. Nun ist all das weg, der Mann verstorben, das Lokal längst ein Null-Acht-Fünfzehn-Chinarestaurant und die Tochter mit einem farbigen Polizisten liiert, mit dem sie darüber hinaus noch ein zwar zuckersüßes, jedoch eben immer noch farbiges Enkelkind gezeugt hat. Überhaupt: Fremde, und dann auch noch mit ausländischen Wurzeln, verursachen bei Paulette nur eines: Angst und Unbehagen. Denn die rüstige Rentnerin lebt trotz ihres fortgeschrittenen Alters von 80 Jahren alleine in einem zwielichtigen, heruntergekommenen Pariser Vorort. Zu schaffen macht ihr dabei vor allem der eigene soziale Abstieg und die damit verbundene schmale Pension, über die sie sich immer wieder aufs Neue aufregen könnte… Als ihr eines Abends ein Päckchen Marihuana in die Hände fällt, sieht sie ihre Chance gekommen – Paulette wird zur Haschisch-Dealerin. Da sie früher als Konditorin gearbeitet hat, besitzt sie einen ausgeprägten Geschäftssinn und kann zudem auf ihre grandiosen Backkünste zurückgreifen. Hilfe bekommt sie außerdem von ihren Freundinnen, die ab und zu auf einen Nachmittagstee vorbeischauen. Von so einer Unterstützung kann ihre Lederjacken tragende Konkurrenz im Viertel freilich nur träumen… Innerhalb kürzester Zeit schwingt sich die ruppige Dame zur unumstrittenen Königin des kultivierten Drogenhandels auf – eine Tatsache, die bald auch die mächtigen Hintermänner der lokalen Drogenversorgung hellhörig macht. Um Paulettes Talente für sich nutzen zu können und sie unter Druck zu setzen, entführen sie ihren Enkelsohn Léo (Ismaël Dramé) – doch dabei haben sie die Rechnung ohne die rabiate Rentnerin und ihre Gerontengang gemacht…

Freilich bietet „Paulette„, die Komödie von Regisseur Jérôme Enrico („Prêt-à-Porter“), keine Neuerfindung des frankophilen Filmrades an. Dafür sind die Figuren zu explizit angelegt, dafür ist die Handlung einfach zu vorhersehbar. Vielmehr greift der Film mit der Versöhnung über soziale wie ethnische Gesellschaftsbarrieren hinweg ein durchaus beliebtes Grundthema des französischen Kinos auf (man erinnere sich etwa an den internationalen Publikumserfolg „Ziemlich beste Feunde“ oder die unterhaltsame Polizeiklamotte „Ein Mordsteam“) und wandelt so als Culture Clash der „Fabelhaften Welt der Amélie“ mit „Banlieue 13“ auf recht großem Fuße. Dass „Paulette“ dabei außerordentlich unterhaltsam geraten ist, spricht im Grunde nur wieder einmal für den Charme des franzöischen Films, der es sich weiterhin vorbehält, etwas anders – im besten Sinne! – zu sein…

 

 

Auch toll in ANEWFRIENDs Filmjahr waren etwa… 

 

„In ihrem Haus“ (2012)

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„Der Geschmack von Rost und Knochen“ (2012)

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„This Ain’t California“ (2012)

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Rock and Roll.

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Flimmerstunde – Teil 23


„Searching For Sugar Man“ (2012)

Searching For Sugar Man (poster)Kein noch so fantasiereicher Autor könnte je so wunderbar unglaubliche Geschichten schreiben wie das Leben… Mitte der siebziger Jahre erlangt ein Mann in Neuseeland und Australien, jedoch vor allem in Südafrika Kultstatus – und das, obwohl er lange Zeit davon nichts weiß. Die Songs des Musikers Rodriguez werden von Radiostationen von Kapstadt bis Johannesburg rauf und runter gespielt, ihre gesellschaftskritischen Inhalte dienen schwarzer wie weißer Bevölkerung quasi als Soundtrack zu ihrem persönlichen Kampf gegen die Apartheit. Und der Künstler? Nun, über den wussten südafrikanische Musikjournalisten viele Jahre wenig bis nichts, und selbst die Verantwortlichen der nationalen Plattenfirma, auf der eine eigens zusammengestellte Werkschau von Rodriguez erschien, konnten nur mit den Schultern zucken. Schnell machten Gerüchte die Runde: der Mann habe sich noch während eines Konzertes eine Waffe an die Schläfe gehalten und abgedrückt! Nein, er ist an einer Drogenüberdosis gestorben! Nichts genaues blieb für Jahrzehnte im Dunkeln – und Rodriguez international ein „man of mystery“

Rodriguez #1

Tatsächlich war er noch am Leben, nur wusste das auf der anderen Seite des Ozeans niemand. Erst als Craig Bartholomew-Strydom, ein südafrikanischer Musikjournalist, im Jahr 1996 tiefer zu bohren begann und sich anhand von Textzeilen des Musikers auf eine wahre Schnitzeljagd begab, stieß er auf die ebenso unglaublich wahre wie herzzerreißende Lebensgeschichte von Rodriguez.

Der 1942 in Detroit als Sohn mexikanischer Einwanderer geborene Sixto Díaz Rodriguez zog nach Abschluss der High School durch die örtlichen Bars, lauschte den Lebensgeschichten des einfachen Mannes und machte diese zum Inhalt seiner Lieder – gesellschaftskritische Texte, die vom harten Leben auf der Straße und (insofern man Glück und eine Arbeit hatte) am Fließband, aber auch vom Hängenbleiben am Tresen und von den von der Gesellschaft Vergessenen erzählten, auf der anderen Seite jedoch auch sehr poetisch waren. Bald schon wurde der in der „Motown“-Stadt Geborene von Produzenten entdeckt, nahm zuerst eine Single, danach zwei Alben auf, und seine Fürsprecher wähnten sich bereits in der Sicherheit, hier den „neuen, noch besseren Bob Dylan“ unter Vertrag genommen zu haben – doch obwohl sogar die Kritiken zu den Alben „Cold Fact“ (1970) und „Coming From Reality“ (1971) positiv ausfielen, blieb der Ansturm auf die Plattenläden aus. Schlimmer noch: laut Aussagen ließen sich die Verkaufszahlen gar an zwei Händen abzählen! Kaum einer kann auch heute noch eine Ursache nennen. Waren Rodriguez‘ Texte zu kritisch (konnte kaum sein, denn Dylan war seinerzeit mindestens ebenso rücksichtslos aufrührerisch, und die Siebziger keinesfalls als kritikfernes Jahrzehnt bekannt)? Passte die Farbe oder die Gestaltung des Covers nicht, die Tourdaten, die Promotion, das Timing? Keiner hatte eine Antwort, und das Label ließ den hoffnungsvollen Künstler schnell wieder fallen… Fortan ging Sixto Rodriguez wieder einem Nine-to-Five-Broterwerb in Detroit nach, um seine Familie durchzubringen, und geriet in den USA in Vergessenheit, obwohl auch vorher niemand von ihm Notiz genommen hatte.

Rodriguez #2

Umso erfreulicher – und erstaunlicher! – war es für ihn, als er im Jahr 1998 erfuhr, dass er, der im heimatlichen Musikgeschäft Gescheiterte, im fernen Südafrika eine sagenumwobene, für tot gehaltene Kultfigur, ja gar ein Star – größer und beliebter noch als Elvis, Hendrix, Dylan, die Beatles oder Rolling Stones – war. Bartholomew-Strydom und der südafrikanische Fan und Plattenladenbesitzer Stephen „Sugar“ Segerman nahmen über dessen Töchter Kontakt zu Rodriguez auf und baten ihn, nach Südafrika zu kommen und dort einige Konzerte zu spielen. Und was er dort erlebte, erfüllte ihn nach Jahrzehnten des sicher geglaubten musikalischen Scheiterns endlich mit Genugtuung und Seelenfrieden, verschlug ihm und seinen mitgereisten Töchtern aus Dankbarkeit jedoch auch ein ums andere Mal die Sprache: jubelnde, ausverkaufte Hallen, die dem damaligen Endsechziger noch vor dem ersten Ton Standing Ovations spendierten! Limousinen am Flughafen, feine Hotels, Radiointerviews und Fernsehauftritte! Später Ruhm in einem fernen Land…

Searching For Sugar Man„, die kürzlich Oscar-prämierte Dokumentation des schwedischen Dokumentarfilmers Malik Bendjelloul, begibt sich für 86 Minuten noch einmal auf die Schnitzeljagd nach einem Totgeglaubten, und spürt am Ende eine Geschichte auf, die beinahe zu unglaublich ist, um nicht dem Hirn eines Hollywood-Schreiberlings zu entstammen. Dabei kommen alle Beteiligten in Südafrika und den USA – von Bartholomew-Strydom über Segerman, ehemalige Produzenten, aber auch Rodriguez‘ Töchter und der Künstler selbst – zu Wort, und zeichnen das Bild eines Mannes, dem – zumindest in finanzieller Hinsicht – nie das Glück zuteil wurde, das weitaus weniger talentierte Berufskollegen im Überfluss hatten, der darüber hinaus aber nie den Mut und das Ohr für den „kleinen Mann am Rinnstein“ verlor. Ein Mann, der in einem anderen Universum wohl der „bessere Dylan“ geworden wäre – denn hört man die Stücke seiner bis zum heutigen Tag einzigen beiden Alben, so vereinen diese die Qualitäten von His Dylaness mit den Schattenseiten des „Motown“-Sounds eines Marvin Gaye. Doch der Ruhm in der Heimat wird dem mittlerweile 70-jährigen Sixto Rodriguez, der auch nach den „Erfolgen“ in Südafrika, wo sein Debütalbum „Cold Fact“ Goldstatus erreichte, nie von seiner Musik leben konnte, erst heute – durch die tolle, spannend aufgemachte und erzählte Dokumentation „Searching For Sugar Man“ zuteil – und er, der seit 40 Jahren im selben Haus lebt und einen Großteil der Einnahmen aus Südafrika seiner Familie schenkte, hat ihn sich mehr als verdient. Denn Sixto Díaz Rodriguez weiß endlich: seine Lieder, seine Geschichten von der Straße, sie werden gehört. Und das Leben, dieser verrückte kleine Bastard, hat ihm eine Geschichte geschrieben, auf die selbst er nie gekommen wäre…

Rodriguez #3

 

 

In jedem Falle sollte spätestens jetzt jeder den Songs von Rodriguez eine Chance im Gehörgang geben und aufmerksam zuhören (sehr zu empfehlenden ist hierbei der Soundtrack zur Dokumentation, welcher einen Querschnitt durch das leider zu geringe Schaffen des Künstlers bietet), denn –  so viel sei versichert: es lohnt sich! „Searching For Sugar Man“ ist eine große Dokumentation über einen großen, unentdeckten Künstler namens Rodriguez, die den diesjährigen Oscar völlig zu recht für sich beansprucht hat. Punkt. Und nun: hört zu!

 

Rock and Roll.

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