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Der Jahresrückblick – Teil 1


Was für Musik braucht man in einem so eigenartigen Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf diese ganze verdammt verrückte und aus den Angeln geratene Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser, „normaler“, gewohnter werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie das Schlechte – für Momente vergessen lässt. Eine Zuflucht. Eine Ton und Wort gewordene zweite Heimat. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2021 einmal mehr recht wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

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Cleopatrick – BUMMER

2021, ein Jahr, welches rückblickend im Schatten dieser vermaledeiten Pandemie an einem vorbeizog. Januar… Corona… Dezember. War irgendwas? Habe ich irgendetwas verpasst? Nope? Okay, gut – ich leg’ mich mal wieder hin. 

Trotzdem musste es auch in den zurückliegenden zwölf Monaten – und fern aller Kontakbeschränkungen, Li-La-Lockdown-Hin-und-hers, Impfdiskussionen und Wutbürgereien (alles so Begriffe, die kaum einer noch hören oder lesen mag, jedoch längst in unseren sprachlichen Alltag übergegangen sind) – ja irgendwie weitergehen. Während der große Musikfestival- und Konzerttross auch 2021 – allen Lösungs- und Anschubversuchen der Beteiligten zum Trotz – im Gros zum Stillstand verdonnert war, durfte der musikalische Veröffentlichungskalender das ein oder andere Highlight für sich verbuchen, welches es eventuell ohne Fledermaus, menschliche Dummheit und eben Corona nie gegeben hätte. Wäre, wäre, Fahrradkette – klar.

Ebenso auffällig ist, dass sich die ANEWFRIEND’sche Alben-Jahresbestenliste in 2021 wieder auffällig vom Konsens anderer Musikmagazine und -portale unterscheidet, nachdem ich 2020 noch – völlig berechtigt – in die Jubelfeier von Phoebe Bridgers’ großartigem Werk „Punisher“ einstimmen durfte. Denn während andernwebs gefühlte Konsens-Platten von Turnstile oder Little Simz abgefeiert, hochjubiliert und über den grünen Kritikerklee gelobt werden, finden diese hier so gar nicht statt. Hab’s versucht, habe reingehört – just not my cup o’tea. (Dass jedoch weder die neue Platte von The War On Drugs, noch die von etwa The Notwist oder Mogwai – um nur eben die paar Beispiele zu nennen, welche mir gerade einfallen – Erwähnung finden, ist wohl vielmehr dem simplen Fakt geschuldet, dass ich bei all den tollen neuen Tönen des Musikjahres noch nicht zum Hören dieser Alben gekommen bin.) Andererseits findet mein persönliches Album des Jahres andernwebs (beinahe schon erschreckend) wenig Erwähnung. Verehrte Kritiker-Kolleg*innen – was’n da los?

An Luke Gruntz und Ian Fraser alias Cleopatrick kann’s keinesfalls liegen, denn die beiden Kanadier zerlegen mit ihrem Langspiel-Debüt „BUMMER“ in weniger als einer halben Stunde in bester Duo-Manier mal eben alles, was gerade noch unbehelligt im eigenen verranzten Proberaum in Coburg, Ontario im Weg stand. The Black Keys sind euch zu bluesmuckig? Royal Blood sind mittlerweile – und spätestens mit ihrem diesjährigen dritten Album „Typhoons“ – zu sehr in Richtung Indiedisco gehüpft? Bei den White Stripes hat die so schrecklich eintönig neben dem Beat trommelnde Meg White eh schon immer genervt? Dann sind diese zehn Stücke euer persönlicher Hauptgewinn! Im Grunde gibt’s über diese Platte im tiefen Dezember auch gar nicht mehr zu berichten als das, was ich knapp sechs Monate zuvor in meiner Review zum Ausdruck gebracht habe (oder zum Ausdruck bringen wollte). Das Ding rockt wie die im Lockdown ganz fuchsteufelswild gewordene Sau! Mehr juvenile, am Zeitgeist zwischen Blues’n’Indierock- und Hippe-di-Hopp-Gestus gewachsene Pommesgabel brauchte es 2021 nicht. Hat leider kaum ein grunzendes Nutztier mitbekommen, macht’s für mich selbst aber keineswegs schlechter. Geil, geiler, Cleopatrick on fuckin’ repeat.

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2. The Killers – Pressure Machine

Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 1: Brandon Flowers und seine Killers durfte man eigentlich – nach immerhin vier im Großen und Ganzen (n)irgendwohin musizierenden Alben zwischen 2008 und 2020 (also alle nach „Sam’s Town“) – schon ad acta legen. Umso überraschender, dass dem Bandkopf der Las-Vegas-Alternative-Poprocker ein solches qualitativ dichtes, tatsächlich zu Herzen rührendes Werk wie „Pressure Machine“ in den kreativen Schoß fiel, während Flowers – wie viele seiner Kolleg*innen auch – dazu verdonnert war, konzertfrei zu Hause herumzusitzen. Er machte das Beste daraus und zog sich gedanklich nach Nephi zurück, einem 5.000-Seelen-Örtchen im Nirgendwo von Utah, Vereinigte Staaten, wo er als zehn- bis 17-Jähriger lebte, bevor es ihn wieder in seine Geburtsstadt Las Vegas verschlug. Die daraus resultierenden Tagträumereien sind jedoch keineswegs biografisch verklärter Hurra-US-Patriotismus, sondern ein ehrlicher, scheuklappenfreier Tribut an die oft von der Gesellschaft vergessenen „einfachen Leute“, an ihre Leben, Lieben und persönlichen Geschichten. Dass diese irgendwo zwischen auf Balladeskes im Heartland Rock und – ja klar, gänzlich können es Flowers und seine drei Bandkumpane auch hier nicht lassen – schillernde Festivalhauptbühnendiscokugel pendelnden elf Songs ebenjene „einfachen Leute“ zwischendrin auch selbst zu Wort kommen lassen, macht das Gesamtergebnis eben nur noch dichter, tiefer und zu einem Konzeptwerk-Erlebnis, welches selbst die größten, wohlwollendsten Killers-Freunde anno 2021 kaum mehr erwartet haben dürften. Großes Breitwandformatkino für die Ohren.

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3.  Torres – Thirstier

Man einem Künstler, manch einer Künstlerin verleiht das Glück der Liebe ja keine kreativen Hemmschuhe, sondern vielmehr tönende Flügel – das beste aktuelle Beispiel dürfte Mackenzie Ruth „Torres“ Scott sein. Deren fünfte Platte bestätigt zudem, dass die im wuseligen Big Apple beheimatete US-Musikerin längst aus der Indie-Singer/Songwriterinnen-Sadcore-Nummer früherer Tage heraus gewachsen ist. Für die zehn Stücke von „Thirstier“ setzt sie auf raumgreifende Rock-Hymnen, welche selbst kleine Alltäglichkeiten immer etwas glänzender darstellen, als man sich das zunächst denken würde. „Before my wild happiness, who was I if not yours?“ konstatiert Torres beispielsweise in „Hug From A Dinosaur“. Oft genug stellt man sich beim Hören der Songs selbst die Frage: Wie schön – zum Himmel, zur Hölle – kann man bitte über die Liebe singen?!? Exemplarisch etwa das sanft startende und in einem fulminanten Feuerwerk endende fantastische Titelstück: „The more of you I drink / The thirstier I get“ – Zeilen fürs von Herzen umrahmte Poesiealbum, ebenso das Zitat aus dem manischen Finale des Albumabschlusses „Keep The Devil Out“, welches passenderweise die Auslaufenrillen der A- und B-Seiten der Vinylversion ziert: „Everybody wants to go to heaven / But Nobody wants to die to get there“. Bei Torres sind diese gefühligen Momente anno 2021 meist mit donner-dröhnenden Gitarrenteppichen unterlegt, die sich so mit ihrer mahnend bis sehnsüchtig-zerrenden Stimme verbinden, dass man nur jubilieren möchte: Endlich mehr Liebe, endlich mehr Epos! Ihr bisher gelungendstes Werk, ohne Zweifel.

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4.  Moritz Krämer – Die traurigen Hummer

Moritz Krämer macht mit „Die traurigen Hummer“ ein nahezu lupenreines „Moritz-Krämer-Album“ und beweist, dass er noch immer der besten bundesdeutschen Liedermacher ist. Dass dieses irgendwie ja vor dem zweiten Album „Ich hab’ einen Vertrag unterschrieben“ entstand? Dass der Berliner Musiker, den man sonst als ein Viertel von Die höchste Eisenbahn kenn kann, hier einmal mehr den Blick auf die abseitigen kleinen Alltagsmomente legt und für jene Sätze findet, auf die man selbst in abertausend Leben nicht gekommen wäre, die aber nun plötzlich ebenso richtig wie wichtig scheinen? Dass Krämer sich in den zehn Songs einmal mehr als wohlmöglich größter Kauz des deutschen Indie Pops erweist? Alles erfreulich, alles ebenso unterhaltsam wie kurzweilig, genau wie dieses Album.

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5.  Gisbert zu Knyphausen & Kai Schumacher – Lass irre Hunde heulen

Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 2: Gisbert zu Knyphausen, seines Zeichens – neben dem gerade erwähnten Moritz Krämer – ein anderer großer deutscher Liedermacher, und Kai Schumacher, mit Talent gesegneter Pianist und hier der andere kongeniale Part, kommen mit Neuvertonungen von Franz Schubert-Stücken ums Eck. Was im ersten Moment – und ohne einen der Töne von „Lass irre Hunde heulen“ im Gehörgang zu haben – anmuten könnte wie die nervtötende siebente Stunde im Deutsch- oder Musik-Leistungskurs, gerät überraschenderweise derart faszinierend, dass es eine wahre Schau ist. Gisbert zu Knyphausen und Kai Schumacher transportieren etwa 200 Jahre alte Stücke ins 21. Jahrhundert als wäre dieses Kunststück das kleinste der Welt. Romantik meets Moderne, und man selbst hört fasziniert träumend zu.

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6.  Biffy Clyro – The Myth Of The Happily Ever After

Mal Butter bei die Fische: Jene Band, die einst mit „Infinity Land“ und „Puzzle“ auch meinen eigenen musikalischen Kosmos im Sturm eroberte, gibt es längst nicht mehr. Sie wird wohl auch kaum mehr wiederkommen, da brauchen sich selbst innigst Hoffende wenig vormachen. Zu breit ist die Fanbasis geworden, die sich Biffy Clyro mit den darauffolgenden Alben in den vergangenen zehn Jahren erschlossen haben, zu mainstreamig fällt das Festival-Publikum aus, das die Headlines-Auftritte der drei Schotten mittlerweile besucht. Und doch gibt „The Myth Of The Happily Ever After“ endlich wieder berechtigten Grund zur Hoffnung – und all jenen die Hand, die einst Songs wie „Wave Upon Wave Upon Wave“ erlagen. Wenngleich Biffy Clyro recht wenig Interesse daran haben, die Uhren so weit zurückzudrehen. In Ansätzen gab bereits der letztjährige Vorgänger „A Celebration Of Endings“ den neuen Glauben an die Band zurück, allen voran durch den ruppigen Schlusstrack „Cop Syrup“. Aber erst sein in Lockdown-Eigenregie entstandenes Geschwister-Album, mit Fleisch gewordenem Alternative Rock in „A Hunger In Your Haunt“, einer Gänsehaut erzeugenden Verneigung vor einem zu früh verstobenem Freund in „Unknown Human 01“, der aufbäumenden Ehrerbietung für ein unterentwickeltes japanisches Rennpferd namens „Haru Urara“ und einem erneut aggressiv schäumendem Finale, lässt das 2016er Werk „Ellipsis“ endgültig als elektropoppigen Solitär in der Vita einer der größten und sympathischsten Stadionbands der Gegenwart erscheinen. Mon the Biff!

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7.  Sam Fender – Seventeen Going Under

Seventeen Going Under“, das Nachfolgewerk zu Sam Fenders bockstarkem Debütalbum „Hypersonic Missiles“ (welches seinerzeit, 2019, den Spitzenplatz der ANEWFRIEND’schen Jahrescharts erobern konnte), ist eine klassische Coming-Of-Age-LP. Der Musiker aus North Shields, einer kleinen Stadt im Nordosten Englands, berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Teenager, die oft genug von Angst, Wut und Problemen handeln – „See, I spent my teens enraged / Spiralling in silence“ wie es im eröffnenden Titelstück heißt. Trotz der sehr persönlichen Geschichten schafft es Fender, die Themen – schwierige Beziehungen mit Familie und Freunden, Umgang mit Erwartungshaltungen, Erfahrungen mit Alkohol und Gewalt, Gefahren toxischer Männlichkeit – universell zugänglich und nachfühlbar für alle Hörer*innen zu machen. So handelt „Get You Down“ davon, wie eigene Unsicherheiten Partnerschaften beeinflussen, oder „Spit Of You“ von der schwierigen Beziehung von Vätern und Söhnen. Aber auch seine politische Seite zeigt der Engländer wieder, wenn er etwa in „Aye“ seinem Ärger über die gegenwärtigen Zustände Luft macht und zu dem Schluss kommt: „I’m not a fucking patriot anymore, […] I’m not a fucking liberal anymore“. In eine ähnliche Richtung geht „Long Way Off“, in dem es heißt: „The hungry and divided play into the hands of the men who put them there“. Beim Sound wird Fender seinem Ruf als „Geordie Springsteen“ oder als einer Art „britischer Antwort auf The War On Drugs“ weitgehend gerecht. Klassischer, hymnisch orientierter Rock-Sound trifft in den elf Songs (in der Deluxe Edition sind’s sogar fünf mehr) auf treibende Gitarrenriffs und Saxofon-Einlagen, der jedoch wegen seiner kraftvollen Produktion und dem pumpenden Schlagzeug dennoch alles andere als gestrig tönt. Und: Der 27-Jährige und seine Band variieren und spielen auch – etwa, wie bei „Spit Of You“, mit Country-Einflüssen oder Piano-Balladen-Interpretationen („Last To Make It Home“ und „The Dying Light“). Fast ein bisschen experimentell klingt „The Leveller“ an, wenn sich hämmernde Drums mit Streichern auf Speed verbinden. Alles in allem mag „Seventeen Going Under“ zwar im ersten Hördurchgang nicht dieselbe Sogwirkung entwickeln wie der Erstling, geht jedoch dennoch als würdiger Nachfolger von „Hypersonic Missiles“ durch, der einen trotz der ernsten, gesellschaftskritischen Themen mit einem zwar melancholischen, jedoch durchaus guten Gefühl entlässt. Oder, wie Sam Fender es selbst recht passend zusammenfasst: „It’s a celebration of life after hardship, and it’s a celebration of surviving.“

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8.  Manchester Orchestra – The Million Masks Of God

Dass Manchester Orchestra, bei genauerem Hinhören seit einiger Zeit eine der faszinierendsten Bands im Alternative-Rock-Kosmos, kein Album zweimal schreiben, macht den Sound des US-Quartetts aus Atlanta, Georgia irgendwie aus und lässt ihre Werke bestenfalls zu von Hördurchgang zu Hördurchgang stetig wachsenden Klang-Kaleidoskopen werden wie das 2017er Album „A Black Mile To The Surface“. Auf „The Million Masks Of God“, seines Zeichens Langspieler Nummer sieben, entfernt sich die Band um Frontmann Andy Hull noch weiter von ihren frühen Emo-Rock-Einflüssen zugunsten eines poppigen, noch weiter aufgefächerten Indie-Sounds, der hier vor allem um Einflüsse aus Americana, Alt. Country und sogar Gospel erweitert wird. Wer’s böse meint, der könnte behaupten, dass es wohlmöglich das „amerikanischste Album“ sei, dass Manchester Orchestra je (oder zumindest bisher) geschrieben haben. So versetzt etwa „Keel Timing“ alle Hörer*innen direkt in eine Midwest-Szenerie, die einem einen Güterzug vors innere Auge pinselt. Wer noch mehr zu kriteln haben mag, der darf gern behaupten, dass dem Album in Gänze – zumindest im ersten Moment – jener „Pop-Approach“ fehlen mag, welchen einzig „Bed Head“, ein nahezu perfekt geschriebener Popsong mit hohem Suchtfaktor, liefert. Stattdessen verlagern Andy Hull und Co. das Faszinosum hier weiter ins Detail und hinein in die stilleren Töne, wenngleich es mit „The Internet“ auch einen kleinen Rückblick auf den Vorgänger „A Black Mile To The Surface“ gibt. Mit dem hat „The Million Masks Of God“ dann noch etwas anderes gemein: Einmal mehr benötigt ein Manchester Orchestra-Langspieler mehr Zeit, mehr Hördurchgänge, um zu wachsen, um in Tiefe wirklich erfasst werden zu können. Freunde der Band aus Zeiten vor dem ähnlich einnehmenden „Simple Math“ wird es jedoch wohl nur schwerlich begeistern können. 

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9.  Thrice – Horizons / East

Spätestens seit ihrer Rückkehr nehmen Thrice verlässlich Platten von großmeisterlicher Souveränität auf – „Horizons / East“ bildet da erfreulicherweise keine Ausnahme. Dass Frontmann Dustin Kensrue dieses Mal eindringlich von bröckelnden Gewissheiten singt, darf dennoch als Hinweis an alle durchgehen, die sich vor der Altersmilde einer ehemaligen Sturm-und-Drang-Band fürchten. Klar, behagliche Gitarren-Ströme beherrscht das US-Quartett genauso mühelos wie aufbrandende Refrains, das macht Songs wie das erst anmutig torkelnde und schließlich explodierende „Dandelion Wine“ oder die knackige Deftones-Hommage „Scavengers“ jedoch nicht weniger beeindruckend. Schuld daran sind Details in den Texturen – die verdrehten Riffs in „Scavengers“ etwa – oder rhythmische Haken, die den umliegenden Wohlklang bestenfalls schaumig schlagen. Andere Songs experimentieren stilistisch, „Northern Lights“ mischt zum Gefrickel unruhigen Bar-Jazz, „Robot Soft Exorcism“ wiederum integriert thematisch passend synthetische Sounds. Im Finale „Unitive / East“ lösen sich Thrice gar spektakulär in einer fluoreszierenden Soundpfütze auf, in welche ein klimperndes Piano tröpfelt – mit dem Versprechen, bald mit den Nachfolger „Horizons / West“ zurückzukehren.

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10. Julien Baker – Little Oblivions

„Everything I get, I deserve / You whisper to me ‚Don’t you like when it hurts?’…“ Niemand leidet so schön wie Julien Baker. Die Musik der Singer/Songwriterin aus Tennessee ist ein offenes Buch, das in wunderschönen Worten von Depressionen, Alkoholismus, Zweifeln an der eigenen Spiritualität und zerbrochenen Beziehungen erzählt. Schon auf ihrem 2015er Debüt kümmerte sich Baker herzlich wenig darum, geneigten Hörer*innen Oden von der Freude vorzuträllern – ist schließlich ihr Album, sind ihre Probleme, also ist all das ihre Therapie. Und all jene, die den Werdegang der mittlerweile 26-jährigen US-Musikerin genauer verfolgen, wissen: daran hat sich über die Jahre nichts – und wenn, dann lediglich in Detailfragen – geändert. Auch „Little Oblivions“, ihr nunmehr drittes Album, erzählt von recht ähnlichen Problemen in ebenso schönen Worten – und trifft einen damit erneut mitten ins Herz. Was sich allerdings geändert hat, ist die Art, wie Baker das Lecken ihrer Wunden musikalisch aufbereitet. Wo „Sprained Ankle“ und „Turn Out The Lights“ in ihrer Spärlichkeit und desolaten Klanglandschaften fast schon nihilistisch wirkten (was umso ironischer gerät, wenn man weiß, wie offen Julien Baker ihren Glauben zur Schau stellt), erklingen in „Little Oblivions“ erstmals detaillierte, organische Orchestrationen, die den tröstenden Silberstreifen verbildlichen, der sich im Laufe der Platte immer wieder flüchtig manifestiert. „Little Oblivions“ beschreibt diesen Moment, sucht danach – und macht darin am Ende doch vieles wieder kaputt. Man lausche nur dem fulminanten Finale von „Hardline“! Baker findet immer wieder kurz Halt, nur um erneut vom destruktiven Strudel aus Selbstzweifeln und der schlichten Unfähigkeit, glücklich zu sein, hinabgerissen zu werden. „It doesn’t feel too bad / But it doesn’t feel too good either“ – Ihre Songs sind bittersüße Umarmungen, ein wohltuendes Bad in den eigenen Tränen, das auf „Little Oblivions“ mehr denn je dazu einlädt, kopfüber einzutauchen, während Julien Baker einem klammheimlich das Herz aus der Brust reißt. Katharsis und Destruktion, Erlösung und Zweifel lagen 2021 selten näher beieinander. 

…auf den weiteren Plätzen:

Kevin Devine – Matter Of Time II mehr…

Jim Ward – Daggers mehr…

Slut – Talks Of Paradise

Danger Dan – Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt mehr…

Wolfgang Müller – Die Nacht ist vorbei mehr…

Rock and Roll.

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Song des Tages: Biffy Clyro – „Cop Syrup“


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Klar, es wäre wohl nur allzu leicht, Biffy Clyro nach dem überaus mediokren, vor vier Jahren erschienenen „Ellipsis“ abzuschreiben und das schottische Alternative-Rock-Trio namentlich dem Kommerz preiszugeben. Aber: Mit „A Celebration Of Endings“ darf selbst ein Großteil der voreiligen Kritiker getrost wieder umdenken und die bereits feinsäuberlich formulierten spitzen Worte gen Papierkorb befördern…

0190295273361Was wohl bereits beim allerersten Durchlauf des neuen, mittlerweile neunten Albums, dessen Veröffentlichung aufgrund von Corona und Co. von Mai auf August verschoben wurde, auffällt, ist die Tatsache, dass sich die Band mittlerweile etwas vom Korsett ihrer Drei-Album-Zyklen gelöst hat. Da wäre zunächst das Frühwerk um „Blackened Sky„, „The Vertigo Of Bliss“ und „Infinity Land„: Die aus dem beschaulichen Kilmarnock stammenden Schotten bespielten damals, kurz nach der Jahrtausendwende, noch deutlich kleinere Bühnen und die Outfits, welche vor allem zu Zeiten von „Infinity Land“ glatt aus der psychiatrischen Klinik hätten stammen können, waren noch so präsent wie die nackten, stylisch tätowierten Oberkörper, die später – vor allem bei Frontmann Simon Neil – dominierten. Obendrein gerieten die Singles ihrer Platten zu magisch-bombastischen, nicht selten math-rockigen Aushängeschildern einer infektiösen Alternative-Rock-Band, die zu dritt lauter und knackiger klang als ihre meist doppelt so umfangreiche Konkurrenz. Das änderte sich so langsam aber sicher mit dem weitaus weiter, weitaus opulenter gedachten Dreierwurf aus „Puzzle„, „Only Revolutions“ und „Opposites“ (letzteres sogar als Doppel-Album), dessen Hymnen wie „Folding Stars„, „Mountains“ oder „Black Chandelier“ den drei Biffy-Buddies eine immer größere Fanschar bescherten. Der hinterrücks zupackende Wahnsinn wich poppigeren, nicht selten zahmeren – und manchmal auch durchschaubareren – Strukturen, die den headbangenden Rocksong ebenso beherrschten wie die Feuerzeug-meets-Handyleuchten-Balladen. Die Singles zielten vor allem auf Allgemeinverträglichkeit ab, während die Experimente in die Zwischentöne und B-Seiten verschwanden. Vor vier Jahren sollte das doch sehr ziellose jüngste Werk „Ellipsis“ (lässt man einmal den im vergangenen Jahr erschienenen Quasi-Soundtrack „Balance, Not Symmetry“ außen vor) den Auftakt eines neuen Zyklus (noch) größerer Pop-Entwürfe darstellen. Doch diesen Weg beschreitet „A Celebration Of Endings“ nun entgegen der ursprünglichen Pläne – zum Glück! – nicht weiter.

Und: Wer aufmerksam auf Simon Neils Texte achtet, der wird schnell bemerken, woran das liegen mag. Recht offensichtlich, dass abseits der Bühne so einiges im Argen lag im Leben des sympathischen Trios, so wütend sind die Lyrics an mancher Stelle geraten. Die Enden, die hier zelebriert werden, gehören ganz klar zu langjährigen, wichtigen Beziehungen. So schwebt der Brexit noch über dem Gemüt der Schotten, die wissen: Angst ist ein verdammt schlechter Ratgeber. So traf die drei Biffys der Tod von Frightened Rabbit-Frontmann Scott Hutchison vor zwei Jahren ebenso hart wie den Rest der schottischen Musikszene, und schlägt sich nun ebenso auf die Grundstimmung des neuen Langspielers nieder. Oder man höre die opulente Akustik-Ballade „Opaque„, in der Simon Neil und die Johnston-Zwillinge Ben und James mit ihrem ehemaligen Manager abrechnen: „Take the fucking money and run!“. Auch „End Of“ basiert auf einer langjährigen Freundschaft, die wohl keineswegs im Guten endete – nur diesmal nicht balladesk vertont, sondern als recht old-schooliger Biffy Clyro-Song, der mit einem völlig unvermittelten Piano-Break und einer abschließenden Ansammlung randalierender Riffs daher kommt. Obendrein darf James Johnston mit seinem Bass zu Beginn im Mittelpunkt stehen, bevor die Nummer richtig Fahrt aufnimmt. Wie so oft bei „Mon the Biff“ besitzt all das einen ordentlichen Drive, dazu punktet das Stück mit einem Refrain, der sich sehr schnell im Ohr festsetzt.

„Dieses Album hat den Blick nach vorn gerichtet, sowohl aus persönlicher als auch gesellschaftlicher Perspektive. Der Titel handelt davon, die Schönheit an Veränderungen zu sehen anstatt das Traurige. Veränderung bedeutet Wachstum und Entwicklung. Du kannst alles bewahren, was du zuvor geliebt hast, aber lass‘ uns einiges von dem negativen Scheiß loswerden. Es geht um den Versuch, die Kontrolle zurückzuerlangen.“ (Simon Neil)

Bereits diese zwei Songs zeigen das breite Spektrum, das Biffy Clyro auf „A Celebration Of Endings“ auffahren, wobei die extremen Pole dieses Mal vor allem auf der zarteren Seite abgedeckt sind, denn insgesamt ist das neue, von Rich Costey produzierte Werk nämlich nicht nur sehr abwechslungsreich, sondern vor allem – vor allem unter Betrachtung der letzten Albums sowie der Tatsache, dass die Band sich vor zwei Jahren auch ihr eigenes „MTV Unplugged“ gönnte – erstaunlich hart ausgefallen. Natürlich gibt es mit „Space“ noch eine – bei allem Kitsch – gelungene, von enormen Streicher-Arrangements unterlegte Ballade, die zudem einen zu sehr Herzen gehenden Text hat, und mit dem EDM-geschwängerten „Instant History“ ein Breitwand-Pop-Epos, das als erste Single einige zurecht verwunderte Fans bereits vor dem Kopf gestoßen haben dürfte. Im Albumkontext funktioniert die Nummer, ebenso wie „The Champ„, das zwar mit den Eighties-infizierten Pop-Hits von Muse flirten mag, jedoch neben dem kleinen Drama nicht mit Melodie und packender Bridge geizt, aber hervorragend.

So weit, so gelungen. Dennoch setzt dem Gesamtwerk ausgerechnet der Abschluss „Cop Syrup“ die Krone auf, der auf über sechs Minuten gleich mehrfach zu überraschen weiß. Hier kumuliert alles, was Biffy Clyro über die vergangenen beiden Jahrzehnte stark gemacht hat: rhythmisch perkussive Prog-Haken, Impulsivität, Energie und Streicher, die schier endlos ihre Tonhöhe verändern. Hier treffen die aggressivsten Momente der Bandgeschichte auf einen recht abrupt einsetzenden Mittelteil, der den Hörer mit einem feinen, harmonisch-verträumten Streicherpart in Sicherheit wähnt, bevor die Biffys für Momente erneut loslegen und Simon Neil mit einem abschließenden „Fuck everybody! Woo!“ allen Weltschmerz fahren lässt. Dazu werden mehrstimmig vorgetragene Melodien, ein wie ein Berserker schreiender Frontmann und Akustikgitarren serviert. Klingt etwas irre? Ist es auch, funktioniert jedoch großartig. Und auf einmal passen sogar die Outfits aus der Klapse wieder wie angegossen…

Ja, der groß angelegte Pomp, der ums Eck gedachte Pop, die mächtigen Powerchords – das alles gehört zu Schottlands fraglos sympathischster Stadionrockband. Nein, Biffy Clyro klingen nicht wie anno 2004 (und werden das wohl auch in Zukunft nicht mehr tun), wenngleich manch ein Stück – wie eben „Cop Syrup“ – durchaus Elemente des Sounds von einst, zu Zeiten von „Infinity Land“, in sich trägt. Pures Erfolgsstreben kann man den Schotten aber selbst mit böswilligster Absicht kaum unterstellen. Wer während der Shutdown-Wochen mitbekommen hat, wie hingabevoll Simon Neil beinahe jede Woche mit Gitarre vor der Kamera in seinem Haus saß und für die pandemisch Vereinsamten via Social Media einen Wunsch-Song nach dem anderen klampfte, lauschte einem Musiker – und keiner bloßen Rockstar-Hülle. An der mitunter hitzigen Diskussion, ob Biffy Clyro nach einem Vierteljahrhundert Bandhistorie nur noch Füller fürs Zwischendrin liefern oder noch immer die Erfüllung fürs Ohr sind, wird „A Celebration Of Endings“ zwar eher wenig ändern, kann jedoch so einige amtliche Argumente auf der positiven Seite verbuchen.

 

 

„I’ve been punching rainbows since ’79
It’s self preservation

Baby, I’m scorched earth
You’re hearts and minds
Fuck everybody! Woo!

I’m not dumb, and I’m not blind
You don’t have to be cruel to be kind

Scream, everybody
Scream, everybody
Scream, everybody

I’ve been saved from the darkest place
I’ve embraced the need to live

You’ve been hanging out for twenty years
It’s self preservation
I cannot ignore my burning ears
Could anybody? Woo!

I’m not dumb, and I’m not blind
Turns out you’re the lying kind

Scream, everybody
Scream, everybody
Scream, everybody
Go, go, go!

I’ve been saved from the darkest place
I’ve embraced the need to live
We’ve lived before and we’ll live again

I’ve been punching rainbows since ’79
It’s self preservation
Baby, I’m scorched earth
You’re hearts and minds
Fuck everybody! Woo!“

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Das Album der Woche


Ein weiteres hervorragendes Jahr für schottische (Lieblings)Bands? Kürzlich berichtete ANEWFRIEND noch über das Album und die ihm vorausgegangene „Black Chandelier EP“, nun ist es das aktuelle „Album der Woche“… 

 

Biffy Clyro – Opposites (2013)

Biffy Clyro - Opposites (Cover)-erschienen bei 14th Floor/Warner-

Biffy Clyro haben ein Problem. Ihre Anhängerschaft teilt sich mittlerweile in zwei Lager, die sich wohl spinnefeind sein dürften. Zum Einen sind da jene, die dem aus dem schottischen Kaff Kilmarnock stammenden Trio aus Simon Neil (Gesang, Gitarre) und dem Zwillingsduo James und Ben Johnston (Bass beziehungsweise Schlagzeug) seit ihrem ersten, 2002 veröffentlichten Album „Blackened Sky“ die Treue halten, sich in den Moshpits zu den Haken schlagenden Rhythmen die Nasen blutig tanzen und jede Textzeile auf Gedeih und Verderb aus tiefstem Herzen bierselig mitgröhlen. Und andererseits sind da nun jene, die sich in die Massen der mittlerweile bespielten 15.000er-Hallen mischen, „Biffy“ nur anhand der – nichtsdestotrotz noch immer exzellenten – Singles aus den Formatradiostationen, wie „Many Of Horror“ oder „Mountains“, kennen (oder von den ZDF-Berichterstattungen im Zuge der letzte Fussball-WM in Südafrika, welche stets mit dem Intro von „That Golden Rule“ unterlegt waren) und bei jedem Mal, wenn ihnen der „ach soooo süße“, stilvoll und im Übermaß tätowierte Frontmann oberkörperfrei entgegen rutscht, spitze Schreie ausstoßen. „Mon The Biff!“ vs. Trendgefolgschaft.

Biffy Clyro (Promo #1)

Ganz unabhängig vom Bandoutput – sprich: den Songs – muss man der Band zugute halten, dass dieser Erfolg nicht von heute auf morgen kam. Seit ihrer Gründung Mitte der Neunziger (damals war etwa Simon Neil gerade einmal fünfzehn!) hat sich das Dreiergespann alles redlich erarbeitet, sich den Arsch auf Ochsentouren hier und jenseits des Atlantiks abgespielt, mehr als einmal den Anheizer für „größere Bands“ (etwa 2007 für Bloc Party) gegeben und ist von Album zu Album organisch gewachsen. Und alle, die noch immer mäkeln, Jahr um Jahr und Platte um Platte den harten, grobschlächtigen Sound der Anfangstage (beziehungsweise der ersten Veröffentlichungen) mehr vermissen, haben eins nicht verstanden: zu all dem, was Biffy Clyro im Jahr 2013 ausmacht – den Pathos, die große Geste, die allumfassende Umarmung, die herzliche Übertreibung -, wollten Neil und die Johnstons schon immer – man höre sich nur das Titelstück „Blackened Sky“ vom Debüt an. Doch Biffy Clyro sind nicht Coldplay, haben keine Hollywoodsternchen geehelicht und auch keine Gastauftritte von Rihanna oder Kylie Minogue nötig. Klar, auch bei ihren Konzerten fangen sie das Publikum ein (respektive: auf), lassen Funken sprühen und Konfetti regnen (ein eindrucksvoller Beweis ist das fulminante Livealbum „Revolutions//Live at Wembley„, das in der CD&DVD-Combo Biffys Livequalitäten untermauert). Doch ganz Schotten, haben sie sich bis heute ihre Natürlichkeit bewahrt, sind sich nicht für „kleinere“ Interviews oder spontane akustische Radiosessions zu schade. Und: auch Biffy Clyro mussten vor nicht all zu langer Zeit der Bandbiografie ein dunkles Kapitel hinzufügen, denn ein heftiges – und mittlerweile wohl zum Glück überstandenes – Alkoholproblem von Schlagzeuger Ben Johnston hätte der Band beinahe den Gnadenstoß verpasst.

Biffy Clyro (Promo #3)

Und so ist es kaum verwunderlich, dass auch „Opposites„, das neue, sechste Album der Schotten – Nummer drei nach dem 2007 erschienenen Major Label-Debüt „Puzzle“ – in den Texten reichlich düstere Töne anschlägt. Und doch zieht die Band viele neue Seiten auf: zum ersten Mal trauten sich Biffy Clyro an das Medium „Doppelalbum“ heran – was nur konsequent erscheint, da die Band im Zuge früherer Veröffentlichung ebenso viel Material aufgenommen hatte, und Simon Neil nach eigenen Aussagen diesmal ganze „46 neue Stücke“ parat hatte. Dabei wurde nicht wild durcheinander gewürfelt, sondern strikt nach Inhalt getrennt: Seite eins – „The Sand At The Core Of Our Bones“ betitelt – sei aus einem „pessimistischerem Blickwinkel“ heraus verfasst und von persönlichen Ängsten und negativen Erfahrungen getrieben, während Seite zwei – „The Land At The End Of Our Toes“ – von der Hoffnung auf eine positivere Zukunft handele. Um diese Unterschiede klar heraus zu stellen, bedarf es bei Biffy schon einem Blick auf die Texte, die sich in den ersten elf Stücken – das jeweils titelgebende Instrumental am Ende mitgerechnet – in der Tat sehr selbstzweifelnd geben. So singt Neil etwa im streichergetragenen Midtempo-Song „You are the loneliest person that I’ve ever known“ und gibt die Liebste in aller Liebe frei: „Take care of the ones that you love / Baby I’m leaving here / You need to be with somebody else / I can’t stop bleeding here / Can you suture my wounds?“, während „The Thaw“ in seinem Innersten vor der steten Erwartungshaltung des Publikums zittert („Can’t you entertain us all? /…/  Tonight we have all shared the same space / Has anything become of it?“). Seite zwei gibt sich da weitaus angriffslustiger und selbstbewusster, egal, ob man(n) sich nun, wie in „Spanish Radio“, auf einem Roadtrip durch die mexikanische Einöde befindet („Your crown don’t fit, so vacate the throne /…/ Hey, you can be lost at the same time as being found“), trotzig mit den Hufen scharrt („I’d rather kiss the ground than kiss a starless sky“ – „Skylight“) oder sich mit den Bandkameraden in „Victory Over The Sun“ zum finalen Kampf gegen den Rest der Welt verbrüdert („I’d die anytime for you / Would you die for me? /…/ This is happening because of you / Stay special brother you stay true /…/ We’re fighting on, listen to your heart and sing“). Dass der Abschlusssong „Picture A Knife Fight“ mit den Worten „I wouldn’t listen to her, she’ll only break your heart“ beginnt oder der Einsicht „We’ve got to stick together“ endet, sagt am Ende viel aus.

Wer die letzten Alben „Puzzle“ oder „Only Revolutions“ (2009 erschienen) kennt und mochte, der wird sich – die Instrumentierung betreffend – auch auf „Opposites“ schnell heimisch fühlen, denn auch 2013 agieren Biffy Clyro nach einem ähnlichen Muster: fette, Haken wie ein wildes Kaninchen schlagende Gitarrenbreaks, dicke Rhythmusfraktion, ruhige Bridges, hymnische, gegen Ende explodierende Refrains. Erfreulich ist jedoch, dass sie die neuen Songs mit ausreichend Neuerungen und Abwechslungsreichtum garnieren, um bei über 80 Minuten Spieldauer der Langeweile entgegenzuwirken. So bauen sie, wie etwa in „Biblical“ eine wahre Wand aus Streichern auf, wagen in „A Girl And His Hat“ oder „The Fog“ einen zarten Flirt mit Achtziger-Jahre-Elektro, walzen in letzterem in bester Post-Rock-Brecher-Manier alles nieder (wozu wohl auch Ex-Oceansize-Kopf Mike Vennart beigetragen haben dürfte, der immer öfter an der Seite des Trios anzutreffen ist), bitten in „Spanish Radio“ eine Mariachi-Band mit Bläsern und spanischen Gitarren ins Studio oder bauen „Skylight“ auf ein Akustikgitarrenintro, zum dem sich im Verlauf noch ein sporadisches Piano, Sythesizer  und ein elektronischer Überbau gesellen. Noch mehr? Natürlich! „Pocket“ ist der leichtfüßigste Uptempo-Sonntagvormittags-Singalong, den die Foo Fighters nie geschrieben haben. „Trumpet Or Tap“ ist ein leicht irrer Bigband-Blues, bei dem einfach alles stimmt: die Gitarren, der Orchestereinsatz, der groß aufspielende Refrain, die explosive Steigerung am Ende. „The Thaw“ beginnt im Midtempo-Bereich, bevor Streicher den Song in höchste Höhen tragen. „Picture A Knife Fight“ wartet mit Orgeln auf, „Sounds Like Balloons“ mit einer Zither, während „Stingin‘ Belle“ das potentiell längste Dudelsacksolo der Rockgeschichte in petto hat. Und immer wieder: Streicher, Streicher, Streicher! Die beiden Instrumentalstücke fungieren als Kammermusikbindeglied („The Sand At The Core Of Our Bones“) beziehungsweise Gitarrenrausschmeißer („The Land At The End Of Our Toes“), bei welchem – gefühlt – tausende Gitarren nach und nach „Bis zum nächsten Mal“ zu sagen scheinen.

Biffy Clyro (Promo #2)

Natürlich wird das von Garth “GGGarth” Richardson produzierte „Opposites“ es auch diesmal nicht allen recht machen können. Natürlich gibt es auch 2013 jene, die Simon Neils dezent schwülstige Lyrik und Metaphorik aus tausenden „Baby“’s und dem steten Kräftemessen zwischen Aufgabe und Kampfansage, zwischen Teufel und Engel, zwischen Nihilismus und Katholizismus am liebsten den Allerwertesten zeigen würden. Wer jedoch vor beherzt rockendem Pathos, Bombast und Opulenz nicht zurückschreckt, den sammelt „Opposites“ auf dem Weg gern auf. Denn Biffy Clyro sind nicht Muse, machen nicht deren Fehler, sich im kalten Herzen der Künstlichkeit vor allem selbst zu feiern. Und obwohl Vergleiche wie etwa zum – kürzlich übrigens in großer Aufmachung wiederveröffentlichten – Monumentalwerk „Mellon Collie And The Infinite Sadness“ der Smashing Pumpkins natürlich nett gemeinter Irrsinn sind, sind Biffy Clyro auch mit ihrem sechsten Album eine Band für Jedermann. „Mon The Biff“ vs. Trendgefolgschaft? Unentschieden – im positivsten Sinn. Denn Biffy Clyro haben zu viel Herz, um sich hierüber den Kopf zu zerbrechen. Und noch immer massig Potential. Und in der Tat höchstens ein Luxusproblem.

 

Hier kann man sich noch einmal die Videos zu den ersten beiden Singles „Black Chandelier“…

 

…und „Stingin‘ Belle“ zu Gemüte führen…

 

…ebenso wie zu den eingangs erwähnten Songs „That Golden Rule“…

 

…oder „Mountains“:

 

Eines meiner Lieblingsstücke? „Folding Stars“, welches Simon Neil für seine verstorbene Mutter schrieb. Hier in der Gänsehaut-Liveversion aus der Wembley Arena:

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
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