Am 30. April 2021 erschien „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ von Danger Dan als erste Veröffentlichung des neu gegründeten Labels seiner Antilopen Gang noch in recht zurückhaltender in Kleinstauflage. Zwei Jahre später können er und alle Beteiligten gar nicht mehr sagen, wie oft sie vor allem die Vinylauflage des Albums inzwischen nachgepresst haben. „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ enterte Platz eins der deutschen Album-Charts, gewann drei „Preise für Popkultur“, einen „Deutschen Kleinkunstpreis“ und unzählige neue Fans. Danger Dan hat die Songs seines zweiten Solo-Langspielers – allen voran das durchaus skandalträchtige Titelstück – ebenso vor tausenden von Leuten in einigen der ehrwürdigsten klassischen Konzertsäle der Republik aufgeführt wie auf dem größten Punk-Festival Deutschlands, gemeinsam mit Igor Levit im „ZDF Magazin Royale“ von Jan Böhmermann und bei unzähligen anderen Gelegenheiten.
Nach dutzenden bis unzähligen umjubelten Konzerten, von den ganzen kleinen Clubs bis hoch in die prunkvollsten Säle und Paläste der Republik, ist es da nur folgerichtig, dass am 2. Juni 2023 „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ als 16 Songs umfassendes, Anfang November 2022 im Berliner Admiralspalast aufgenommenes Live-Album erscheint. Neben einem großen Teil der Songs des Klavieralbums enthält es auch einige ältere Danger Dan-Songs, die hier erstmals in neu arrangierten Versionen mit Klavier und Streichern wiederveröffentlicht werden.
Eines der Stücke, „Ingloria Victoria“, nach „Ölsardinenindustrie“ der zweite Vorgeschmack aufs kommende Live-Album, richtet sich auch auf ehrwürdigen hauptstädtischen Bühnenbrettern mit gewohnt bissigen Worten gegen das Gymnasium in Daniel Pongratz‘ (so Danger Dans bürgerlicher Name) Geburtsstadt Aachen und ist gleichzeitig als grundsätzliche Kritik am deutschen Schulsystem zu verstehen. Am Schluss des Songs zeigen seine beiden Mittelfinger unverhohlen, was er von seiner Schulzeit und jenem Aachener Victoria-Gymnasium hält.
„’Ingloria Victoria‘ ist eine zu Klaviermusik gewordene Abrechnung mit der Aachener Schule, von der der zum Chansonnier mutierte Rapper aus dem Hause Antilopen Gang vor über 20 Jahren geflogen ist“, heißt es in der Pressemitteilung. Und weiter: „Damals war für seine Lehrerinnen und Lehrer noch nicht abzusehen, welchen Weg dieser Störenfried einmal einschlagen und dass seine Musik eines Tages wie ein böser Fluch zurück auf den Schulhof und sogar in das Lehrerzimmer finden würde“.
Und der Erfolg, welchen ihm zu seiner Schulzeit wohl nur wenige Lehrer zugetraut hätten, gibt dem Musiker mittlerweile recht, denn ebendieser „Störenfried“ spielt sowohl am Tag seines Live-Album-Releases als auch am Tag darauf in der nicht eben kleinen Berliner Parkbühne Wuhlheide. Ein amtliches Statement, das jedoch auch einen guten Grund hat: Danger-Dan-Pongratz‘ 40. Geburtstag am 1. Juni. Dazu passt auch das Motto: „40 Jahre Danger Dan: Das schönste (und längste) Fest meines Lebens mit all meinen Freundinnen und Freunden“ -liest sich, als wäre auch mit einer Menge Gästen zu rechnen. Das Live-Album kann bereits in verschiedenen Ausführungen vorbestellt werden und auch für die erste der beiden Berlin-Shows gibt es noch Tickets.
(Jeffrey Ross Hyman aka. Joey Ramone, 19. Mai 1951 – 15. April 2001, US-amerikanischer Musiker, Leadsänger und einer der Songwriter der Punk-Band Ramones)
„Die Ramones gehören zu den wichtigsten Bands aller Zeiten. Für einige sind sie sogar die Schöpfer dessen, was man bald nach ihrer Gründung ‚Punk‘ nannte“, wie der „Rolling Stone“ schreibt. Daher ist es auch kaum verwunderlich, dass es im Laufe der Zeit so einige Tributes an die großen Ramones gab. Etwa jene, die am 11. Februar 2003 erschien – und mit einem außergewöhnlichen Staraufgebot überraschte. Zudem gehört die Cover-Compilation „We’re A Happy Family: A Tribute to Ramones“ zu den letzten Amtshandlungen von Gitarrist und Bandkopf Johnny Ramone.
Die Ramones sind bereits Geschichte, als die Idee eines Tribute-Albums an Johnny Ramone herangetragen wird. Im August 1996 hatte sich die 1974 in New York City gegründete Band mit einer Show in Hollywood aufgelöst, am 15. April 2001 war Sänger Joey Ramone verstorben. Johnny sagte seine Beteiligung an der Compilation unter einer Bedingung zu: Er wollte volle Kontrolle und das letzte Wort. Das sollte sich auszahlen, denn als Punk-Rock-Ikone hat man schließlich so ziemlich alle wichtigen Telefonnummern: „Ich habe ihnen gesagt, dass ich Eddie Vedder kriegen kann“, erklärt der Gitarrist später. „Und dass ich Rob Zombie bekommen kann, die Chili Peppers, Marilyn Manson und Metallica.“ Und so kommt es auch: Im Februar 2003 erscheint „We’re A Happy Family: A Tribute to Ramones“ mit prominenter Besetzung. Mit dabei sind neben den Genannten U2, Green Day, Garbage, The Offspring, Tom Waits, The Pretenders, Rancid, Pete Yorn und sogar Kiss.
Vorher hatte Johnny allen Bands nahegelegt, die Songs so anzugehen, als hätten sie sie selber geschrieben. Das funktioniert unterschiedlich gut: Rob Zombies Variante von „Blitzkrieg Bop“ und Marilyn Mansons „The KKK Took My Baby Away“ bekommen einen bizarren Industrial-Anstrich, „Do You Remember Rock’n’Roll Radio?“ klingt dank Kiss plötzlich nach großer Stadionshow. Green Day hingegen hauen „Outsider“ so raus, wie man es von ihnen gewohnt ist. Die Peppers-Version von „Havana Affair“ soll Johnny Ramone so gut gefallen haben, dass er sie deshalb an den Anfang der Platte setzte, während er „Something To Believe In“ nach eigenen Aussagen erst in der luftigen Aufnahme der Pretenders so richtig möchte. Auf einigen Editionen der Platte gibt es sogar einen versteckten Track: „Today Your Love, Tomorrow The World“ von Ex-und-jetzt-wieder-Chili-Peppers-Gitarrist John Frusciante.
Doch nicht alle Ideen und losen Pläne gehen auf: Für den Song „Here Today, Gone Tomorrow“ etwa hatte der Ramones-Chef ursprünglich Elvis‘ unlängst verstorbene Tochter Lisa Marie Presley eingeplant, auf der Platte landet jedoch eine Version von Rooney. (Frau Presley nimmt das Stück später für ihr eigenes Album „Now What“ auf.) Sogar den „Boss“ höchstselbst wollte Johnny für das Projekt gewinnen, doch leider fällt diese Anfrage ins Wasser, ohne dass er einen Grund dafür erfährt. „Wenn man versucht, an jemanden über sein Management ranzukommen, dann hört man nie genau, was los ist“, kommentiert der Ur-Ramone in einem Interview auf der Band-Homepage. „Später trifft man den Künstler dann, und der hat nie etwas von der Sache mitbekommen.“
Die Ramones live in Toronto, 1976 (Foto: Plismo)
Als Co-Produzent agiert Rob Zombie, er zeichnet auch das fein anzusehende Cover. Der Mann – immerhin selbst Musiker, Regisseur und Kreativling in Personalunion – ist, wie alle, die ihre Beiträge beisteuern, freilich erklärter Fan: „Die Ramones sind die beste amerikanische Band. Was sie gemacht haben, ist so simpel, so reduziert und so auf den Punkt, dass man damit nichts falsch machen kann.“ Die Liner Notes schreibt ebenfalls ein berühmter Fan: Horrorikone Stephen King.
Leider sollte dieses durch und durch gelungene Tribute eine der letzten „Amtshandlungen“ von Johnny Ramone sein: Anderthalb Jahre später verstirbt der stilprägende Gitarrist mit nur 55 Jahren an Prostatakrebs. Der Einfluss seiner Band auf Rock und Punk, wie wir sie kennen, bleibt jedoch unvergessen. Das zeigt sich auch darin, dass die beteiligten Bands und Künstler*innen die Ramones-Songs bis heute immer wieder gern live spielen.
„Wir haben uns entschieden / So wie die meisten / Fürs Rattenrennen / Und fürs Eigenheim leisten / Du blickst herab / Mit diesem Wissen was los ist...“ Liedermacher Niels Frevert sitzt 2008 im von Rotwein getränkten, überaus selbstreflexiven Kettcar-Song „Am Tisch“ in einer stylish-schicken Altbauwohnung und schaut zu seinem Freund Marcus Wiebusch hinüber, dem kauzig-arroganten grumpy old leftie, der seit jeher wohl alles immerzu besser wusste. Doch jener Wiebusch hadert Sekunden später selbst mit sich: „Ein Toast / Auf das Leben / Das Glück / Nur ich, ich komm‘ nicht mehr mit / Mit dem Leben / Dem Glück…“ Die Klarheit der Jugend, hinfortgerissen im Taumel der immergleichen Tagesroutinen. Nicht nur Niels, auch Marcus ist jetzt Teil jener Kraft, die stets Gutes will, aber oft gar nichts schafft: den Linksliberalen.
Dreizehn Jahre vor dem „Tisch“ sind die Fronten wesentlich klarer: „Die Feigheit hat einen Namen, linksliberal„, rotzt der Hamburger Wiebusch, damals vergleichsweise juvenile 26 Jahre jung, mit seiner ersten echten Band ..But Alive auf „Natalie“ vom zweiten Album „Nicht zynisch werden?!“ seine Wut in die Welt – und er hat in den Neunzigern eine Menge davon. Bereits beim Opener „Nennt es wie ihr wollt“ widmet sich der stets latent sprechsingende Frontmann dem Ausverkauf der eigenen (Punk-)Szene. Einem Ausverkauf, der eben im Alter – zumindest für die Glücklichen, die Sesshaften, die Spießigen – doch zum Eigenheim führt. Als Fundament dient ihm der wie aus einem Guss gespielte Mix aus melodischen Punk-Rock-Refrains und tempiwechselnden Metal-Attacken, der …But Alive während ihrer acht Bandjahre so unverkennbar machte.
Ähnlich wild fliegt „Aus und vorbei“ vorbei: Loriot-Zitat, Ska-Off-Beats, brutale Riffs und das nötige Pathos im Refrain – „Ein Hype, ein Star, ein Schuss – und dann C&A und Schluss“ – reichen Wiebusch für seine Abrechnung mit dem Generation X-Framing durch die Mehrheitsgesellschaft. Wie ein Chirurg zerlegt er den aufgedrückten Brand in der ersten Strophe: „Zuerst war alles nur ein Buch / Und jeder wusste, wer wir sind / Nur wir leider nicht…“ Das erwähnte „Buch“? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wohl „Generation X“ von Douglas Coupland, welches den sogenannten „Baby-Boomern“ zwar ein einprägsames Label aufdrückte, dafür jedoch recht wenig Lebenshinweise mit auf den Weg gab. Wiebusch steht damit im Geiste der Boxhamsters, die sich vier Jahre zuvor auf „Zu klein“ ebenfalls gegen die Ausweglosigkeit wehren: „Wir hatten nie ‚No Future‘ und glaubten an die Zeit...“
Überhaupt hadert der Kopf von …But Alive in jenen jungen Jahren – im Gegensatz zur späteren Weinprobe im gediegenen Eigenheim – weniger mit sich, sondern nimmt es mit der Szene, der Gesellschaft, mit alten Freunden wie neuen Feinden zeitgleich auf. Stets mit Schaum vorm Mund, und immer in der Überzeugung, zu wissen, was los ist. Auf dem 1993er Debüt „Für uns nicht“ schlägt er lyrisch noch ungestüm – und deutlich wilder – um sich. Der obligatorische Anti-Nazi-Song „Nur Idioten brauchen Führer“ sorgt im Kampf der Neunziger gegen die rechten Glatzen für Zusammenhalt bei bedrohten Konzerten, „Für immer 16“ interpretiert Peter Maffays „Ich möchte nie erwachsen sein“ und Alphavilles „Forever Young“ auf Punkig-Hanseatisch, in „Ohnmacht“ sprengt er 1991 als Terrorist Bayer und Hoechst in die Luft.
Schaut man sich heute, etwa drei Dekaden später, den Text von „Ohnmacht“ noch einmal genauer an, wandert man schnell in Gedanken über die Brücke ins Camp der Letzten Generation und fragt sich, warum die Generationskolleg*innen der „Generation X“ seinerzeit nicht mehr getan haben: „Oh, seht uns an, wir stehen vor den Trümmern dieser Zivilisation / Ein paar clevere Affen erfanden das Rad / Hier kommt die letzte Generation / Die noch ein bisschen menschenwürdig leben kann / Die Gräber stehen bereit„, und später: „Erzählt mir nichts von Recht und Ordnung / Wenn irgendeiner hier Amok läuft / Wenn morgen Regionen zu Wüsten werden und halb Indien ersäuft.“ Die Weitsicht, die Aktualität dieser Zeilen ist erstaunlich, sollte jedoch vor allem zu denken geben.
Andererseits sieht Wiebusch jedoch selbst die Machtlosigkeit solcher, stets vor allem von Parolen getriebener Musik und distanziert sich bereits zu …But Alive-Zeiten von jener naiv-zornigen Anfangsphase: „Ich habe Musik mit 16, 17, 18 tatsächlich als Waffe gesehen (…) Wenn ich singe: ‚Ohnmacht, ich spreng‘ euch alle weg!‘, dann ist das meine Meinung, und ich will, dass das alle anderen auch so sehen (…) Einen Song wie ‚Ohnmacht‘ wird es von mir nie wieder geben.“ Ebenso kontrovers dürfte Wiebusch rückblickend den Song „Ich möchte Ilona Christen die Brille von der Nase schlagen„, der 1997 zunächst auf der Split-7″ mit der kanadischen Hardcore-Band I Spy und später auf dem dritten Album „Bis jetzt ging alles gut…“ erschien, sehen, schließlich wird dort TV-Moderatorin Margarethe Schreinemakers in einer Textzeile als „Quotenhure“ bezeichnet. Das brachte der Band bereits damals – lange vor Internet-Shitstorms, #MeToo und Co. – den Vorwurf des Sexismus ein – die Kritik mag, Punkszene hin oder her – berechtigt gewesen sein, der Vorwurf könnte bei einem wie Wiebusch, der sich später bei jeder sich bietenden Gelegenheit für Homosexuelle, für Flüchtlinge oder Frauen- wie Tierrechte stark machte, jedoch falscher kaum sein.
Musikalisch jedoch überzeugen die 1991 gegründeten Hamburger von …But Alive von Anfang an und fanden schnell eine komplett eigene Szenennische zwischen Hafenstraße und Hamburger Schule. Hardcore Punk, Rap, Ska, Metal und Indie Rock …forming like Voltron. Hagen van de Viven zelebriert an der Leadgitarre, Marcus Wiebusch sorgt als Nachwuchs-James Hetfield an der zweiten Klampfe für eine Punk-untypische, mächtige Soundwand. Schlagzeuger Frank Tirado-Rosales (der Wiebusch später zu Kettcar folgen und selbigen bis 2010 treu bleiben wird) baut immer wieder Breaks und Grooves ein, die den biertrunkenen Kopf zwischen Headbangen, Nicken und Schütteln ganz wuschig werden lassen. Nur am Bass wechseln sich, ebenfalls verdammt Metallica-like, die Bandkollegen häufig ab. Es gibt und gab keine andere Punk-Rock-Band, die so klang wie …But Alive, und kein zweites deutschsprachiges Album fasst das Leben der Neunziger wohlmöglich so prägnant und nachhaltig in Worte wie „Nicht zynisch werden?!“ Steile Thesen? Genau. Aber, vor allem was letzteren Punkt betrifft, eine begründete, denn in den 15 Songs (zählt man den feinen Akustikgitarren-Hidden Track „Betroffen aufessen“ mit) kanalisiert Marcus Wiebusch seinen angestaunten Hunger, der Welt zu erzählen, was zur Hölle los ist, ohne ihr jedoch von oben herab zu predigen, was sie tun soll. Und: Er findet hier erstmals wirklich zu seinem noch später bei Kettcar so unnachahmlichen Stil aus Punchlines und Poesie, aus Parole und Meta-Ebene. In den Zwei-bis-drei-Minuten-Punk-Tiraden verdichtet er seine Gedanken so stark, dass ihm meist nur eine Zeile genügt, um eine ganze Generation – dieses Mal würdig – zu beschreiben.
„Wer gebraucht wird, ist nicht frei / Wer braucht, wird niemals frei sein“ und „Ganz egal, welchen Weg wir wählen / Nur die Momente sind es, die zählen.“ Für die Außenwirkung mag da ein baumlanger angepisster Punk am Mikro stehen, im Herzen jedoch sitzt hier ein Rapper, so sehr und hervorragend wie etwa bei „Weißt nur was du nicht willst“ kluge Punchlines mit diversen Schichten und Ebenen mit den melodischen Leads und dicken Midtempo-Grooves harmonieren. Weitere Beispiele gefällig? „Und zwischen den Verträgen / Sucht jeder das Leben“ („Überall„) oder „Nichts ist brutaler als Moral / Die nur sich selbst genügt“ („Lasst es ihre Entscheidung sein„). Wiebusch verkopft hier (noch) nicht, textet nicht zur reinen Selbstgefälligkeit, sondern bleibt mit beiden Füßen auf der dreckigen Straße.
Für die Kleinkinder der Achtziger, die nur allzu gern und aus lauter Trägheit vom Gartenzaun aus die Welt verändern wollen, sind Bands wie …But Alive Mitte der Neunziger die Stimme der Vernunft und Menschlichkeit. Eine Stimme, der im AJZ alle folgen konnten, die den ganzen rechtskonservativen, heute verdammt AfD-nahen CDU-Dreck der Neunziger genauso ablehnten wie den dogmatischen DDR-Schwachsinn der KPD-Deppen und die abgrenzenden Political Correctness-Pamphlete der Autonomen. Denn „nichts ist schwarz-weiß“ und wenn du vergisst, wo du herkommst, wirst du dich selbst verlieren. Wiebusch wusste das und setzt seine Kraft auf die Liebe: „Es kommt nur auf dich und mich an / Und dann ist der Rest der Welt dran“ („1 + 1= 3„) und ganz besonders im wohl schönsten Refrain des Albums: „Mich interessiert nicht, was du weißt / Sondern nur, woran du glaubst / Mich interessiert nicht, was du hast / Sondern nur, was du brauchst“ („Keine Gegensätze„).
„Nicht zynisch werden?!“ mag zwar kein allumfassender Meilenstein sein, ist jedoch mit seiner Kompaktheit und dem zwischen den Rumpel-Rhythmen sorgsam versteckten Pop-Appeal eines der lyrisch größten deutschsprachigen Alben der Neunziger, stetig vibrierend zwischen dem naiven Hunger der Jugend und der wachsenden Selbsterkenntnis eines Dichters und Denkers. In jenen Zeiten profitieren neben …But Alive auch die Ska-Kollegen von Rantanplan und Slime für ihr Opus Magnum „Schweineherbst“ von Wiebuschs Einfluss.
Dennoch ist die Weiterentwicklung – oder besser: das Erwachsenwerden – freilich weder lyrisch noch musikalisch aufzuhalten. Bereits beim dritten, zwei Jahre darauf erscheinenden …But Alive-Album „Bis jetzt ging alles gut…“ schleichen sich Indie-Rock-Anleihen zwischen Wiebuschs immer kryptischere und verschnörkeltere Zeilen und bilden beim vierten und finalen 1999er Werk „Hallo Endophin“ bereits des Rudels Kern. Ein Jahrtausend endet, und mit ihm auch …But Alive und deren Traum vom Kampf für Punk-Rock-Ideale. Der Weg für Kettcar, der Weg in die Linksliberalität, die Altbauwohnung und ins vermeintliche Glück war frei. Dass Marcus Wiebusch für die Veröffentlichung des Kettcar-Debüts „Du und wieviel von deinen Freunden„, welches damals keinen Vertrieb fand, gemeinsam mit Kettcar-Bassist Reimer Bustorff und dem damaligen Tomte-Frontmann Thees Uhlmann mit Grand Hotel Van Cleef ein eigenes Label aus der Taufe hebt, das auch heute, dreißig Jahre später, noch bestens floriert? Ist eine andere Geschichte (die jedoch vor allem beweist, dass man den Punker im Herzen nie so ganz gehen lassen sollte)…
„Wenn es noch so bitter ist: Was bleibt, ist die Erkenntnis / Im Falschen nichts richtig, ob im Nehmen oder Geben / Dass wir alle nur eine Lüge leben / Und es muss mehr als das hier geben…“ („Natalie„)
„Maybe this is just another good thing that happens to everybody but me / maybe this is just another good thing / out of my reach“, singt Chris Farren in „Another Good Thing“ nach ungefähr zwei Dritteln dieses Albums. Das Lied entfaltet eine großartige Loser-Romantik und ist bei weitem nicht der einzige Moment auf „Love In The Time Of E-Mail“, in dem man an gut und gern an frühe(re) Weezer-Großtaten denken darf. Zugleich wundert man sich: Dass die guten Sachen immer nur den anderen passieren, sollte sich für Chris Farren mittlerweile eigentlich als Trugschluss herausgestellt haben. Denn zuletzt ist es für ihn als eine Hälfte von Antarctigo Vespucci durchaus gut gelaufen.
Es hätte auch anders kommen können: Nach drei durchaus mit Wohlwollen und Applaus bedachten Alben voll kleiner, feiner Hymnen irgendwo zwischen Indie, Punk und Emo Rock löste sich 2013 seine Band Fake Problems auf. Aus Florida zog der Frontmann ohne Band nach New York, und bald darauf erwies sich dort die Begegnung bei einer Party als wichtige Weichenstellung für die nächsten Jahre: Chris Farren traf Jeff Rosenstock wieder, seinerseits Frontmann von Bomb The Music Industry!. Mit dieser Band hatten Fake Problems mal eine Tour bestritten, auch danach gab es gelegentlich gemeinsame Konzerte. Nun beschlossen die beiden, gemeinsam ein paar Songs zu schreiben. Als klar wurde, wie gut genau diese Party-Schnapsidee funktionierte, wurde aus der „Come on, let’s jam!“-Idee eine Band namens Antarctigo Vespucci. Nach den EPs „Soulmate Stuff“ und „I’m So So Tethered“ sowie dem Debütalbum „Leavin‘ La Vida Loca“ (und parallelen Solokarrieren, denn auch die Band von Jeff Rosenstock existierte schon kurz darauf nicht mehr) folgte 2018 der zweite Langspieler „Love In The Time Of E-Mail„.
Wie gut das Duo aus Brooklyn, New York den jahrelang erprobten Spagat zwischen Punk, New Wave und Indie Rock auf der einen Seite sowie fies eingängigem Powerpop mit gehörigem Bubblegum-Anteil auf der anderen Seite beherrscht, macht „Love In The Time Of E-Mail“ recht schnell und unmittelbar klar, zugleich kann man in den dreizehn Stücken jedoch auch ein paar neue Elemente im Sound von Antarctigo Vespucci entdecken. Der Normalzustand für die Erzählposition ist, wie schon im eingangs erwähnten „Another Good Thing“, fast immer ein schwärmerisches, unglückliches Verliebtsein, in das sich Farren und Rosenstock voll und ganz hineinwerfen möchten.
„I hope I can be important in your life one day“, heißt es dann im untröstlichen Quasi-Intro „Voicemail“. „I wish I didn’t fall in love with everyone I ever met“, singt Farren im eher akustischen „Do It Over“. Das für die meisten Menschen eher unangenehme „White Noise“ wird hier herbeigewünscht, weil es die stetige Präsenz (s)einer Angebeteten ersetzen könnte, die Farren zurhöllenocheins nicht aus dem Kopf bekommt. Im herzzerreißenden Album-Schlusspunkt „E-Mail“ zeigt sich, dass seine bereitwillig zur Schau gestellte Schüchternheit nicht nur ein Wesenszug ist, sondern offensichtlich auch die Reaktion auf viele schmerzhafte Erfahrungen. „I wanted to see you, to see if I still wanted to see you“, zitiert er in „Breathless On DVD“ einen Satz von Jean-Paul Belmondo aus „Atemlos“, zu einem Refrain, welcher auf fast infantile Weise Heiterkeit verbreitet – der olle Emo-Punk lässt lieb grüßen.
Auch „Kimmy“ gerät mit Glockenspiel und Handclaps fast poppe-di-punk-übermütig im Stile der seligen Wheatus, „The Price Is Right Theme Song“ explodiert ebenfalls beinahe vor ohrwurmiger Eingängigkeit. Dem stehen etwas rohere Passagen wie das kaum weniger überzeugende „All These Nights“ gegenüber oder „Lifelike“, das vom Klavier getragen wird und beinahe echte Schwermut aufkommen lässt. Auch „Not Yours“ ist weit von der zeitweise Albernheit früherer Fake Problems-Tage entfernt: Es geht um Abhängigkeiten, Besitzansprüche und Machtkämpfe in Beziehungen – natürlich wird aber auch das nicht in gitarresken Trübsal verpackt, sondern in einen sehr kurzweiligen Boogie.
Als spontaner Anspieltipp eignet sich wohl am ehesten „Freakin‘ U Out“, weil es auf nahezu prototypische Weise Punk und Powerpop-Putzigkeit vereint – zwei Pole, die nun einmal den Markenkern von Antarctigo Vespucci ausmachen. „So Vivid!“ ist darauf der Song, der am besten zeigt, wie die Verbindung aus Niederlagen, Sorgen und Selbstzweifeln mit mitreißenden Melodien und einer manchmal theatralischen Pop-Ästhetik gelingt: Was man für beides braucht, ist ein Hang zu von hinter aufzäumender Romantik.
Was anno 2015 mit Antarctigo Vespucci aus einer Party-und-Stillstand-Laune der beiden Indie-Punk-Musiker Chris Farren und Jeff Rosenstock heraus entstand, nimmt mit „Love In The Time Of E-Mail“ durchaus ernstzunehmende, konzeptionelle Züge an, in denen sich neben der spannenden, stets aktuellen Thematik des Albums (Gibt es die „wahre Liebe“ im Zeitalter von E-Mails, Twitter, Instagram, SMS, Facebook etc. pp. noch?) auch die Musik als ebenso spannend und abwechslungsreich – und selbstverständlich ordentlich punkig – erweist.
2020 wäre wohlmöglich sein Jahr geworden: Rio Reiser hätte im Januar seinen 70. Geburtstag gefeiert und Ton Steine Scherben ihr 50. Jubiläum. Man hätte ihn – freilich stets social-distancing-konform – hofiert, gewürdigt und sich vom „Junimond“ bis rauf ins nordfriesische Fresenhagen tief vor dem „König von Deutschland“ verneigt. Und dabei wäre sicherlich noch einmal klar geworden, wie stark und nachhaltig gerade er den linken, nimmermüde protestierenden Rock’n’Roll in Deutschland geprägt hat…
Doch Ralph Christian „Rio Reiser“ Möbius starb 1996 imi Alter von 46 Jahren. Und mit ihm ging etwas verloren, das sich in keiner anderen Musikerpersönlichkeit hierzulande – da kann sich Selig-Frontmann Jan Plewka mit seinem ehrführchtig-launigen Rio-Tribut-Programm noch so große Mühe geben – seither so intensiv gezeigt hat: Reiser war Romantiker und Kämpfer, Aufklärer und Utopist, Hippie und Punker, strahlendes Rebellenidol und verhasste linke Pop-Zecke. Streitbar? Ja! Polarisierend? Klar! Charismatisch? Jawollo! Gemeinsam mit seinen Agitrock-Jungs von den „Scherben“ konnte er aus Worten Waffen formen und aus Emotionen Tatsachen. Wohl auch deshalb ist die Strahlkraft des deutschen Pendants zu einem wie John Lennon bis heute ungebrochen. Das zeigt auch die nun erschienene Compilation „Wir müssen hier raus – Eine Hommage an Ton Steine Scherben & Rio Reiser“, auf der unter anderem Die Sterne, Bosse, Jan Delay, Fettes Brot, Fehlfarben, Die Höchste Eisenbahn, Wir sind Helden, Beatsteaks, Slime oder Gisbert zu Knyphausen vertreten sind. Die Beiträge sind nicht alle neu, sondern stammen teilweise aus bekannten Veröffentlichungen. Jan Delays „Für immer und dich“ zum Beispiel ist bereits seit „Mercedes Dance“-Tagen bekannt, und auch die Helden-Version des Scherben-Gassenhauers „Halt dich an deiner Liebe fest“ hat bereits stolze 15 Lenze auf dem musikalischen Buckel.
Wie bei einer Beitragscouleur von Künstler*innen und Bands aus Genres wie Indie, Punk, Singer/Songwriter oder Pop nicht anders zu erwarten, fallen die hier versammelten Interpretation von Scherben- und Rio-Songs denn auch recht unterschiedlich aus. Die Sterne etwa widmen sich „Wenn die Nacht am tiefsten“ und geben ihm trotz aller Bissigkeit eine Portion verquerem Pop-Appeal, welche dem Stück durchaus gut zu Gesicht steht. Positiv heraus stechen auch „Jenseits von Eden“ der Hamburger Newcomer Erregung Öffentlicher Erregung, deren Synth-Rock-Version den Druck und die Freshness des Originals ins Hier und Heute überträgt, sowie die Schrottgrenze-Variante von „Menschenfresser„, schließlich sind auch heute Themen wie Ungerechtigkeit, Krieg, Unterdrückung, Frustration oder Hass aktuell wie anno 1986 (eventuell – leider – sogar aktueller). Gelungen sind auch Neufundlands „Halt dich an deiner Liebe fest“ (ja, der Song ist gleich zwei Mal vertreten, im Jahr 2016 veröffentlichte die Kölner Band diesen bereits inklusive eines Gebärdenvideos), das druckvolle „S.N.A.F.T.“ der Beatsteaks sowie Slimes ungemein energetisch hingerotzter Punk-Brocken „Ich will nicht werden“. Wenig verwunderlich auch, dass Gisbert zu Knyphausen und Band ihre Sache mit dem exklusiv aufgenommenen „Straße“ ebenfalls routiniert auf hohem Niveau erledigen. Natürlich kommt auch er, seit gefühlten Ewigkeiten selbst einer der zweifellos besten deutschen Liedermacher, mit seiner gleichsam rotzigen wie nachdenklichen Imitation keineswegs an den „großen Rio“ heran, aber auch bei ihm hört man die Lust an der Imitation. Und ganz nebenbei dürfte Lina Malys mit Akustikgitarre und Kontrabass eingespielte Darbietung von „Zauberland“ für nicht wenige der heimliche kleine Star dieser Platte sein…
Bei sage und schreibe 19 Beiträgen, die von dem titelgebenden Scherben-Original sowie einem Rio-Piano-Song eingerahmt werden, überzeugt natürlich nicht alles auf ähnlich hohem Niveau. Axel „Aki“ Bosses Version von „Warum geht es mir so dreckig?“ etwa streckt sich zwar redlich gen Rock, mag in Gänze jedoch irgendwie nicht zünden. Auch „Schritt für Schritt ins Paradies“ von Die Höchste Eisenbahn ist im neuen Indiepop-Arrangement recht geschmeidig, verfehlt aber die Absicht des Originals. Doch um Wettbewerb geht es hier ja nicht. Es geht um die Würdigung eines Helden, dessen Musik bis heute zwar etwas Revoluzzer-Patina angesetzt haben mag (kein Wunder, immerhin ist etwa der Album-Meilenstein „Keine Macht für Niemand“ bereits amtliche 48 Jahre jung!), jedoch kein bißchen gealtert ist, dessen Relevanz in Ton wie Wort eher zu- denn abnimmt. Recht passend also, Rio Reiser selbst das Tribut-Album mit einer gänsehäutenen Piano-Version von „Der Krieg“ beschließen zu lassen. Was sollte danach auch noch kommen?