Schlagwort-Archive: Positive Songs For Negative People

Song des Tages: Frank Turner – „Eye Of The Day“ (live at Earth Hackney, London)


4d10ddf0c602dba4964ca0493d90c867

Ich zitiere mich mal eben selbst:

Frank Turner – jedem Freund bierseligen Pub-Punksrocks mit akustischer Schlagseite (und nicht nur denen!) dürfte längst klar sein, wofür der mittlerweile 33-jährige Musiker seit Jahr und Tag steht: Authentizität, Bodenständigkeit, Herzlichkeit, britische Working-Class-Consciousness – und, ja, neben all diesen für Lau verschleuderten Schimpfwörtern (das Augenzwinkern denkt ihr euch bitte) auch ein wenig sympathische Naivität. Denn wie sonst kann man es sich erklären, dass ein Mensch diesseits der Vierzig all seine Energie in ein Leben von, mit und für die Musik steckt?“

Diese Zeilen – verfasst vor ziemlich genau vier Jahren anlässlich Turners sechstem Langspieler „Positive Songs For Negative People“ – mögen zwar bereits einige Monde zurück liegen, großartig anders könnte ich es allerdings auch heute nicht formulieren. Jedoch muss auch ich zugeben: Leicht hatte es einem „Be More Kind„, der „Positive Songs“-Nachfolger aus dem vergangenen Jahr, tatsächlich nicht gemacht. Zwar waren die heheren Absichten des mittlerweile 37-jährigen nimmermüden Kreativlings, der in letzter Zeit – nebst Platten, Tourneen sowie einer Quasi-Autobiografie auch die Familiengründung anging, angesichts der zusehends verrohenden, hasserfüllten politischen Debatte für mehr Respekt in der Kommunikation, für Menschlichkeit und Miteinander zu werben, aller Ehren wert – das Ergebnis, bei dem der englische Musiker ein ums andere Mal ungewohnt direkt mit dem Pop flirtete, wusste jedoch meist weniger zu überzeugen, sodass sich vor allem langjährige Fans des „Pub-Punk-Darlings“ die berechtigte Frage stellten: Quo vadis, Frank Turner?

nomansland.jpgNun, eine mögliche Antwort lässt sich in und zwischen den Zeilen des neuen, achten Albums „No Man’s Land“ finden – und doch auch wieder nicht. Denn Frank Turners frisch(st)e Stücke tanzen – wenn schon nicht vom Ton her, dann wenigstens aufgrund ihres Hintergrundes – ein klein wenig aus der Reihe. Warum? Weil „Englands sympathischste Antwortmöglichkeit auf Dave Grohl“ einmal nicht Wort gehalten hat und 2019 tatsächlich ein Konzeptwerk in die Plattenregale stellt…

Auf „No Man’s Land“ erzählt Turner, seines Zeichens bekennender Geschichts-Nerd, der  einen Bachelor in Europäischer Geschichte sein Eigen nennt, sowie (zwangsläufig) einer der Vertreter des vermeintlich „starken Geschlechts“ inmitten einer – zumindest in den wichtigsten Positionen – noch immer von Männern dominierten Musikszene und der (ebenfalls) von Männern dominierten Weltgeschichte mal ergreifende, mal skurrile, mal tragische, jedoch durchweg erstaunliche Geschichten über größtenteils weniger bekannte, jedoch umso faszinierendere Frauen. Dreizehn Stücke, dreizehn Damen – und die entstammen höchst unterschiedlichen sozialen, geografischen und historischen Kontexten.

Da wäre etwa die byzantinische Prinzessin Kassiani („The Hymn Of Kassiani“). Die aus Ägypten stammende feministische Aktivistin Hudā Schaʿrāwī, welche als erste Frau ihres Landes den Schleier ablegte („The Lioness“) Die Imperiumserbin Nica Rothschild, die in der Free-French-Bewegung während des Zweiten Weltkriegs kämpfte und in den 1950ern und 60ern als geradezu besessene Jazz-Mäzenin galt („Nica“). Dora Hand, Mitte des 20. Jahrhunderts eine singende Vaudeville-Sensation in den Bars der Wild-West-Stadt Dodge City. Sie war nicht nur eine außergewöhnliche Sängerin, sie war ebenso berühmt für ihre Großzügigkeit – bis eines Tages ein rüpelhafter Kleinstadt-Ganove den Bürgermeister der Stadt erschießen wollte, versehentlich aber Dora Hand traf und tötete („The Death Of Dora Hand„). Eine um 1900 in der Pariser Seine ertrunkene namenlose Jungfrau, deren heutzutage als „Resusci-Anne“ aus jedem Erste-Hilfe-Kurs bestens bekanntes Gesicht später als Modell für medizinische Reanimationsübungspuppen auf der ganzen Welt genutzt wurde („Rescue Annie“). Sister Rosetta Tharpe, eine 1915 geborene US-Amerikanerin, die auch als „Godmother Of Rock’n’Roll“ bekannt ist und als eine der ersten E-Gitarristinnen der Welt schon sehr früh großzügig Gebrauch von Verzerrer-Effekten machte – ihre 1944er Aufnahme des Spirituals „Strange Things Happening Every Day“ gilt als wichtiger Wegbereiter für die Rockmusik und beeinflusste eine ganze Heerschar heutiger Legenden von Elvis Presley bis Johnny Cash („Sister Rosetta„). Nannie Doss, eine Serienmörderin aus den tiefen Südstaaten der USA, die ihre Opfer über Kontaktanzeigen in der Zeitung suchte („A Perfect Wife“). Die sagenumwobene exotische Tänzerin Mata Hari, die im Ersten Weltkrieg als Spionin für den deutschen Geheimdienst aktiv war und 1917 wegen Doppelspionage und Hochverrats in Vincennes bei Paris hingerichtet wurde („Eye Of The Day„). Catherine Blake, eine Zeit ihres Lebens verkannte Ehefrau, die schlussendlich wohl die wahre Triebfeder hinter dem Erfolg des dichtenden Ehemanns war („Believed You, William Blake„). Die Wahrsagerin Jinny Bingham, welche einst in einem Verschlag auf dem Grund des heutigen Underworld-Clubs in Camden Town lebte und den Londoner Club angeblich immer noch heimsucht („Jinny Bingham’s Ghost„). Die Lehrerin Christa McAuliffe, welche 1986 an Bord des Space-Shuttles Challenger war, das kurz nach dem Start in Cape Canaveral, Florida zerbrach („Silent Key“). Und zum Schluss wird Frank Turner noch einmal persönlich, als er mit „Rosemary Jane“ einen Song der eigenen Mutter sowie deren Mut widmet, sich gegen den emotionalen Missbrauch durch ihren Mann und Turners Vater zu wehren.

Was ’ne Liste, oder? Wobei: So ganz neu ist das Thema der „unbekannten Frauen mit spannenden Geschichten“ im Werk des emsigen Musikers, der 1981 in Bahrain geboren wurde, nicht, denn immerhin erschien etwa „Silent Key“ – wenn auch als alternative Version – bereits 2015 auf seinem Album „Positive Songs For Negative People“. Und auch Frank Turners Hang dazu, sich für soziale Belange einzusetzen und gegen Ungerechtigkeiten jedweder Art stark zu machen, dürfe Fans hinlänglich bekannt sein. Trotzdem wagt der britische Barde auf „No Man’s Land“ konsequent Neues, denn schließlich wirkten – bis auf ihn – sonst nur Frauen an dem Werk mit: Produzentin Catherine Marks (Manchester Orchestra, Foals, The Killers, The Wombats) an den Reglern, eine ausschließlich aus Damen bestehende Backing Band an den Instrumenten. Zusätzlich bringt der Turner-Frank auch noch einen eigenen Podcast an den Start, bei welcher er sich vertiefest und ausführlichst zu jedem der Songs äußert. Herausgekommen ist – im Windschatten von #metoo, „Mansplaining“ und all den Gender-Diskussionen – eine geballte Faust in Richtung Feminismus. Dass diese ausgerechnet von Sympath Frank Turner kommt, der mit dem stilistisch an das tolle „Postcards From Ursa Minor“ seines Buddies Will Varley erinnernden „No Man’s Land“ eine zumeist auf mit Akustikgitarre vorgetragenem Folk sowie mit Streicher-Arrangements und Jazz-Elementen angereicherte Rückbesinnung an ältere Großtaten wagt (einzig beim tollen „The Lioness“ darf hymnisch gerockt werden) und das gelungenste Album seit – mindestens – „Tape Deck Heart“ abliefert, ist umso erfreulicher. So machen Geschichtsstunden Spaß.

 

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Der Jahresrückblick 2015 – Teil 3


Ein zwar nicht durch und durch hochkarätiges, jedoch ebenso wenig an tollen Veröffentlichungen armes Musikjahr 2015 neigt sich unausweichlich seinem Ende zu. Zeit also, ANEWFRIENDs “Alben des Jahres” zu küren und damit, nach der Rückschau aufs Film- und Serienjahr, auch die Königsdisziplin ad acta zu legen! Dem regelmäßigen Leser dieses Blogs werden sich wohl wenige Überraschungen offenbaren, schließlich wurde ein guter Teil der Alben meiner persönlichen Top 15 im Laufe des Jahres – insofern es die Zeit zuließ – bereits besprochen. Bleibt nur zu hoffen, dass auch 2016 ein ähnlich gutes Niveau an neuen Platten und Neuentdeckungen bieten wird… Ich freue mich schon jetzt drauf.

 

 

adam angst1.  Adam Angst – Adam Angst

Wenn ich ehrlich bin, dann war die Pole Position meiner Lieblingsalben dieses Jahres bereits im Februar vergeben. Und dass an ein Album, dessen Protagonist ein „arroganter Drecksack“ (Pressetext) ist, der dem Hörer elf Kapitel lang seine eigenen Verfehlungen, seine Makel und Achillesfersen vor Augen und Ohren führt. Muss man sich ein derart gerüttelt Maß an Antipathie wirklich anhören? Man muss! Vor allem wenn sie von Felix Schönfuss und seiner neuen Band Adam Angst stammt. Denn den großmäuligen Versprechungen, die da bereits im Vorfeld um das neuste musikalische Baby des Ex-Frau-Potz- und Escapado-Frontmanns gemacht wurden, liefern Schönfuss und Co. Songs nach, die einen schlichtweg umhauen – sei es durch zackigen, verquer melodieverliebten Rock, der weder den Punk von Frau Potz noch den Hardcore von Escapado noch in sich trägt, oder – vor allem – durch die durch und durch brillanten Texte. Denn in denen bekommen wirklich alle ihr Fett weg – die Schweinepriester und Heiden („Jesus Christus“), die mehr oder minder latenten Rassisten („Professoren“), das tumbe Wochenend-Partyvolk („Wochenende. Saufen. Geil.“), die digital süchtigen Klickzahlenjunkies („Wunderbar“), die sinnentleerten Workaholics („Flieh von hier“), die dysfunktional-zerstrittenen Pärchen („Ja, ja, ich weiß“)… Da muss man schon sehr weit ab von allem sein, um sich an der ein oder anderen Stelle nicht selbst ertappt zu fühlen. „Adam Angst“ mag vielleicht kein Album für die nächsten zehn Jahre sein, mehr Aktualität, Zeitgeist und tolle Songs hatte 2015 jedoch kein anderes an Bord. Obendrein liefern Schönfuss und Band mit „Splitter von Granaten“ noch den definitiv wichtigsten Song des Jahres…

 

 

Benjamin Clementine2.  Benjamin Clementine – At Least For Now

Benjamin Clementines Geschichte liest sich fast wie eine moderne, musikalische Cinderella-Story: Mittelloser Junge aus *hust* „schwierigen Umständen“, der sich bereits seit Kindestagen – und das nicht nur seiner Hautfarbe wegen – als beflissener, belesener Außenseiter fühlt, flieht erst – von verheißungsvollen Versprechungen und vom Fernweh getrieben – aus dem Zig-Millionen-Einwohner-Molloch der englischen Hauptstadt und nach Paris, von dem er einst so viel las, sich so viel versprach. Dort führt er ein Vagabunden-, ein Herumtreiberdasein, schläft unter Brücken und dem freien Himmel, spielt seine Lieder in Metrostationen und wird dann und dort – endlich – von einem findigen Musikmanager erhört, der ihn alsgleich mit einem Plattenvertrag ausstattet. Und so klingen auch die pianolastigen Stücke auf dem vollkommen zu recht mit dem renommierten Mercury Prize ausgezeichneten Debütalbum „At Least For Now“: aus der Zeit gefallen, ebenso modern wie von gestern, schwelgerisch, energisch, klagend, zentnerschwer ausufernd und melancholisch in sich gekehrt. Dazu vorgetragen von einer Stimme, die zu den besondersten seit Antony Hegarty, vielleicht sogar seit Jeff Buckley und Nina Simone (welch‘ Dimensionen!) zählen darf. Man kann, man will dieses Werk gar nicht beschreiben – man sollte es hören! Meine Entdeckung des Jahres.

 

 

love a3.  Love A – Jagd und Hund

Wie schrieb ich doch in meiner Rezension zur Jahresmitte? „Eines steht fest: Frontmann Jörkk Mechenbier und seine drei Bandkumpane von Love A sind angepisst. Aus Gründen.“ Das hat sich freilich auch im Dezember noch nicht geändert, die zwölf runtergekühlten Post-Punk-Stücke des dritten Love-A-Albums haben allerdings nichts von ihrer überhitzt angewiderten Aura verloren. Wer „Adam Angst“ 2015 etwa abgewinnen konnte, der sollte auf „Jagd und Hund“ gern mal ein Ohr riskieren, schlagen die polternden Trierer Punker doch in eine ganz ähnliche Kerbe – vor allem textlich. Die Überdrehtheit der Vorgänger mag „Jagd und Hund“ nicht mit an Bord haben, doch die poppigen Ansätze und neue Introvertiertheit (beides natürlich sehr relativ zu sehen!) stehen Love A ganz ausgezeichnet.

 

 

pusicfer4.  Puscifer – Money Shot

Für Tool-Fans dürfte 2015 eigentlich als ein (weiteres) enttäuschendes Jahr in die Musikgeschichte eingehen, wurde man doch erneut wieder und wieder vertröstet in seinem Warten auf das erste neue Album seit dem 2006er Werk „10,000 Days“ (was umgerechnet gut 27 Jahren entspräche und somit der gefühlten Wartezeit näher und näher kommt). Auch für Freunde von A Perfect Circle sieht es da eigentlich kaum besser aus – trotz der Tatsache, dass vor etwa zwei Jahren mit „Stone And Echo“ ein üppiges Live-Dokument erschien. Eigentlich. Wäre da nicht das dritte, im Oktober erschiene Puscifer-Album „Money Shot“. Denn das Projekt, welches Tool- und A-Perfect-Circle-Stimme und -Fronter Maynard James Keenan vor einigen Jahren zur Auslegung verquerer (elektronischer) Ideen ins Leben gerufen hatte, hat sich über die Jahre zur veritablen Band gemausert. Und hat 2015 erstmals auch albumfüllend großartige Songs auf Lager, die fast ausnahmslos mit den bisherigen Stammbands des passionierten Winzers mithalten können (mit mehr Schlagseite zu A Perfect Circle, freilich). Den Stücken kommt vor allem zugute, dass ihnen die britische Musikerin Carina Round, die erfreulicherweise Jahr für Jahr immer tiefer mit Puscifer verwächst, eine zweite, weibliche Ebene liefert. Für Freunde von Tool und A Perfect Circle ist „Money Shot“ also Segen und Fluch zugleich – zum einen tröstet das Album fulminant über die länger werdende Wartezeit auf neue Songs hinweg, zum anderen wird es für Maynard James Keenan – mit derart feinen Songs im Puscifer-Gepäck – jedoch kaum attraktiver, zu den anderen Bands zurück zu kehren…

 

 

tobias jesso jr.5.  Tobias Jesso Jr. – Goon

Ähnlich wie bei Benjamin Clementine dürfte man beim Lebenslauf von Tobias Jesso Jr. an eine modern-männlich-musikalische Aschenputtel-Variante gedacht haben, die es dem 30-jährigen Eins-Neunzig-Schlacks dieses Jahr sogar ermöglichte, eines seiner (unveröffentlichten) Stücke auf dem Alles-Abräumer-Album „25“ von – jawoll! – Adele zu platzieren (nämlich die Single „When We Were Young„). Dass die Grande Madame des Konsenspop beim Hören von Jesso Jr.s Debüt „Goon“ sein Talent für feine, kleine Popsongs aufgefallen sein dürfte, ist allerdings nur allzu verständlich, denn immerhin ist das Album voll davon. Oder wie ich bereits im März schrieb: „Wer es schafft, bereits das eigene Debüt nach John Lennon, Paul McCartney, Harry Nilsson, Randy Newman, Billy Joel, Elton John, Todd Rundgren, Nick Drake oder Ron Sexsmith klingen zu lassen (und das, obwohl Jesso Jr. laut eigener Aussage einen Großteil dieser Künstler erst während der Arbeit an seinem Album kennen lernte), während man sich darüber hinaus noch eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt, dem gebührt jeder einzelne Applaus“. Genauso sieht’s aus.

 

 

sufjan stevens6.  Sufjan Stevens – Carrie & Lowell

Dass Sufjan Stevens großartige, zu Herzen gehende Singer/Songwriter-Kunst abliefern kann, hat der 40-Jährige in den vergangenen 15 Jahren bereits hinlänglich bewiesen. Nur wollen wollte Stevens in den zehn Jahren, die seit „ILLINOIS“ ins Land gegangenen sind, immer weniger, veröffentlichte stattdessen Verqueres wie „The Age Of Adz“ oder gar Soundtracks über Schnellstraßen-Dokus. Von daher ist die größte Überraschung, dass Sufjan Stevens tatsächlich noch einmal mit einem Werk wie „Carrie & Lowell“ ums Eck kommt. Und dass es ein derartiges Meisterwerk des bittersüßen Songwritings werden würde. Denn das wiederum hat ganz persönliche Gründe: Stevens setzt sich auf „Carrie & Lowell“ mit dem Tod seiner Mutter und seines Stiefvaters auseinander und schreibt herzzerreißende Songs über das Leben, das Sterben und alles, was danach kommen mag. Klingt nach Tränendrückern? Die gibt es zwar („Fourth Of July“), aber das Album als Ganzes stellt dabei keinen musikalischen Trauermarsch dar, vielmehr feiert Sufjan Stevens das Leben als Kreislauf – in ruhigen Tönen, wie es nur er es kann. Toll.

 

 

Ryan Adams7.  Ryan Adams – 1989

Ryan Adams covert Taylor Swift – im Studio, ein ganzes Album, und dann auch noch den Millionenseller „1989„. Was sich lesen mag wie ein – wahlweise – verfrühter oder verspäteter musikalischer Aprilscherz, war keiner. Denn der 41-Jährige mit dem ohnehin breit aufgestellten Musikgeschmack, der bereits in der Vergangenheit hinlänglich bewiesen hat, dass es im Zweifelsfall jedes Genre von Doom Metal bis HipHop (mehr oder weniger ernsthaft) für sich besetzen kann, beweist mit seinen Interpretationen von Radiohits von „Shake It Off“ bis „Bad Blood“ seine Fertigkeiten. Freilich klingen die dreizehn Stücke nun gänzlich nach Ryan Adams, doch auch er kann sich den feinen Melodien der Ausgangskompositionen nicht gänzlich entziehen. Warum auch? Im Plattenladen oder auf Spotify mögen die Fanlager von Swift und Adams ganze Universen trennen. Hier kommt zusammen, was noch vor Monaten unmöglich schien. Da war auf Twitter selbst die Ursprungsinterpretin der Schnappatmung nahe…

 

 

Florence and the Machine8.  Florence and the Machine – How Big, How Blue, How Beautiful

Gerade im Vergleich zum großartigen, fünf Jahre jungen Debüt „Lungs“ war „Ceremonials„, 2011 erschienen, eine kleine Enttäuschung, setzten sich darauf doch deutlich weniger Songs zwischen den Ohrmuscheln fest. „How Big, How Blue, How Beautiful“ nun ist wieder ein durchweg tolles Album, getrieben durch imposante Orchesterinszenierungen und erzählt von der variablen Stimme von Florence Welch. Ein spannendes Werk mit elf Geschichten, die durch ihre Musikvideos noch mitreißender werden und erneut so universelle Themen zwischen Liebe, Wut, Tod und Angst behandeln. Ein Album, das am besten als Ganzes funktioniert und ausgestattet mit einem dramatischen Sog, Songs mit Gefühlen zwischen bunter Leichtigkeit („Queen Of Peace“) und erdrückendem Drama – alle mit einer immensen Wucht, und sogar mit Saxofon! Kaum verwunderlich, aber umso erfreulicher, dass der Britin und ihrer Band damit ihre erste US-Nummer-eins gelungen ist. Florence and the Machine sind 2015 ganz oben, da wo sie hingehören.

 

 

frank turner9.  Frank Turner – Positive Songs For Negative People

Frank Turner ist einer von den Guten. Plattitüde? Logisch. Aber besser kann und will man’s gar nicht ausdrücken. Und wenn der britische Punkrocker by heart dann noch mit so guten Songs wie denen seines sechsten Solowerks „Positive Songs For Negative People“ aus dem Studio kommt, dann kann der kommende schweißnasse Festivalsommer kein ganz Schlechter werden. Und wer beim abschließenden „Song For Josh“ nicht mindestens einen Sturzbach Tränen verdrücken muss, der ist aus Stein. Oder hört Techno. Beides wäre schade um ein Paar Ohren…

 

 

noah gundersen10. Noah Gundersen – Carry The Ghost

Top 3 im Vorjahr, Top 10 in diesem – kein ganz schlechtes Ergebnis für einen 26-Jährigen, für den sich außerhalb der heimatlichen USA kaum ein Schwein (geschweige denn Hörer) zu interessieren scheint. Was schade ist, denn Noah Gundersens Songs sind nicht erst seit dem fulminanten 2014er Debüt „Ledges“ eine Wucht, die mich gar zu Vergleichen mit Damien Rice, Ryan Adams oder dem Dylan-Bob hinrissen. Und dem steht „Carry The Ghost“ (fast) in nichts nach. Freilich merkt man dem zweiten Werk des Musikers aus Seattle (!) an, dass das Leichte des Erstlings einer schweren Reife Platz machen musste, doch ist es gerade dieses Geschlossene, in welches man sich mit jedem Hördurchgang immer tiefer hinein gräbt, das „Carry The Ghost“ erneut so ergreifend macht. Freunde von Ryan Adams‘ „Love Is Hell“ sollten reinhören, wer tolle Songs für ruhige Momente sucht, natürlich auch.

 

 

…und auf den weiteren Plätzen:

Foxing – Dealer

Desaparecidos – Payola

Roger Waters – The Wall (LIVE)

Kante – In der Zuckerfabrik: Theatermusik

William Fitzsimmons – Pittsburgh

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Das Album der Woche


Frank Turner – Positive Songs For Negative People (2015)

positive-frank-erschienen bei Vertigo/Universal-

Frank Turner – jedem Freund bierseligen Pub-Punksrocks mit akustischer Schlagseite (und nicht nur denen!) dürfte längst klar sein, wofür der mittlerweile 33-jährige Musiker seit Jahr und Tag steht: Authentizität, Bodenständigkeit, Herzlichkeit, britische Working-Class-Consciousness – und, ja, neben all diesen für Lau verschleuderten Schimpfwörtern (das Augenzwinkern denkt ihr euch bitte) auch ein wenig sympathische Naivität. Denn wie sonst kann man es sich erklären, dass ein Mensch diesseits der Vierzig all seine Energie in ein Leben von, mit und für die Musik steckt?

Und Turner tut dies freilich nicht erst seit Gestern. Immerhin ist der Mann, 1981 in Bahrain zur Welt gekommen, im sehr indie-lastigen englischen Hardcore gewachsen – ob nun in ferner zurück liegender (Million Dead) oder jüngerer Vergangenheit (Möngöl Hörde). Trotzdem wird der Turner-Frank den meisten mehr als Solo-Künstler ein Begriff sein, sei es nun durch seine zwischen 2007 und 2013 auf den Markt geworfenen fünf Alben, oder vielmehr durch seine fast durchgängig überzeugenden Liveshows. Der Mann war in den letzten Jahren derart emsig am Aufnehmen oder Touren, dass man sich als Freund gitarrenlastiger Festivals beinahe wundern durfte, wenn der Mann mal nicht auf einem Dreitagesakt in der prallen Mittagssonne zu sehen war… Und da Turner das offenbar noch nicht genügte, ging er auch noch unter die Autoren und veröffentlichte in diesem März seine Quasi-Autobiografie „The Road Beneath My Feet“ (zu der er sich übrigens vor allem durch Henry Rollins‘ 1994 erschienene Black-Flag-Memoiren „Get In The Van“ inspirieren ließ). Ein nimmermüder Tausendsassa mit ordentlich Arbeitsethos unterm Hintern? Aber hallo!

FRANK TURNER 2015 PROMO IMAGE HANDOUT ...

Freilich mag sich Frank Turner längst einen Namen als hervorragender (Live)Musiker gemacht haben. Allerdings war der Weg dahin ein steiniger. So war der britische Songwriter seit seinem 19. Lebensjahr mehr oder minder pausenlos on the road irgendwo in kleinen bis mittelgroßen Kaschemmen zwischen London und Tokio, führte ein unstetes Nomadenleben, lebte sprichwörtlich von der Hand in den Mund und schlief nicht selten gar auf den Couches von Freunden und Bekannten. Seit dem 2007 veröffentlichten Solo-Debüt „Sleep Is For The Week“ (welch‘ programmatischer Titel!) war der Musiker auf Ochsentour zwischen Bühne, Studio und immer mehr Bühnen. Der lange Lohn: im Rahmen der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2012 in London durften er und seine Begleitband The Sleeping Souls vor mehr als 80.000 Zuschauern auftreten (ganz zu schweigen von den Millionen Fernsehzuschauern) und Songs wie den Gassenhauer „I Still Believe“ performen. Und: Mittlerweile kann sich der Mann im Londoner Stadtteil Holloway eine kleine aber feine zweigeschossige Eigentumswohnung leisten – selbst, wenn er da auch in Zukunft kaum sein sollte (Festivals, Studio, die Bühnen, die Ochsentouren – Sie verstehen).

Trotzdem ist in Turners Leben längst nicht alles eitel Sonnenschein. Gerade im Rückspiegel wirkt sein vor zwei Jahren erschienenes fünftes Album „Tape Deck Heart“ wie das musikalisch verarbeitete Scherbenauflesen einer zu Bruch gegangenen Beziehung – ein Breakup-Album von britischer Couleur (wer mag, darf beispielsweise gern in den noch immer tollen Song „Tell Tale Signs“ hinein horchen). Doch wer Frankies Werdegang verfolgt, der weiß, dass der Engländer ein durchaus positives Stehaufmännchen ist. Von daher war auch (und gerade) für das neue, sechste Werk eine direkte Antwort zu erwarten…

frank-turner-2015-promo-01-636-380

Trotzdem weist „Angel Islington“, die gut zweiminütige Eröffnung von „Positive Songs For Negative People„, ein wenig auf die falsche Fährte: zu sanftem Aktmusik-Gezupfe gibt Frank Turner noch einmal den Melancholischen, den Geschundenen und Geläuterten: „By the waters of the Thames / I resolve to start again / To wash my feet and cleanse my sins / To lose my cobwebs on the wind / To fix the parts of me I broke / To speak out loud the things I know / I haven’t been myself“. Schon „Get Better“, bei dem seine Begleiter der Sleeping Souls dazu stoßen, macht mit kaum mehr Laufzeit ungleich mehr Dampf unterm Kessel. Zu kraftvollem GitarreSchlagzeugBass schlägt Turner flugs neue Kapitel auf und wischt mir nichts, dir nichts allen Trübsal beiseite: „So try and get better and don’t ever accept less / Take a plain black marker and write this on your chest / Draw a line underneath all of this unhappiness / Come on now, let’s fix this mess / We could get better / Because we’re not dead yet“ – fast klar, dass solche Zeilen in Gangshouts münden müssen. Und ähnlich positiv und uptempo geht es weiter: „The Next Storm“ ist der reine musikalische Frühling (der dann in „The Opening Act Of Spring“ schon im Titel vor der Tür wartet), das toughe „Out Of Breath“, welches Punkrock mit Cabaret Rock kreuzt, trägt seinen Namen vollkommen zu recht („When you meet death / Be out of breath / And say you’re pleased to see him ‚cos you’re tired“), „Demons“ trägt nicht nur die ein oder andere weitere tolle Tattoo-Idee in sich („If life gives you demons, make demands“), sondern entleiht sich gleich mehrere Hooks bei den Foo Fighters und in „Love Forty Down“ macht Turner noch einmal klar, dass er gerade jetzt so viel zu gewinnen und so wenig zu verlieren hat: „I’m battered and I’m bruised / And I can’t afford to lose“. Die Highlights stechen jedoch auf diesem an Enttäuschungen armen Album (einzig „Josephine“ klingt mit seinen Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Zeilen und den E-Street-Gedächtnisriffs mehr nach B-Seiten-Material) trotzdem besonders hervor: „Glorious You“ feiert gut drei Minuten zu nahezu perfekten Melodien die Unvollkommenheit („Be glorious you, glorious you, glorios you / With your mixed-up metaphors, your messed-up makeup / Glorious you / With your tongue-tied tragedy, your too-small t-shirt / Glorious you“), „Mittens“ zeigt als großer Popsong dem Herzscherz den Mittelfinger, „Silent Key“, zu welchem die US-amerikanische Folksängerin Esmé Patterson ein paar Gesanglinien beisteuert, berichtet vom tragischen Unglück des Space Shuttles „Challenger“ im Jahr 1986, bei dem auch die im Song erwähnte gelernte Lehrerin Christa McAuliffe ums Leben kam. Und es darf wohl als programmatisch für „Positive Songs…“ stehen, dass Turner selbst dieser Tragik noch eine Sonnenseite abgewinnen kann: „I see this as a positive song, in the sense that it’s about appreciating the luck of even having lived, or been an astronaut…“. Nur einmal, beim letzten Stück „Song For Josh“, muss wohl jeder, der ein Herz und zwei Ohren hat, ganz tief schlucken. Frank Turner trägt diesen Tearjerker, der einem Freund, dem ehemaligen Clubmanager Josh Burdette, der sich im September 2013 das Leben nahm, allein zur Akustischen vor. Noch besser: das Stück wurde im Juni 2014 live im renommierten „9:30 Club“ in Washington D.C. mitgeschnitten – eben jenem Konzertvenue, dessen Manager besagter Josh noch wenige Monate zuvor war. „Why didn’t you call? / My phone’s always on / Why didn’t you call? / Before you got gone“ – jede Zeile ist Gänsehaut, danach kann, soll, darf nichts mehr kommen! Bewegender wird wohl in diesem Jahr kein Album zu Ende gebracht.

Auch wenn es komisch klingen mag, liefern Frank Turner und seine Sleeping Souls mit dem gemeinsam mit Produzent Butch Walker (u.a. Taylor Swift, Pete Yorn, Pink, Weezer) innerhalb weniger Wochen im US-amerikanischen Nashville aufgenommenen „Positive Songs For Negative People“ das gleichzeitig vielseitigste und geschlossenste Werk in der Diskographie des 33-jährigen Musikers ab, vereint es doch so ziemliche alle Beispiele und Namen, die sich derzeit auf mittelgroßen bis riesigen Konzertbühnen die Finger an Saiten und Tasten wund spielen können: Foo Fighters (zu hören an vielen Ecken und Enden, etwa „Demons“), Mumford & Sons (der Banjo-Anschlag bei „The Opening Act Of Spring“), Bruce Springsteen und seine E Street Band („Josephine“), die Dresden Dolls (die völlig atemlose Punk-Cabaret-Nummer „Out Of Breath“), Biffy Clyro (das chorale Finale von „Demons“), The Hold Steady etc. pp. Das Gute dabei ist, dass Frank Turner, der von Album zu Album mehr und mehr von der „Punkrock-Lagerfeuervarinate eines Billy Bragg“ zum „britischen Dave Grohl“ mutiert (im besten Sinne, natürlich!), dabei ganz sich selbst treu bleibt. Toll auch, dass der Deluxe Edition des 40 Minuten kurzen Albums zehn der zwölf Stücke (minus dem ersten und letzten Song) als Solo-Akustik-Versionen beiliegen (und hierbei vor allem „Glorious You“ und „Mittens“ als Gewinner in reduziertem Gewand vom Feld gehen). So (in Band-Version) oder so (als allein vorgetragene Akustik-Varianten) ist Frank Turner mit „Positive Songs…“ ein feines Album gelungen – und das bislang positivste seiner Karriere sowieso. Oder wie unlängst in einem Forum zu lesen war: „Es ist Sommer und das ist passende Musik hierfür.“ Jawollja!

Screen-Shot-2015-03-20-at-17.19.37-1

 

 

WasFrank Turner selbst über sein neustes Werk denkt? Das seht und hört ihr hier:

 

Freilich darf man via Youtube auch einige Songs hören. Hier kann sich das Musikvideo zu „The Next Storm“, Lyric-Videos zu „Get Better“ und „Mittens“ sowie einen Live-Mitschnitt des großen, bewegend ehrlichen „Song For Josh“ ansehen:

 

Und zum Schluss noch ein kleiner aber feiner Download-Tipp: Auf „Niko Records“ kann man sich Frank Turners gut einstündigen Akustik-Auftritt beim österreichischen „Acoustic Lakeside Festival“ vom Juli 2014 kostenlos und unverbindlich aufs heimische Abspielgerät laden – in bester Soundboard-Qualität, selbstverständlich. Zugreifen, bitte!

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
%d Bloggern gefällt das: