Nehmen wir doch einmal die ebenso platte wie wahre Pointe vorweg und legen die Karten gleich zum Anfang auf den Tisch: Eines Tages müssen wir uns alle – ob wir wollen oder nicht – auf die ein oder andere Art und Weise von denen, die wir lieben und die uns lieben, verabschieden. Man mag es wahrhaben oder geflissentlich verdrängen, aber dennoch macht der Tod auch vor unseren Leben nicht Halt. True story.
In der Musikwelt ist dieses Thema natürlich auch kein fremdes. Spontan kommen mir hier etwa Sufjan Stevens letztjähriges berührendes „Carrie & Lowell“ oder viele, viele der jüngsten großartigen Stücke von Mark Kozelek in den Sinn. Und: Seit ein paar Tagen, kann der, der sich an diese nicht eben wattebauschig leichte Thematik heran traut, zwei weitere großartige Platten in den Plattenregalen finden…
Nick Cave & The Bad Seeds – Skeleton Tree (2016)
-erschienen bei Bad Seed Ltd/Rough Trade-
Nicholas „Nick“ Edward Cave ist ein Getriebener. Ein Wahnsinniger. Ein wahnwitzig im Zeitplan arbeitender Kreativer. Und das seit über 30 Jahren. Und einer, der selbst seine den Wahn längst gewöhnten Fans immer noch zu überraschen weiß. Das hatte der 58-jährige Australier und Wahl-Engländer unlängst mit dem vor drei Jahren erschienenen Meisterwerk „Push The Sky Away“ bewiesen, dass ihn sowie seinen engsten musikalischen Vertrauten Warren Ellis und seine kongeniale Begleitband The Bad Seeds auf der Höhe ihres Könnens präsentierte – mit Songs voller Biss und untergründigem Drama, freilich massig dunklen Seiten und mannigfaltig bösem Witz. Wer danach unbedingt mehr Cave sehen wollte, bekam mit „20,000 Days On Earth„, der 2014 erschienenen abendfüllenden Dokumentation der Filmemacher Iain Forsyth und Jane Pollard, welche einen Tag im Leben des Musikers/Texters/Dichters/Schriftstellers/Drehbuchautors/Schauspielers zeigt (und dabei – ebenso wie Caves Songs – einen Bogen zwischen Genialität und Banalität spannt), noch mehr Futter zur (Über)Interpretation hinein in Nick Caves Wirken. Ja, dem Mann, der sich in all den Jahren seine eigene diabolische Welt der Narrenfreiheit zurecht gehauen hat, ging es gut. Und man kennt es ja nur zu gut von sich selbst. Kam möchte man zugeben, dass alles – frei nach Faustischem Prinzip – „eigentlich ganz okay“ ist, – und ich bitte meine Wortwahl zu verzeihen – fickt einen das Schicksal plötzlich umso härter.
Und so war es auch in Nick Caves Fall. Am 14. Juli 2015 starb sein 15-jähriger Sohn Arthur bei einem tragischen Unfall (Gossip-Spoiler: er stürzte im LSD-Rausch von einer Klippe in der Nähe des südenglischen Seebads Brighton, wo Cave und seine Familie leben). Nur böse Geister mögen hier wohl das Karma zur Verantwortung ziehen, denn ausgerechnet Cave, der es vor allem in den Achtzigern und Neunzigern mit bewusstseinserweiternden Substanzen und Parties so wild getriebenen hat wie vor ihm (fast) nur good ol‘ Keith Richards, Cave, der jahrelang intensiv heroinabhängig war, durch die Liebe (zu) seiner jetzigen Ehefrau Susie Bick jedoch glücklicherweise noch rechtzeitig den Absprung schaftte, dieser Nick Cave verlor nun – mutmaßlich durch im jugendlichen Leichtsinn durchgeführte Drogenexperimente – auf tragische Weise einen seiner vier Söhne. Ja, Karma ist eine miese kleine Schlampe.
Caves nun erschienenes neustes Album „Skeleton Tree“ als „Werk über den Tod seines Sohnes“ zu werten, fällt da nur allzu leicht. Und: Ja, zu einem nicht unerheblichen Teil ist es das wohl auch (oder wird so zumindest in den allgemeinen Tenor der Musikhistorie eingehen). Dabei war ein guter Teil der acht Stücke bereits zu großen Teilen fertig, als sich die Tragödie ereignete. Und doch kann, will, sollte man „Skeleton Tree“ nicht ohne das Wissen um die Hintergründe seiner Entstehung hören, denn Zeilen wie „I call out, I call out right across the sea / But the echo comes back empty / Nothing is for free“ (im abschließenden Titelstück) brauchen die Metaebene. Außerdem klingt Cave nur drei Jahre nach „Push The Sky Away“, das ihn als zwar alterweisen Weltbeobachter, jedoch allzeit angriffslustigen Hansdampf in allen Gossen präsentierte, so ganz anders (und das ist wohl keine Überinterpretation): traurig, vom Schicksal betrogen, manchmal gar müde. Zwar sind auch 2016 seine Bad Seeds wieder mit im Boot, jedoch hört man kaum eine elektrische Gitarre, kommt das Schlagzeug – wenn überhaupt – nur sehr gediegen zum Einsatz. Stattdessen Piano, Vibraphon und akustische Gitarren, welche von Co-Produzent Warren Ellis hinter einem Vorhang versteckt werden, der sie eins werden lässt mit der Ambience, die er mit dem Synthesizer und den Loops erzeugt. Hinter diesem pechschwarzen Vorhang: Nick Cave. Natürlich war der stets edle Anzüge tragende Musiker nie der freundliche Kasper für die gepflegte Massenunterhaltung, jedoch ist selbst für ihn diese Stufe der Traurigkeit, wenn an manch einer Stelle die Stimme gerade noch fürs Letzte reicht, wenn er etwa „With my voice / I am calling you“ („Jesus Alone“) ins Studiomikrofon singt, recht harter Tobak, welcher schließlich im flehentlichen „I Need You“ seine Spitze erreicht („I will miss you when you’re gone / I’ll miss you when you’re gone away forever / Cause nothing really matters / I thought I knew better, so much better / And I need you / I need you“). Da wirkt das in sich ruhende „Distant Sky“, ein geradezu zum Beerdigungsmarsch prädestiniertes Stück, bei welchem Cave Unterstützung von der dänischen Sopranistin Else Torp erhält, geradezu wie Balsam auch auf die Hörerseele.
Wie bereits der „Rolling Stone“ in seiner Review schrieb: „‚Skeleton Tree‘ ist nicht entstanden, weil Nick Caves Sohn gestorben ist, sondern obwohl er gestorben ist.“ Freilich werden Album und Tragödie immer miteinander verknüpft bleiben. Freilich wäre auch die gemeinsam mit dem Album erschienene Dokumentation „One More Time With Feeling“ von Regisseur Andrew Dominik, welche Cave und seine Vertrauten bei der Entstehung von „Skeleton Tree“ begleitet und nicht selten persönlichste nahe kommt, ohne die Ereignisse vom Juli 2015 kaum so möglich gewesen. Doch Nick Cave wahrt in jeder der knapp 40 Albumminuten ein Stückweit kreative Distanz, macht keinen der acht Songs nur zu seinen, schafft so etwas universell Trauriges, Berührendes, geradezu Meditatives, dem in keinster Weise der Kirschfaktor eines „Tears In Heaven“ (das damals ja Eric Clapton unter ähnlich tragischen Umständen in die Saiten gefallen war). Und obwohl der Hörer (zumindest ist das bei mir der Fall) diese Distanz auch selbst für sich wahrnimmt, gehen die Gefühle, die Cave in „Skeleton Tree“ durchlebt, durch Mark und Bein – und über allem steht die Hoffnung, dass die Stücke vor allem dem Musiker selbst helfen werden, seinen Frieden mit dem Stich ins Herz zu machen, die ihm diese miese Schlampe Karma an jenem 14. Juli 2015 verpasst hat.
Hier gibt es Impressionen von „Skeleton Tree“ in Form von Musikvideos zu „Jesus Alone“ und „I Need You“:
Touché Amoré – Stage Four (2016)
-erschienen bei Epitaph-
Auf den ersten Blick scheint Nick Cave und Jeremy Bolm gar nicht so viel zu einen. Der eine ist ein in Südengland beheimateter Australier, der in dreißig Jahren Musikgeschäft so ziemlich jede Höhe und Tiefe mitgenommen hat, der alles Helle, alle Dunkle in unser aller Seelen gesehen hat, in absehbarer Zeit das halbe Dutzend Jahrzehnte Lebenszeit auf diesem von Gott oder wemauchimmer verlassenen Planeten voll machen wird und sich dabei doch in beinahe jeder Minute seine künstlerische Restwürde bewahrt hat. Der andere ist der vorstehende Schreihals einer vor neun Jahren gegründeten Post-Hardcore-Formation aus dem US-amerikanischen Burbank, Kalifornien, der mit knapp über dreißig Jahren gut und gern Sohn des ersteren sein könnte. Klar könnte man Parallelen beim steten Arbeitsethos ziehen (Cave weist in dreißig Dienstjahren mindestens ebensoviele Veröffentlichungen plus Bücher plus Filme plus etc. pp. aus, Bolm hat mit seiner Band Touché Amoré nun vier Alben sowie massig EPs und Split Singles vorzuweisen), eventuell könnte man beiden auch einen gewissen „heiligen Ernst“ (nebst bösem Augenzwinkern) unterstellen. Zudem sind weder Nick Cave noch Jeremy Bolm als große Spaß verbreitende Jubelcharaktere in Erscheinung getreten. Aber sonst? Ganz eigene Welten.
Und doch ist „Stage Four“, das vierte Album der fünfköpfigen Post-Hardcore-Band Touché Amoré, dem neusten Nick-Cave-Werk näher, als alle Genre-Grenzen vermuten lassen, denn die elf Stücke von Bolms Formation beschäftigen sich voll und ganz mit dem Krebstod seiner Mutter. Oder, genauer: mit dem, was bleibt.
„Stage Four“, das bedeutet: die letzte Stufe einer Krebserkrankung, Metastasen, Endstadium, keine Hoffnung mehr. Als Bolms Mutter und somit auch er und sein Bruder, die die Mutter als Alleinerziehende groß zog, von der finalen Diagnose erfuhren, kam diese wohl einem Schock gleich. Jeremy selbst schien, schenkt man der Musik Glauben, gerade auf dem sprichwörtlichen aufsteigenden Ast, denn mit Touché Amoré lief es nach drei veröffentlichten Alben, welche immer größere Zuhörerscharen anzogen, super, und vor allem „Is Survived By„, 2013 erschienen, ließ rein lyrisch nach Werken, welche offen zu erkennen gaben, sich zu jeder Zeit fehl am Platze zu fühlen, positive Tendenzen erkennen (freilich noch immer lautstark). Dann jedoch schlug das Schicksal mit voller Breitseite zu – nach dem Motto „Dir geht’s prima? Dann wart‘ mal ab!“. Plötzlich wurde Bolm der Boden unter den Füßen weg gezogen – also auch: der Bühnenboden. Seine Band steckte zwangsläufig in dieser Zeit zurück, damit der Sohn sich voll und ganz um seine erkrankte Mutter kümmern konnte. Da jedoch Jeremy wusste, dass seine Mutter nie gewollt hätte, dass sein Leben, seine Leidenschaft wegen ihrem Schicksal in die Brüche gehen würde, kehrte der Frontmann schließlich wieder zu Touché Amoré zurück, um eine Tour abzuschließen. Vielleicht sogar zum Schutz seiner eigenen geistigen Gesundheit. Und: Es kam wie es kommen musste – seine Mutter starb, während Jeremy Bolm auf der Bühne stand.
Und obwohl sie es wohl genauso gewollt hätte, macht sich Bolm – verständlicherweise, irgendwie – noch heute Vorwürfe deswegen. Wieso war ich nicht da? Wäre ich stark genug gewesen? Hätte sie nicht genau das verdient? Bin ich ein schlechter Mensch, ein schlechter Sohn gewesen? Tausend und noch mehr Fragen, welche nie eine Antwort finden werden…
Und Fragen, davon gibt es während der gut dreißig Albumminuten von „Stage Four“ so einige. Nur Antworten, die findet Bolm selbst nicht. Vielmehr fühlt man sich als Hörer, als würde man den oft lautstark in Mikro geschrieenen, manchmal kehlig geraunten, mal verdruckst gesungenen Tagebucheinträgen des Thirtysomethings lauschen. Heißt auch: Feelgood-Atmosphäre sollte man verdammt nocheinmal woanders erwarten, nur nicht hier. „You died at 69 / With a body full of cancer / I asked your god: ‚How could you?‘ / But I never heard an answer“ („Displacement“) – weder Gott noch irgendsonstjemand kann einen von der Schuld, der Leere, dem Alleinsein, der Hilflosigkeit erlösen. Und: Nein, die Zeit heilt auch lange nach der Todesnachricht („New Halloween“), lange nach existenziellen Sinnkrisen („Displacement“) keine Wunden, lässt höchstens ein wenig Gras darüber wachsen. So sortiert Bolm bei der Auflösung der Habseligkeiten seiner Mutter auch Momente, Erinnerungen, lässt den Schmerz des definitiven Abschieds Stück für Stück zu, um zum Schluss – im letzten Stück „Skyscraper“, bei welchem er Unterstützung von Singer/Songwriterin Julien Baker erhält – in New York City anzukommen, der Stadt, welche seine Mutter über alles liebte, und in der ihn von nun an jede Ecke, jedes Geräusch, jeder Geruch an die Frau erinnern wird, über deren Verlust er wohl nie so ganz hinweg kommen wird. Ein Hoffnungsschimmer ganz am Ende ist jedoch, dass der Sohn es endlich schafft, die letzte Sprachnachricht, die seine Mutter ihm hinterlassen hat, anzuhören. Und der Hörer ebenso. In den letzten Sekunden, die bleiben.
Rein musikalisch reihen sich Touché Amoré in die letzten Veröffentlichungen artverwandter „The Wave“-Bands wie La Dispute oder Pianos Become The Teeth ein, deren aktuelle Alben („Rooms Of The House“ beziehungsweise „Keep You„) ja auch schon einen Schritt weg vom dumpfen Haudrauf-Zwei-Minuten-Mathcore und hin zu progressive gefärbten Indierock-Klangstrukturen machten. Zwar bewegen sich Jeremy Bolm und Co. dabei näher an ihren Vorgängern als etwa Pianos Become The Teeth, die vor zwei Jahren auf „Keep You“ auf grandiose Art und Weise einen Richtungswechsel zu vergleichsweise sanfteren Songstrukturen suchten, lassen jedoch trotzdem fast erstmalig so etwas wie Melodien, Refrains, Wiederholungen in ihren Stücken zu, was der Musik bei allen Rimshot-Beats, glasigen Wave-Gitarren und Tom-Drumming nur zu mehr Vielschichtigkeit verhilft.
„Stage Four“ ist ein ebenso emotionales wie direktes und aufrichtiges Wechselbad aus Trauer und dem Kampf darum, damit klar zu kommen. Es erzählt von denen die gehen und wird von einem erzählt, der zurück blieb, um die Fragezeichen zu zählen und die Erinnerung zu wahren.
Eindrücke gefällig? Hier gibt’s die Musikvideos zu „Palm Dreams“ und „Skyscraper“:
Rock and Roll.