„This Ain’t California“ (2012)
Am Anfang steht ein Abschied. Nico kommt von der offiziellen Trauerfeier, die die Bundeswehr zu Ehren des in Afghanistan gefallenen Soldaten Denis Paraceck abgehalten hat. Doch da Nico klar war, dass Denis selbst wohl diese Art „steife Etikette“ als letztes Geleit nie und nimmer gefallen hätte, trommelt er noch einmal alle alten Freunde zusammen, um sich, umgeben von Fabrikruinen, mit einem Lächeln auf den Lippen standesgemäß von seinem besten Freund zu verabschieden…
Rückblende: eine DDR-Plattenbausiedlung in der Nähe von Magdeburg, Anfang der Achtziger Jahre. Nico und sein Freund Dirk sind ganz normale Kinder. Nun, beinahe… Denn anstatt sich lediglich, wie ihre Klassenkameraden, in einheitsblauen Pioniergruppen zu organisieren, haben sie ein, für Außenstehende, höchst suspektes Hobby für sich entdeckt: das Skateboarden. Doch in der DDR war dieser Sport noch nicht angekommen und in der geplanten Mangelwirtschaft an den Erwerb eines so westlichen, „echten“ Skateboards erst recht nicht – schmuggel- und/oder „beziehungsfrei“ – zu denken. Umso erfinderischer mussten also die Bürger des „Arbeiter- und Bauernstaates“ sein. Und so wurden mit elterlicher Hilfe Stuhllehnen und Rollschuhrollen zusammen geschustert und mit diesen behelfsmäßigen „Boards“ das Asphaltgrau unsicher gemacht. Bald schließt sich den beiden ein weiterer Junge namens Denis ein, ein rotzfrecher Draufgänger, ein explosives Energiebündel, auf den zu Hause lediglich sein Vater wartet, der den sportlichen Jungen zum erfolgreichen DDR-Leistungsschwimmer trimmen will. Umso größer ist Denis‘ stetig wachsende Abneigung gegen Autoritäten, gegen Zwänge, Maßnahmen, Zukunftspläne und Vorschriften. Die drei werden zu besten Freunden, verbringen endlos scheinenden Sommer zusammen und balgen sich durch dick und dünn – mit dem Skateboarden als größten gemeinsamen Nenner. Als Nicos Künstler-Mutter beschließt, in den Ostteil des geteilten Berlins zu ziehen, reißt sich Denis – endgültig – aus der einengenden Umklammerung seines Vaters los und kommt hinterher. Gemeinsam entdecken die staunenden Kaffkinder in der Großstadt mehr Jugendliche, die, genauso wie sie, für’s Leben gern skaten – nur noch intensiver, noch waghalsiger, noch professioneller, und stürzen sich voller Energie und Entdeckungslust in eine wilde Jugend auf Rollen, deren Ende erst der jähe Fall der Berliner Mauer markiert…
„This Ain’t California„, der als Dokumentation getarnte Film von Regisseur Marten Persiel, erzählt anhand liebevoll gestalteter Details die – im Grunde fiktive – Geschichte einer Freundschaft, aber auch die einer Kindheit und Adoleszenz in einem Staat, in dessen (gemäßigt) totalitärem Rollenverständnis stets wenig Platz für Freigeister, Querdenker und Außenseiter herrschte. Während der kompletten 109 Minuten merkt man – Vorsicht: Spoiler! – beinahe nie, dass die komplette Story nicht auf realen Personen beruht, und auch die gefilmten Interviews lediglich mit Schauspielern geführt wurden, denn dieses brillant zusammen geschnittene Zelluloidpatchwork aus historischen Bildquellen (aus dem DDR-Archiv), tollen Zeichentrickpassagen, nachgestellten Super-8-Sequenzen und filmischen Ausschnitten aus dem „Skateralltag“ wirkt so nah, so real, so echt, dass man schon das „Making Of“ schauen muss, um den Machern auf die Schliche zu kommen. Und doch halten sich Persiel und sein Team im Grunde an Fakten, holten sich Zeitzeugen und Profis (etwa den deutschen „Skateboard-Pabst“ Titus Dittmann, der auch im Film auftritt) beratend an ihre Seite, und schaffen mit „This Ain’t California“ ein dynamisches, mitreißendes Kino-Potpourri über eine Sportart, der in der Achtziger-Jahre-DDR lediglich als „unorganisierter Rollsport“ galt und dessen „Rollathleten“ nicht selten als höchst „subversive Elemente“ galten, die mit Kamera und Argwohn genaustens beobachtet wurden. Im selben Atemzug erzählt der Film jedoch davon, dass Leidenschaft mühelos Grenzen durchbricht, die eben noch – gefühlt – unüberwindbar schienen. „This Ain’t California“ ist ein Skatefilm, der ebenso über wie vom Skaten als Lebensgefühl erzählt, und daher auch für Nicht-Skater interessant ist. „This Ain’t California“ ist weder vollwertiger Spielfilm noch authentische Dokumentation, da hier stets Fakt und Fiktion fließend ineinander übergreifen – und am Ende doch auch keine „Mockumentary“, denn solch‘ sanfte Revoluzzer wie jenen Denis „Panik“ Paraceck kannte sicherlich jeder DDR-Jugendliche. „This Ain’t California“ erzählt von Momenten, in denen man sich, umgeben vom tristen Mauerasphaltgrau, plötzlich jung und frei, unsterblich und unverwundbar fühlt – und hat dazu noch den passend tollen Soundtrack, der irgendwo zwischen Alphaville, den Ärzten, Feeling B und den Score-Beiträgen des hawaiianischen Indiemusikers Troy Von Balthazar (Ex-Chokebore) pendelt, parat. Humorvoll, abwechslungsreich, rührend, anders. Echt? Keine Ahnung. Jedoch: echt empfehlenswert!
Für alle, die gern mehr über den Film erfahren möchten, gibt’s hier einen Beitrag der Arte-Sendung „Tracks“…
Rock and Roll.