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Das Album der Woche


Dooms Children – Dooms Children (2021)

-erschienen bei Dine Alone Records-

Wade MacNeil ist hauptberuflich dritte Stimme und zweiter Gitarrist bei der kanadischen Post-Hardcore-Band Alexisonfire. Da es bei denen in den vergangenen Jahren eher ruhig war, hatte MacNeil ausreichend Zeit, um sich anderweitig auszutoben. So gründete er 2008 die Punk-Band Black Lungs und wurde 2012 Sänger der britischen Hardcore-Punker Gallows. Noch nicht umtriebig genug? Scheint ganz so, denn der 37-jährige Musiker trat zudem als Gast bei Bands wie Anti-Flag, Cancer Bats oder Bedouin Soundclash in Erscheinung und arbeitete nebenbei an Film- und Game-Scores.

Trotz all der vielen kreativen Hochzeiten erlebte MacNeil 2019 ein depressives Tief. „Ich dachte immerzu daran: ‚Wenn ich nur den heutigen Tag hinter mich bringe, fühle ich mich morgen vielleicht schon besser.‘ Ich musste mich mit einem Trauma rumschlagen und damit, dass die Dinge um ich herum auseinanderfielen. Ich wollte einfach nur woanders sein, irgendwo, um meiner Realität zu entfliehen.“

Kaum verwunderlich, dass ausgerechnet die Musik ihm eine Flucht bot. So begann er am Höhepunkt im Kampf mit seinen inneren Dämonen, neue Songs zu schreiben. Er finalisierte sie nüchtern in den Wochen in einer Entzugsanstalt und während er bei seiner Familie in St. Catherines, Ontario verweilte, die ihm dabei half, wieder zu sich selbst zu finden. Das Ergebnis ist Dooms Children sowie das selbstbetitelte Debütalbum, welches er unter ebenjenem Namen aufgenommen hat. Dass die darauf enthaltenen elf Songs ganz anders als die seiner Hardcore-Bands tönen, hat einen einfachen Grund: „Ich war zu der Zeit in einer tiefen Depression und konnte so etwas wie Punk, Rap oder irgendwas Aggressives nicht hören. Ich hatte genug Chaos in meinem eigenen Leben und konnte das nicht auch noch als Soundtrack gebrauchen.“

So entdeckte MacNeil während der Zeit in Therapie Klassiker-Größen wie etwa Grateful Dead für sich. Wohl auch deshalb sei die Platte das „am wenigsten aggressive Ding“, das er je veröffentlicht hat. Und diese Einschätzung bestätigt bereits „Flower Moon“ fast zu Beginn des Albums. Der beinahe sechsminütige Song, in dessen Musikvideo man übrigens Team-Canada-Skateboarderin Anna Guglia durch die Straßen von Montreal fahren sieht, ist zwar Universen von kitschiger Einheitspopmusik entfernt, legt dafür aber mit atmosphärisch heulenden Gitarren und Orgel los, um sich danach mit gedoppelten oder gar getrippelten Gitarren aufzubäumen – ganz so, wie man es von den Allman Brothers oder Lynyrd Skynyrd kennt und liebt. Überhaupt: Das Stück erinnert wohl nicht von ungefähr stark an Skynyrds grandioses „Simple Man“, das sich einst auch die Deftones vorgeknöpft haben.

Foto: Promo / Rashad Bedeir

„Es ist eine Platte über mein Leben, das auseinander fällt, und den Versuch, die Scherben aufzusammeln. Sie handelt vom Verlust der Liebe, von Sucht und davon, nachts wach zu liegen und sich zu fragen, ob man jede Entscheidung im Leben falsch getroffen hat“, so Wade MacNeil. Kaum verwunderlich also, dass der in Hamilton, Ontario beheimatete Musiker auch im melodischen Southern-Rock-Song „Psyche Hospital Blues“ ebendiese großen Gefühle mit seiner gewohnt rauen Stimme besingt – und, dem ernsten Thema zum Trotz, durchaus Humor beweist: Im dazugehörigen Musikvideo nimmt er das Klischee vom „harten Rocker“ aufs Korn und stellt dieses mit der Verletzlichkeit seiner Textzeilen in Kontrast.

„Ich habe es geschafft, viel von mir selbst in diese Platte zu packen – eine Menge Schmerz und eine Menge Hoffnung. Ich war nie offener und ehrlicher, und ich glaube, dass das nicht nur in den Texten durchkommt, sondern auch in der Musik.“ (Wade MacNeil)

Alles in allem lassen einen die 55 Minuten des Dooms Children-Debüts, welches gemeinsam mit Tausendsassa Daniel Romano, der zwischen Country und Punk in den vergangenen anderthalb Jahren elf (!) Platten veröffentlicht hat, dessen Bruder Ian, Multiinstrumentalist und vornehmlich Schlagzeuger, sowie dem aus Montreal stammenden Gitarristen Patrick Bennett entstand, ohne große Umschweife in lyrisch zwar recht düstere und bedrückende, musikalische dafür umso schönere, häufig ruhige und gefühlvolle Indie-Musik eintauchen, die – abseits von dessen gewohnten Hardcore-Aktivitäten – schlicht perfekt zu MacNeils Stimme passt. Ein bisschen verraucht, aber nicht zu dreckig, sehr besonders, sehr berührend, ebenso nachdenklich wie aufrichtig. Prosaische Zeitgeister mögen es wohl als ein Album des Bedauerns und der Erlösung, ein Album als Musik gewordene Bitte um neue Perspektiven und eine zweite Chance beschreiben. Dazu lässt MacNeil immer wieder Psychedelic Rock sowie Folk der Sechziger und Siebziger in seine Songs einfließen (und liefert, passend dazu, direkt eine wunderbare Version des Grateful Dead-Evergreens „Friend Of The Devil“ ab) und zockt obendrauf auch noch das sensationelle „Morningstar“. Man könnte es progressiven Blues nennen. Oder einfach: Dooms Children.

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Cleopatrick – BUMMER (2021)

-erschienen bei Nowhere Special/The Orchard-

Fuck whatever you think rock is. It’s different now…“

Rock’n’Roll 2.0 vs. Alles schon einmal da gewesen. Rockmusik im Jahr 2021 vom Scheitel bis zur Sohle ganz und gänzlich neu zu erfinden – das könnte sich nur allzu schnell als dezent überambitioniertes Unterfangen erweisen. Also warum selbige, die Rockmusik, nicht einfach im juvenilen Überschwang zertrümmern, wenn eh kaum etwas Neues daraus wachsen kann? Luke Gruntz (allein der Name!) und Ian Fraser alias Cleopatrick sind jung genug, ihre Twentysomething-Angst noch ungeniert thematisieren zu können – natürlich auf die Weise, wie Instagram, Spotify & Co. sie heutzutage verstärken. Privat huldigen sie laut eigener Aussage eher Rap-Ikonen wie Drake oder Kendrick Lamar, produzieren aber trotzdem dezent verwaschenen Two-Pals-Krachrock der guten alten AC/DC-Riffschule, und das sogar auf eigenem Label sowie in einem eigenen kleinen DIY-Kollektiv, denn was soll man im kanadischen Hinterland samt dessen beschränkten Möglichkeiten auch sonst mit seiner Jugend anfangen? Einen Bassisten hat das Mittzwanziger-Duo, welches sich seit Kindergartentagen kennt, nur deshalb nicht, weil sich in der Kleinstadt Cobourg – am Ontariosee gelegen und wohl ähnlich provinziell, aber nicht zu verwechseln mit dem Ort in Oberfranken – schlicht keiner auftreiben ließ. Die Reduktion aufs Wesentliche, auf Fuzz und Frust also, reicht absolut aus. Wo bei Royal Blood jüngst der Dreck gänzlich wegpoliert wurde und die ewigen Schürzenjäger von Death From Above 1979 ihre sanftere Seite entdeckt haben, kippen Cleopatrick als eine Art alternative Terrance & Phillip eine ganze Baggerladung Geröll hinein. Mit diesem Konzept sorgten sie mit zwei EPs und ein paar verdammt ordentlicher Singles („hometown„! „daphne did it„!) seit 2016 für einiges am Rumoren im weltweiten Netz und landeten letztlich auf der „New Noise„-Playlist von Spotify. Und wohl auch deshalb ist ihr Debütlangspieler „BUMMER“ nun ein knapp halbstündiger Schleudergang mit ordentlich arschcoolem Wumms und knirschendem Fuzz-Sand im Getriebe.

Kategorien wie Lo-Fi treffen den Kern der Sache dann auch nicht unbedingt, denn anstatt hunderten Vorbildern nachzueifern und sich von diesen beeinflussen zu lassen, poltern Cleopatrick einfach frisch, Frank und frei drauf los, ohne nur einen verdammten Gedanken daran zu verschwenden, wie sie sich im Rock’n’Roll-Kanon eigentlich einsortieren ließen. Gerade Ian Frasers Schlagzeug dröhnt im eröffnenden „Victoria Park“ so dumpf und verrauscht, als wäre es durch einen riesigen Eierkarton aufgenommen worden. Beat und stimmlicher Vortrag auch in anderen Songs – man nehme nur „Great Lakes“ – erinnern dann tatsächlich an HipHop’sche Gefilde. Passend dazu sitzt auch das Storytelling wie eine gut flowende Eins – vom Schulhof wohlgemerkt, die Straße kann man vom Nachsitzen aus lediglich erahnen. Man wähnt sich beinahe in einem selig analogen, siebziger’esken Umfeld, transferiert ins digitale 21. Jahrhundert, wenn Gruntz sich beschwert, sein Feed sei „full of fucking dummies that did high school with me“. Jung, anti und dagegen sein lautet die Devise weiterhin in „Family Van“: „Pushing twenty-three is a real big bummer / When these old motherfuckers try so hard to pull you under“. Die Band mag nur ein paar Felle, High-Hats, sechs Saiten und einige Effekt-Pedale zur Verfügung haben, ist jedoch mächtig gewaltig auf Krawall gebürstet – maßgeblich gegenüber ihrer heimischen Kaff-Einöde, aus der auch Social Media keinen Ausweg verheißt, und all den alten und jungen Spießern, die darin nunmal wohnen.

„Keine beschissenen Ghostwriter. Kein Label-A&R, keine namhaften Produzenten. Nur drei Kids mit ein paar Fuzz-Pedalen und dem Willen, etwas zu beweisen. Wir haben uns entschieden, dieses Album in Jigs Keller aufzunehmen, weil wir den Kids, die zu unseren Gigs kommen, zeigen wollten, dass man keinen Major-Label-Deal unterschreiben oder sich mit den modernen ‚Rockstar‘-Phonies assimilieren muss, um es zu schaffen. Tatsächlich ist es genau das Gegenteil: Alles, was du brauchst, sind ein paar gute Freunde und eine kleine Vision.“

Das Beste bleibt dennoch die Wirkung dieser Songs, denn beim Genuss von „BUMMER“, welches das Duo nahezu in Eigenregie aufgenommen hat (lediglich ihr enger Freund Jig Dubé wirkte beim Songwriting, Aufnehmen und Produzieren mit), bekommt man unweigerlich mächtig Bock, in einer kleinen, viel zu engen Garage einen Auf-Teufel-komm-raus-Circle-Pit zu bilden und selig grinsend gegen fremde Menschen zu hüpfen, während der Schweiß von der Decke tropft und der Boden vom Bier klebt. Glaubt keine Sau? Nun, jenem Borstenvieh sollte man denn mal den Grunge-Hit „The Drake“ auf die Lauscher geben! Those were the days, kiddos. Verheulte Emo-Lyrics und Grunge-Akkorde in inniger Vereinigung sorgen auch dafür, dass eine Quasi-Ballade wie „2008“ hell und intensiv strahlen kann, ohne dass sie eines scheppernden Schlagwerks bedürfte. Nicht nur hier bringt Gruntz das Kunststück fertig, so einige stimmliche Facetten von angepisstem Gesang bis Sprechgesang auszuloten und mal wie ein junger Chris Cornell, mal gar soulful wie Afghan-Whigs-Frontröhre Greg Dulli zu klingen – mit kanadischem Akzent, versteht sich: „When you give a fuck just let me know“. Dabei sind Cleopatrick natürlich der schlechte Umgang, vor dem das wohlerzogene kanadische Mädchen aus Torontos Villenviertel von den gut betuchten Eltern an- und ausdauernd gewarnt wird – allein diese unflätige Ausdrucksweise! Aber dank etwas DIY-Ethos eben auch eine der neuesten altmodischen Rock-Aufstiegsgeschichten im digitalen Zeitalter. Wo Japandroids mittlerweile mit eher abgeklärt-erwachsenem, dabei aber auch machomäßigeren Blick den Thron besetzen, sind Gruntz und Fraser eher die Arctic Monkeys der kanadischen Noise-Duo-Landschaft. Will neben jung und ungestüm auch heißen: romantisch genug, um nicht nur als juvenile Unruhestifter wahrgenommen zu werden. Längst nicht neu, dafür aber mächtig aufregend, stellenweise verdammt intensiv und übertrieben gut, das Ganze! Dear Canada, your kids are alright.

Rock and Roll.

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Song des Tages: Bahamas – „No Depression“


Im Song „No Depression“ nähert sich Afie Jurvanen aka Bahamas dem derben Stimmungskiller Schwermut mit entspanntem Soul- und Gospel-basiertem R’n’B. Was die leicht anzuhörende Akustiknummer vom vierten, 2018 erschienenen Album „Earthtones“ vermeintlich an Tiefgang vermissen lässt (Hey, ist halt immer noch Popmusik!), das macht das dazugehörige Musikvideo von Regisseur Ali J Eisner in seiner durch und durch sehenswerten Umsetzung wett…

Selbiges spielt am Ufer eines Sees im Norden Ontarios, der Heimat des kanadischen Musikers mit finnischen Vorfahren. Doch Afie Jurvanen selbst ist zunächst gar nicht zu sehen und wird von einer Puppe dargestellt. Jene Puppenpersönlichkeit darf seiner statt mit der Natur um ihn herum interagieren: auf einem Steg sitzen und aufs Wasser hinaus starren, Holz im Wald hacken oder Vögel beobachten. Heile Welt also? Denkste. Angesichts des Titels und des Themas des Songs, welcher sowohl melancholische Momentaufnahme als auch Mutmacher ist, fällt es nicht schwer, sich Jurvanens Puppe als Metapher für Afie selbst vorzustellen, der sich fühlt, als sei er nur ein Platzhalter in seinem eigenen Leben und keine echte Person – jedes Mal, wenn seine Depressionen einmal mehr unvermittelt zuschlagen.

Schön auch, dass das preisgekrönte Musikvideo (in Kanada gab’s 2019 hierfür verdientermaßen den Juno Award fürs „Video of the Year„) trotz des nicht eben leichtfüßigen Themas und Textes dennoch versöhnlich endet, da Puppen-Jurvanen langsam beginnt, die kleinen Freuden im Leben wiederzuentdecken – wohl nicht zuletzt dank jenes Puppen-Eichhörnchens, das da im Wald neben seiner Hütte lebt. Und: In der Schlussszene bekommt man den 40-jährigen Indie-Folk-Musiker endlich in natura zu sehen, als er und sein Puppen-Ich in passenden Trainingsanzügen Seite an Seite sitzen, während sie gemeinsam Hot Dogs über einem offenen Feuer rösten…

(via Vimeo schauen…)

„I feel it through my shoes
They used to call that the blues
Now they call it depression

Everywhere I go
Yes, I get to feel so low
If I got depression

My wife don’t want no part of me
And yes, that fact is hard on me
That’s true
I give the doctor a description
And he just writes a prescription
Or two

Peace and quiet were here before
But they both walked out the door
And left me with depression

I hardly leave my room
Most days I sleep ‚till noon
If I got depression

Most folks think I’m fine
But the truth is I’m suprised
I’ve got depression

To all those girls I’ve loved before
I’m sorry I love this one more
That’s true
If she would just stay with me
Her presence can only lift me
And get me through

I start to come around
And stop putting myself down
That’s called progression“

Rock and Roll.

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Song des Tages: Evangeline Gentle – „Ordinary People“ (Live Session)


Foto: Promo / Samantha Moss

Wer hier beim Hören des Debütalbums von Evangeline Gentle an Nashville denkt, könnte freilich mit Leichtigkeit goldrichtig liegen – tut’s jedoch nicht, denn die junge Frau hat ihre Hausschuhe in Peterborough, Ontario, gut 1.350 Kilometer weiter nördlich vom traditionellen Country-Mekka in Tennessee, stehen…

Obendrein stammt die Familie der in Schottland geborenen Singer/Songwriterin von der anderen Seite des Atlantiks und zog nach Kanada, als Gentle elf Jahre jung war. Und irgendwas – waren’s kreative Vitamine? – muss sie recht früh in ihr Müsli bekommen haben, schließlich entdeckte sie schnell ihr Faible fürs Musikalische, gewann bereits im zarten Alter von 18 Jahren die ein oder andere Auszeichnung. Und lieferte im vergangenen September ihren selbstbetitelten Debütlangspieler, welcher der im Mai 2020 veröffentlichten Acapella-EP „You And I“ die passenden Töne hinzufügt. Was verwundert: Die zehn von Jim Bryson produzierten Stücke, an denen Gentle ganze drei Jahre feilte, klingen so gar nicht nach einem Debüt, tönen ebenso sicher wie ausgereift, sind durchdrungen von der Art lyrischer Klarheit und Songwriting-Fertigkeit, der nicht wenige Künstler*innen eine ganze lebenslange Karriere lang hinterher jagen.

Schon der Opener „Drop My Name“ wird gesteuert von Evangeline Gentles durchdringendem, vibrato-lästigem Gesang, mit einer gefühligen Lebensweisheit, die Nina Persson von den Cardigans wohl nicht unähnlich ist. Noch eine Referenz? Na gern doch: Das darauf folgende, noch emotionalere „Ordinary People“ mag manch eine(n) schnell an Größen wie Patty Griffin (in ihren besten Momenten) erinnern. Abgesehen davon, dass das Stück mit einer der mutmaßlich besten Banjo-Lines des vergangenen Musikjahres aufwartet, wirft es mit zwei bestimmten Zeilen Licht auf Gentles zwar realistische, aber dennoch positive philosophische Einstellung zum Leben: „It’s brave to be hopeful in this world / It’s brave to be kind“. Mehr sogar – ebenjene Worte leiten das ein, was das Hauptthema dieses Albums zu sein scheint: die Liebe als Zufluchtsort vor dem manches Mal harten Alltag, das zwischenmenschliche Gefühlshoch als Erlösung. Klar, das könnten nicht wenige mit einem dezenten Rosamunde-Pilcher-Trauma leicht als naiven Idealismus abtun, aber diesen Songs – und den Texten im Besonderen – wohnt einfach eine entwaffnende Einfachheit inne, die zwar das ein oder andere Detail schnell überhören lässt, andererseits aber auch jede größere Krittelei überflüssig macht. Und je weiter man in diese kissenweiche Platte eintaucht, desto vergeblicher ist der Widerstand gegen dieses recht altmodische, aber irgendwie auch zeitlose romantische Gefühlsanzug dieser 23 Jahre jungen Künstlerin, die bereits als mit ihrer offen queeren, gender-fluiden Lebenseinstellung bereits mancherorts als „neue Szene-Galionsfigur“ gefeiert wird.

Apropos: Die berauschende Unbekümmertheit einer Liebesaffäre, deren Schmetterlinge just flattern gelernt haben, wird in „Sundays“ schlicht und ergreifend wunderbar skizziert (während das feine Musikvideo bewusst queere Fußnoten setzt), tadellos arrangiert um Gentles besondere Stimme, die es sich inmitten eines sacht pumpenden E-Basses, zurückhaltenden Gitarren und eines gekonnt verzerrten Keyboard-Sounds gemütlich macht. Eine weitere tolle Zeile: „Lust is almost always never love“ – zu hören im Zeigefinger-Märchen „Even If„, das massig Retro-Soul-Gefühl ausstrahlt (man denke an Duffy mit etwas weniger Drama), bevor der Hörer in der Albummitte und beim durch einen ganz ähnlichen Vintage-Touch gekennzeichneten „So It Goes“ ankommt – und vor dem inneren Auge Carole King am Lagerfeuer ausmacht.

Das Klassisch-Balladeske erreicht seinen Höhepunkt mit „The Strongest People Have Tender Hearts„, welches wiederum Gentles flammendstes Plädoyer für spirituelles Wachstum gegenüber oberflächlichem Momentum ist: „We’re searching in change-room stalls of fast fashion stores and malls / Just to pay the wage of a billionaire, somewhere”. Die grüblerische Poppigkeit von „Long Time Love“ und der flotte Anschlag von „Neither Of Us“ verblassen da freilich etwas im Schatten dieses Stücks, bevor das bedauernde „Digging My Grave“ die Dinge wieder in die richtige Bahn lenkt. Der spärlich ausstaffierte, klagende Schlusssong „Good And Guided“ destilliert das Motiv des Strebens nach Gnade und Frieden – Johnny Cash, can you hear me? – weiter, ohne dass es groß wie eine Wiederholung der Wiederholung klingt.

Obwohl Evangeline Gentles Debütalbum ganz und gar keine großen, allzu lauten Töne spuckt (und deshalb auch – im besten Sinne – als Hintergrundmusik herhalten kann), steckt das Werk voller Leben. Und wird von einer Stimme geleitet, die wohl auch das sturste, zynischste Herz zu rühren vermag. Wenn man denn unbedingt an etwas herumkritteln mag, so eventuell daran, dass sich die zwischen Indie Folk, Alt.Country und Americana pendelnde Singer/Songwriterin stilistisch nie so ganz festlegen mag. Natürlich wäre es nur allzu einfach gewesen, diese Songs in ein handgesteiftes, kommerziell aufgemotztes Americana-Kleid zu stecken oder sie fürs Formatradio mit modernen Beats zu überziehen – der bewusste Widerstand gegen strikte Genres lässt Gentle manchmal etwas ziellos, etwas unentschlossen tönen. Das mag künstlerisch befreiend wirken, schränkt jedoch – ja, so kann man’s sehen – den Grundcharakter dieser ansonsten recht überzeugenden Songsammlung ein. Natürlich könnte man nun argumentieren, dass Evangeline Gentles einzigartige Stimme bereits genug Charakter besitzt – und am Ende hätte man wahrscheinlich recht. Unterm Strich ist das hier ein formidabler Start in eine Musikkarriere, die eventuell noch den ein oberen anderen Ton gewordenen Herzenswärmer bereit hält…

„I’ve been, I’ve been running on empty
Headline after headline draining me
Oh the ugly things ordinary people
Do for more money

It’s brave to be hopeful in this world
It’s brave to be kind

Just when I think I’ve had enough
Your love is a little bit of sweetness
Life softens at your touch
Life softens when we touch

I’ve been feeling afraid and lonely
But I don’t ever want fear to own me
I want an open heart
Capable of loving fearlessly

It’s brave to be hopeful in this world
It’s brave to be kind

Just when I think I’ve had enough
Your love is a little bit of sweetness
Life softens at your touch
Life softens when we touch

When life gets us low
Our love softens each blow and I know
You see who I am at the core
In ways few have before and even though

It’s brave to be hopeful in this world
It’s brave to be kind

Just when I think I’ve had enough
Your love is a little bit of sweetness
Life softens at your touch
Life softens when we touch“

Rock and Roll.

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Song des Tages: Kalle Mattson – „Avalanche“


kallemattson

Den aus dem kanadischen Sault Ste. Marie, Ontario stammenden Singer/Songwriter Kalle Mattson dürfte hierzulande kaum jemand kennen. In seiner Heimat ist der 29-jährige Indie-Musiker, den es mittlerweile ins etwas urbanere Ottawa verschlagen hat, da schon ein paar Schrittchen weiter, war 2014 etwa, für sein Album „Someday, The Moon Will Be Gold„, für den renommierten Polaris Music Prize nominiert. Wen wundert’s, schließlich hat das Milchgesicht mit der Vor-fünf-Minuten-aus-dem-Bett-gefallen-Frisur und der markant quietschig-nasalen Stimme musikalisch eine feine Bandbreite zu bieten: vom oft orchestral ausstaffierten Folk der Anfangstage, der ab und an schonmal ernstere Töne anschlägt (so verhandelt oben genanntes Werk etwa den Tod der Mutter, als Mattson selbst erst 16 Jahre jung war), über ein reduziertes Cover des Drake-Hits „Hotline Bling“ bis hin zum ebenso ungeniert wie selbstbewusst gen Eingängigkeit schielenden Indie-Pop der jüngsten Releases wie „Youth“ (2018) oder der „Avalanche EP„.

a4051000374_10Und wenn man so mag, dann konnte Kalle Mattson, der nebenbei noch mit summersets, einem Zwei-Mann-Duo mit Musiker-Buddie Andrew Sowka, eine weitere tönende Spielwiese am Start hat, erst mit dem letztgenannten, 2015 erschienenen Mini-Album (welches man via Bandcamp – neben einem Großteil des weiteren Backkatalogs – als Stream und „name your price“-Download findet) sein wirkliches musikalisches Coming Out feiern, denn die Songs baden mit Synthesizern und Drum-Machines nicht mehr in reduzierter Folk-Tümelei, sondern bis zum Haaransatz im Eighties-Sound-Outfit großer Vorbilder wie etwa Bruce Springsteen (von dem Mattson selbst nicht von ungefähr Alben wie „Tunnel Of Love“ oder „Born In The U.S.A.“ am meisten schätzt – wer mehr über die stellenweise Detailversessenheit des Indie-Musikers wissen mag, der kann hier weiterlesen). Das zwar recht simple, aber irgendwie auch augenzwinkernde Motto von nun an lautete also: „Folk is dead!“.

Was also lag näher, als seinen Vorbildern gleich unverhohlen Tribut zu zollen und fürs Musikvideo des Titelstücks, bei dem Philip Sportel Regie führte, eine ganze Latte an ikonischen Albumcovern humorig nachzustellen? Eben: wenig.

„Ich hatte das Videokonzept eigentlich schon lange Zeit im Kopf“, so Mattson. „Ich erinnere mich, dass ich 10 oder 11 Jahre alt war, als ich die ‚Rolling Stone‘-Ausgabe mit den ‚500 Greatest Albums of All Time‘ durchblätterte und allein aufgrund der Cover entschied, welche Platten ich mir aus der Sammlung meines Vaters anhören wollte. Alle Alben, die wir nachgestellt haben, sind super wichtig für mich, und das Video dient sozusagen als Fenster zu dem, was mich beeinflusst hat, als ich aufwuchs, als ich zum ersten Mal Musik entdeckte und dann schließlich selbst Songs schrieb.“

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Hinsichtlich des gelungenen Endergebnisses, für welches er etwa eine durchaus gerechtfertigte Nominierung als „Video of the Year“ bei den 2016er Juno Awards einheimsen konnte, gibt sich Mattson bescheiden: „Eine meiner Hauptsorgen war, dass es wie ein kleiner Egotrip wirken könnte, wenn ich mein Gesicht in ein berühmtes Dylan-Cover oder so stecke, aber ich glaube wirklich, dass es am Ende als ein Werk der Ehrerbietung zu den Künstlern, ihren Platten und den Covern, die diese Alben so besonders machen, herüberkommt.“

Das flimmernde Endprodukt enthält gleich 34 recht kreative Knickse vor Künstlern und Bands wie Elliott Smith, Jay Z, Wilco, Radiohead, The Velvet Underground, den Ramones, David Bowie, Pink Floyd, Beck oder sogar den Backstreet Boys, bis man schließlich das Cover von Mattsons „Avalanche EP“ auf dem Plattenspieler liegen sieht. So gerät das Musikvideo schnell zum popkulturellen Ratespiel mit massig „Hallo!“- und „Aha!“-Momenten, bei dem wohl nur die am besten popkulturell geschulten Musik-Freaks wirklich alle Albumcover erkennen werden (der Rest findet hier eine Auflistung)…

 

Hier gibt’s das Musikvideo zu „Avalanche“…

 

…und einen Blick hinter die Entstehungskulissen:

 

Wer dennoch den Folk nicht traurig vor der Tür stehen lassen möchte, der findet hier eine Akustik-Variante des Songs:

 

Rock and Roll.

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Song des Tages: July Talk – „To Hell With Good Intentions“


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Na da hör her – July Talk melden sich lautstark zurück!

Obwohl die fünfköpfige Band um das sowieso und überhaupt wunderbar ungleiche Gesangsduo Peter Dreimanis und Leah Fey auch in den letzten Monaten nicht einsah, Rost anzusetzen, und viel lieber emsig tourte, ließen erste neue Töne seit dem zweiten, 2016 erschienenen Album „Touch“ doch auf sich warten…

Umso schöner, dass der Fünfer aus dem kanadischen Toronto, Ontario, von dem vor etwa zwei Jahren auf ANEWFRIEND bereits die Schreibe war, in der Zwischenzeit kein bisschen leise geworden ist (was ja angesichts einer launigen Piano-Coverversion des FKA TWIGS-Songs „Mirrored Heart“ vom vergangenen Dezember bereits „befürchtet“ werden durfte), denn die Variante von „To Hell With Good Intentions“ (im Original von den anno 2005 auf Eis gelegten walisischen Raudaubrüdern von Mclusky beziehungsweise deren 2002er Album „Mclusky Do Dallas„), die Dreimanis, Fey und Co. da mal eben aus dem Lärm-Ärmel schütteln, tönt wie die Musik gewordene Übersetzung von „Die Schöne und das Biest“ – in lederkuttenem Punk! Da würde wohl selbst der altehrwürdige Iggy Pop zum übermütigen Stagedive ansetzen… Und nun alle: „My love is bigger than your love! Sing it!“

 

 

Rock and Roll.

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