Slut – Alienation (2013)
So langsam verblassen die Ränder. Und doch ist die ein oder andere Erinnerung an jenen Sommer des Jahres 2001 noch präsent…
Klar, zuerst drängen sich bei den meisten von uns jene Bilder in den Vordergrund, als an einem Septemberdienstag zwei Türme in New York City zu Boden stürzten. Nichts sollte darauf mehr wie vorher sein. Radiohead wurden mit ihrem famosen Albumdoppel aus „Kid A“ und „Amnesiac
“ während diesen Tagen zu einem musikgewordenen Anker für mich, in einer Welt, die schwer zu fassen, schwer zu durchschauen schien. Aufruhr, Rebellion, Veränderung – ich war damals ein lebenshungriger, zwar altkluger, jedoch auch ebenso dummdreister Kindskopf, der kurz vorm schlechtrechten Abitur stand. Ich war mittendrin im Strudel der Adoleszenz. Musik, Mädchen, Freundschaft – ich wollte alles, und sei es nur für einen einzigen, endlos langen Sommer…
Und auch heute noch werde ich bei jedem Mal, wenn die Stücke eben jener erwähnten Radiohead-Alben meinen Weg kreuzen, wieder in diesen Sommer zurück versetzt. Zu diesem Mädchen mit dem kurzen Haar, den Sommerprossen, den vollen Lippen und den leuchtenden Augen, die ihr Lächeln für einen Sekundenbruchteil zum zweifellos schönsten auf den ganzen Welt machten. Zu den endlos langen Beinen, die sich um meinen schweißnassen, hageren Körper schlungen, als wir uns küssten. Für einen winzigen Moment gab es nur uns allein auf dieser Welt, die so offen und neu und am Ende schien. Und andererseits so voller unbetretener Wege ohne Ziel offenbarte…
Doch noch mehr als alles auf „Kid A“ oder „Amnesiac“ versetzt mich wohl ein anderer Song zurück in eben diese Tage der Jugend: „Welcome 2“ von Slut. Das dazugehörige Video lief damals rauf und runter auf Viva 2, in einer Zeit, als tatsächlich noch Musikvideos im Fernsehen liefen. Darin zu sehen: fünf bleiche Milchbubi-Gesichter, die kaum älter als ich waren. Das Stück war ebenso Teil des Soundtracks des filmischen Robert Stadlober-Durchbruchs „Crazy“ als auch zentraler Punkt von Sluts bereits drittem Album „Lookbook„. Und obwohl diese fünf Typen aus dem bayrischen Ingolstadt kaum die Zwanzig erreicht hatten, war jenes „Lookbook“ bereits reichlich ambitioniert ausgelegt: Ein Konzeptwerk über die Schattenseiten der Adoleszenz, über Außenseitertum, Verunsicherung und das Alleinsein. Natürlich konnte sich ein Teenager wie ich, der in seiner Kleinstadt-Clique zwar ein gern gesehener Freund war, jedoch nie zum großen Draufgängertum neigte, damit identifizieren! Those were the days…
Und obwohl nach diesem Sommer der Herbst kam und die meisten aus meinem damaligen Freundes- und Bekanntenkreis in ihre eigenen Zukünfte verschwanden, blieb ich Slut, deren Namenwahl wohl eher dem schwedischen „Ende“ als der profanen englischen „Schlampe“ zugrunde liegen mag, über all die Jahre treu. Natürlich machte es die Band ihren Hörern auch einfach, sie für ihre Musik und ihren steten Willen zu Wachstum und gleichzeitiger Neuerung zu lieben. „Nothing Will Go Wrong„, „All We Need Is Silence
“ und „StillNo1
„, jeweils im Zwei- beziehungsweise Dreijahresrhythmus zwischen 2003 und 2008 erschienen, waren ebenso breitbeiniger, bissiger Indierock wie gewagt melancholischer Veitstanz auf der Höhe der Zeit. Nie schienen Christian Neuburger (Gesang, Gitarre), Rainer Schaller (Gitarre), Gerd Rosenacker (Bass), Matthias Neuburger (Schlagzeug) und René Arbeithuber (Keyboard) wirklich musikalisch still zu stehen. Und wenn ihnen selbst der ganze bundesdeutsche Indierock-Zirkus zuviel wurde, dann suchten sie sich auf eigene Faust neue gemeinsame Betätigungsfelder – etwa als Begleitband im Theatergraben zu Brechts „Dreigroschenoper“ oder als musikalische Erfüllungsgehilfen bei der Hörbuchfassung des Romans „Corpus Delicti
“ der Autorin Juli Zeh.
Auf ein „richtiges“ neues Album von Slut mussten alle Fans, Freunde und Wegbegleiter jedoch lange fünf Jahre warten. Fünf Jahre, in denen sich die Lebensmittelpunkte von drei Fünftel der Band in die bayrische Landeshauptstadt verlagerten, in denen Familien gegründet wurden, Freundschaften entstanden, während andere friedlich einschliefen oder zerbrachen. Fünf Jahre, in denen Lieben aufkeimten und achtlos beiseite geschoben wurden, Ideale bitter enttäuscht oder gar zu Grabe getragen wurden; die ausreichend Zeit ließen, Jobs anzunehmen und wieder zu schmeißen, mal hier, mal da auf der Welt sein Glück zu versuchen… Keine Frage: Auch – und vor allem – man selbst hatte sich verändert. Und obwohl die Ankündigung, dass Slut nach eben fünf langen Jahren im August 2013 wieder ein vollwertiges Album veröffentlichen würden, ein wenig für einen gefühlten inneren Kindergeburtstag sorgte, so blieb doch – bei so viel gemeinsamer Vergangenheit – eine undefinierbare gewisse Restskepsis: Würden es Neuburger & Co. noch einmal schaffen, das Feuer vergangener Tage zu entfachen? Am Ende von „Alienation“ bleiben gar mehr Fragen als Antworten… Das Gute: Man spürt, dass es die Band genau so wollte.
Dabei birgt bereits die erste – und zweifellos wichtigste – Vorabinformation zu „Alienation“ gleichsam Wagnis und Spannungsgarant in Personalunion: Slut kontaktierten nach den ersten erfolgreichen Entwürfen im heimischen münchner Proberaum fünf der Produzenten, mit denen sie bereits an vergangenen Alben gearbeitet hatten, und begaben sich für Album Nummer sieben ebenso auf Deutschlandreise wie auf einen Trip in die eigene Bandhistorie: zwei der zwölf Stücke wurden gemeinsam mit Tobias Levin (u.a. Kante, Tocotronic) in Hamburg aufgenommen, zwei weitere mit Olaf O.P.A.L. (u.a. The Notwist, Naked Lunch) in Bochum und Berlin, fünf mit Tobias Siebert (u.a. Me And My Drummer, Phillip Boa) in Berlin, zwei mit Mario Thaler (u.a. The Notwist, Polarkreis 18) in München und Stuttgart und wieder zwei Songs entstanden mit Oliver Zülch (u.a. Die Ärzte, Sportfreunde Stiller) im beschaulichen Weilheim.
Nun könnte man durchaus mutmaßen, dass „Alienation“ ob dieses Fakts besonders zerfahren wirken würde – dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Denn erstmals seit dem zwölf Jahre zurück liegenden „Lookbook“ wagten sich Slut wieder an ein Albumkonzept, das – bei aller räumlichen Distanz – die Stücke wie ein roter Faden durchziehen sollte: „Alienation“, also „Entfremdung“ – keine schlechte Idee fürwahr, in einer Zeit, in der jedes menschliche Glied in den gesellschaftlichen Ketten der Wirtschaftsnationen einer nie endenden 24/7-Flut an Unterhaltung und Zerstreuung ausgesetzt scheint. Eine Zeit, der die Übersättigung und die hohle Hand des Zuviel in unschön uniformer Blockschrift auf die metaphorische Stirn gebrandmarkt scheint. Individuen werden untergebuttert und mundtot gemacht, Liebe ist prozesskonform und käuflich, Meinungen lassen sich im Vierjahrestakt mieten und Burnout ist die Volkskrankheit, mit der Manager ebenso wie einfache Angestellte für ein Leben auf der Überholspur bezahlen müssen. Echte Gefühle? Erstickend fremd. All das versuchen Slut in 50 Minuten zu packen…
Dabei legt „Anybody Have A Roadmap?“ bereits ganz gut los. Perkussion und das von Produzent Olaf O.P.A.L. gespielte Reverse Piano geben den Takt vor, während sich Gitarren und ein wummernder Bass durch ein Dickicht aus elektronischen Spielereien wuseln, in denen sich Chris Neuburgers Stimme erstmals als einzig fester Anker erweist. „Broke My Backbone“ weist mit generierten Beats und repetitiven Stimmsamples, die keinerlei comfort zone zulassen, nur allzu offensichtlich auf die zwei größten aktuellen Referenzpunkte hin: Radiohead und Atoms For Peace – kaum verwunderlich, steht doch der nimmermüd‘ kreative Derwisch Thom Yorke beiden Bands vor, befassen sich beide Kollektive doch seit Jahren mit ähnlichen Sujets. „All Show“ ist eine gitarrengetragene, traurige Mär von gebückt schleichenden Taugenichtsen, Gelegenheitstrinkern, Herumtreibern und schlechten Schauspielern, die sich alle selbst Tag für Tag etwas vormachen, und in ihren portionierten Leben doch eines gemeinsam haben: sie alle sind „fucked up inside“. „Home is where you’re brought up /…/ You stay or you may roam / They say it’s like the heart without a home /…/ And the young ones getting out of here / The rest stays where they are / And most of them turn petit bourgeois /…/ We wrote a hundred love songs / And poems / All those years / Where we sang about our hopes and doubts and fears / Someone push the brake /…/ Someone get along with us“ – das Titelstück ist gleichsam melancholische Feier der gemeinsamen Vergangenheit und desillusionierte Hymne an die Ingolstädter Heimat. „Silk Road Blues“ besteht beinahe gänzlich aus einem Jam zwischen der Band und Sitar-Spieler Ashraf Sharif Khan, bevor „Remote Controlled“ zu treibendem Schlagzeug Zerstreuung und Genusssucht der einheitlich modernen Großstadtmasse auf den Punkt bring („We suffer from action / Caused by a lack of satisfaction / Though we have ageingly arrived / We’re in search for the time of our lives /…/ We’re puppets in an everlasting play /…/ We’re all remote controlled“) und „Idiot Dancers“ den Tanzboden für den Aufmarsch der Konformisten bereitet. „Deadlock“ bereitet dem kündigen Hörer ein zweites offensichtliches Radiohead’sches Aha-Erlebnis, denn die Gitarren könnten so auch von Johny Greenwood, dem Leadgitarristen der englischen Erfolgsband, kommen. In „Nervous Kind“ droht der Barpianist zu unruhigen Rhythmen gen Ende kurz in einem Streichermeer zu versinken, „Never Say Nothing“ deutet mal eben wuchtige New Wave-Tendenzen an und lässt den seligen Joy Division-Frontmann Ian Curtis als Textreferenz durchscheinen („She’s lost control again“). Bevor einem selbst alles an „Alienation“ zu viel wird, ist dieser seltsam fremde Hirnfick nach 50 Minuten vorbei, denn Chris Neuburger bricht mit der zweieinhalbminütigen, simplen Pianoballade „Holy End“ ein Loch in die Abwärtsspirale des menschlichen Verfalls und bringt zum Abschluss noch einmal die kleinsten großen Wünsche auf den Punkt: „When all the money is spent and all the goods are used up / Would you carry me back to my mother’s hands? / When the fighting is over and the races run out / Please carry me back to my father’s land / Holy end“. Amen.
Natürlich hätten es sich Slut nach fünfjähriger Abstinenz in den Plattenregalen um einiges einfacher machen können, hätten allen Freunden des tollen, 2008 erschienenen Vorgängers „StillNo1“ erneut 10+x breitbeinig und selbstbewusst auftretende und mit kleinen elektronischen Ingredienzien versetzte Stücke liefern können. Doch wer Slut kennt und schätzt, der weiß natürlich: Dieser Weg war bislang nie der der bayrischen Band. Und so stellen sich Chris Neuburger, Rainer Schaller, Gerd Rosenacker, Matthias Neuburger und René Arbeithuber ebenso vor eine Aufgabe wie den Hörer und schaffen mit „Alienation“ ein Album, das bewusst keinerlei Wohlfühloasen und wenig Ruheplätze bietet. Dabei nehmen Slut wohl bewusst in Kauf, anzuecken und auf wenig Gegenliebe zu stoßen. Dass sich Berichte, Artikel und Rezensionen über die Band und ihr Schaffen mittlerweile eher im Feuilleton als in den einschlägigen Rockmusikmagazinen finden lassen? Ein beinahe haltloser Vorwurf, den man so jedoch auch auf Radiohead ummünzen könnte. Freilich steckt „Alienation“ bewusst voller kühler Kanten und Brüche. Und auch wenn mit „Next Big Thing“ und „Remote Controlled“ lediglich zwei Stücke an den halbwegs straighten Indierock vergangener Großtaten erinnern, so merkt man Album Nummer sieben an vielen Stellen das investierte Herzblut, die überbordende Kreativität und die ehrlichen Mühen an. Und auch wenn Band-Freundin Juli Zeh im begleitenden Pressetext etwas verschwenderisch mit Superlativen um sich wirft, so hat sie doch mit einem Satz verdammt recht: „Slut haben noch nie in der zwanzigjährigen Bandgeschichte Mist produziert.“ Ob Slut sich mit „Alienation“ einen Gefallen getan oder Bärendienst erwiesen haben? Die Zeit wird’s zeigen… Doch bei aller Rat- und Rastlosigkeit bleibt mir die Freude, dass diese Band zurück ist – und bei allen Fragezeichen nie relevanter und nie näher am Nerv der Zeit war. Und es bleiben mir die Erinnerungen an jenen endlos warmen Sommer im Jahr 2001, als die Ränder noch voller Farbe und die Herzen nur zum Brechen da waren… Willkommen in zurück, im kalten Hier und Jetzt – der nostalgische, gefühlt alte Sack in mir legt zwei Sympathiepunkte obendrauf. Passt schon.
Das erwähnte Musikvideo zu zwölf Jahre jungen Nostalgie-Evergreen „Welcome 2“ gibt’s hier…
…ebenso wie die bewegten Bilder zu „If I Had A Heart“…
…und „Tomorrow Will Be Mine“ (beide von „StillNo1“)…
…sowie das Musikideo zur aktuellen Single „Next Big Thing“…
…und eine Studiodoku zur Entstehung des Albums:
Rock and Roll.