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Klassiker des Tages: Television – „Marquee Moon“


An kaum einer anderen Stadt lassen sich die Entwicklungen und Umbrüche der Musik des 20. Jahrhunderts so genau verfolgen wie in New York City. Sei es Harlems Jazz-Szene der 1920er Jahre, die Duke Ellington und den Cotton Club hervorbringt, oder Charlie Parkers Aufstieg zum Dauergast der Clubs in Midtown Manhattan. Es lässt sich nicht über die Geburt von Hip Hop sprechen (respektive schreiben), ohne DJ Kool Hercs Partys in der West Bronx zu erwähnen. Im Westen Manhattans prägt das Greenwich Village in den Sechzigern das Folk Revival mit Bob Dylan und Joan Baez ebenso wie das East Village den Anti-Folk rund um die Moldy Peaches Anfang des neuen Jahrtausends.

Die Namen der Cafés und Clubs, aber auch die Häuserschluchten und Hinterhöfe präg(t)en die Gesichter dieser Szenen. Sie sind gleichermaßen Requisiten wie Akteure in der popkulturellen Erinnerungsarbeit. Im Falle New York Citys, das in seinen vergleichsweise jungen 600 Jahren Stadtgeschichte nicht eben wenig Historisches erlebt hat, lässt sich so Musikgeschichte auf geografischer Ebene erkunden, wenngleich die Verbindung von Orten und Musik eher ungeplant verläuft und mitunter ganz profane Gründe haben kann.

Ende der Sechzigerjahre steigen die Mieten im East Village, das zu dieser Zeit stark von der Kunst- und Musikszene rund um Andy Warhols Factory geprägt wird. Das Problem ist heute kein anderes: Gentrifizierung, denn nach Leerstand kommt Kunst und nach Kunst der schnöde Mammon. Aber gerade diese Szene zwischen The Velvet Undergrounds Heroin-Chic und dem grellen Drag des nach New York schwappenden Glam Rock übt eine verständlicherweise große Faszination auf die US-amerikanische Jugend aus.

So landen um 1970 herum zwei Privatschüler aus Delaware im Big Apple – genauer gesagt in der Bowery im verrufenen Südosten Manhattans. Hier sind die Mieten so günstig wie die Kriminalitätsrate hoch ist. Es gibt genügend Freiräume für junge Dichter wie Richard Lester Meyers und Thomas Miller, die sich bald Richard Hell und Tom Verlaine rufen lassen. Zusammen starten sie 1972 das Musikprojekt The Neon Boys, aus dem ein Jahr später das von Gitarrist Richard Lloyd und Schlagzeuger Billy Ficca komplettierte Quartett Television hervorgeht.

Als eine der ersten Bands finden Television den Weg ins CBGBs. Ebenfalls in der Bowery gelegen, wird der gerade gegründete Club schnell zum Epizentrum einer neuen Szene, an deren Speerspitze Television neben Blondie, der Patti Smith Group und den Ramones stehen. Aus verschiedenen Richtungen finden diese Bands zum rohen Sound des Punk Rock, der die zweite Hälfte der Siebziger dominiert.

Television lassen sich dabei vor allem von den 13th Floor Elevators, Lou Reed oder dem Jazz-Saxofonisten Albert Ayler inspirieren. Bereits 1974, drei Jahre vor der Veröffentlichung ihres Debüts, entstehen die meisten Songs in einer Demo-Session mit Roxy Music-Mitbegründer Brian Eno. Tom Verlaine missfällt jedoch der kühle Sound der Aufnahmen, daher lehnt der Band-Kopf viele Angebote von Labels ab, die ihm nicht die Oberhand in der Produktion zusichern.

Auch innerhalb der Band kommt es schnell zu Reibereien, driften die Pole Hell und Verlaine auseinander. Letzterer fokussiert sich immer stärker auf einen professionellen Sound, während Bassist Richard Hell auf und abseits der Bühne einen wilden, unkontrollierten Stil pflegt. Mit struppigen Haaren und Sicherheitsnadeln in Hose und Lederjacke soll er Malcolm McLaren, dem legendären Musikmanager hinter den Sex Pistols, als Vorbild für die britische Version der Szene gedient haben. Letztlich kommt es 1975 zum Bruch zwischen den Jugendfreunden, Hell verlässt die Band und gründet bereits eine Woche später mit New York Dolls-Gitarrist Johnny Thunders die Band The Heartbreakers. Er wird von Ex-Blondie-Bassist Fred Smith ersetzt.

Anfang 1977 bringt schließlich Elektra Records das Television-Debüt „Marquee Moon“ heraus. Im „goldenen Jahr des Punk“ wirkt das Album gleichsam deplatziert und doch voll am wilden Puls der Zeit. Ein Widerspruch? Mitnichten, denn „Marquee Moon“ skizziert wie kein anderes Album das New York der frühen Siebziger: Städtisches Elend und der Hedonismus einer jungen, drogenbefeuerten Szene bieten die Grundstruktur der Platte, direkt verkörpert von Verlaines einzigartiger, an Lou Reed erinnernder Stimme. Sie ergießt sich in einem kränklichen Nölen über die Songs, seltener schwingt sie dann in ein fast schon selbstgefälliges Lallen um.

Dagegen steht die untypische Versiertheit der Musiker. Wechselseitig ergänzen sich beide Gitarren, indem sie nacheinander in die Leerstellen der Rhythmen kriechen und die Tonleitern auf und ab klettern, ohne dabei die Eingängigkeit ihrer Melodien aus den Augen zu verlieren. Tom Verlaine und Richard Lloyd fügen sich an den Gitarren ganz nach Jazz-Manier ein oder setzen Kontrapunkte zum Rest der Band. Ebenso lässt sich die Neigung zum Jazz in Billy Ficcas leichthändigem Schlagzeugspiel finden.

Aller Versiertheit zum Trotz landen Television dabei keineswegs in der Improvisations-Sackgasse, auch nicht im zehnminütigen Titelsong des Albums. Wie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ein „Rolling Stone“-Kritiker anmerkt, flirten sie nur mit der Formlosigkeit, während sich die eingängigen Riffs in den Hinterkopf meißeln.

Auf textlicher Ebene führt „Marquee Moon“ auf eine Reise durch ebenjene hedonistische Szene und ihre großstädtische Moloch-Bühne. Verlaines assoziative Lyrik orientiert sich an Rimbaud und Ginsberg, atmet aber gleichzeitig den Muff der dreckigen Straßen. Das Album lässt sich voll und ganz als existenzialistischer Trip durch das nächtliche New York lesen. Den überschwänglichen Riffs des Openers „See No Evil“ dichtet Verlaine die Zeilen „Cuz what I want / I want now / It’s a lot more / Than ‘anyhow‘“ an. In Verbindung mit dem psychedelischen Garage-Sound des Songs baut sich eine Art Freitagabend-Hymne auf, welche im Slogan „Pull down the future with the one you love“ mündet.

„Venus“ erzählt von einem Drogentrip, der den glitzernden Broadway auf surreale Weise verzerrt. Verlaines Alter Ego stolpert herum, verkleidet sich mit seinem Freund Richie (Hell) als Polizist und fällt der armlosen antiken Statue Venus von Milo in die Arme. Kopfüber im Blues getränkte Paranoia begegnet einem in „Friction“, das in jene dunkle Gassen führt, die den Heroin-Opfern gehören: „It’s just a little bit back from the main road / Where the silence spreads and men dig holes.“

Höhepunkt des Albums wie auch des Drogentrips ist zweifellos der Titeltrack „Marquee Moon“. Stoisch wühlen sich Gitarrenriff und Basslauf über zehn Minuten lang durch den Song, während Verlaine ihn von allen Seiten mit Soli garniert und Ficcas Schlagzeug diesem Dekor wie einbetoniert entgegensteht. Verlaines Erzähler hingegen steht still, als der Trip abschwächt und sich existenzielle Ängste vor Leben und Tod einstellen.

Folgerichtigerweise prägen „Elevation“ und „Prove It“ die zweite Hälfte mit einer Art rotziger Verzweiflung. Das lyrische Ich schläft am Ufer des East River ein und wacht schließlich, von den Wellen geweckt, dort auf. Trotz des musikalischen Optimismus‘, den auch „Guiding Light“ verströmt, sind in „Prove It“ die grellbunten Klamotten der letzten Nacht im Tageslicht nur noch grau: „Now the rose / It slows / You in such colorless clothes / Fantastic! You lose your sense of human„.

Schließlich legt sich ein zerrissener Vorhang über das surreale Schauspiel der Nacht. „Torn Curtain“ stellt weniger einen Epilog als vielmehr einen Trauermarsch dar. Seltsam eingängig kriecht das fast siebenminütige Stück entlang, während Verlaines Gitarre jaulend gegen die vorbeiziehenden Jahre ankämpft. „Tears…rolling back the years / Years … flowing by like tears.“ Nächte und Drogentrips wiederholen sich, aber das miese Gefühl bleibt bestehen.

Die Selbstbeschreibung einer Szene endet mit einem pessimistischen Urteil – und doch feiert „Marquee Moon“ sich selbst. Perspektivlosigkeit wandelt sich zu Hedonismus, Glücksgefühl zu Horrortrip. Television besingen ein halbes Jahrzehnt in der Bowery, im CBGBs, in verfallenen Häusern und dunklen Gassen. Ihr Debüt-Langspieler kondensiert all das in eine bunte Nacht und einen grauen Morgen in New York City.

Tom Verlaines Assoziationen zu Orten und Gefühlen einer Szene bleiben über die Jahre bestehen. Sie lassen sich in seinen Songs zurückverfolgen wie die Musikgeschichte anhand des Stadtplans von New York City. Das kann nicht einmal eine schicke Herrenboutique im alten CBGBs-Gebäude ändern. Denn mittlerweile ist die Bowery längst gentrifiziert worden. Aber in den Fotos von Robert Mapplethorpe und Chris Stein, den frühen Filmen von Jim Jarmusch und Amos Poe oder eben in „Marquee Moon“ und dem im selben Jahr von Richard Hell veröffentlichten Album „Blank Generation“ stechen diese Assoziationen einer Szene weiter deutlich hervor.

Wenngleich Televisions Debütalbum vor allem in Großbritannien auf Resonanz bei Publikum und Kritikern stößt, bleibt es seinerzeit ein kommerzieller Misserfolg. Dennoch gilt das Werk heute als Klassiker der Rockmusik und ist in zahlreichen Bestenlisten auf vorderen Rängen vertreten, etwa belegt es Platz 107 der 500 besten Alben aller Zeiten des „Rolling Stone“. Im April 1978 folgt „Adventure„, das trotz guter Kritiken nicht aus dem Schatten des wegweisenden Vorgängers heraus kommt. Kurz darauf löst sich die Band aufgrund musikalischer Differenzen und Richard Lloyds vermeintlicher Drogensucht auf. Die Mitglieder verfolgen Solokarrieren, wobei sowohl Verlaine als auch Lloyd Soloalben veröffentlichen. 1992, 14 Jahre nach ihrer Trennung, nimmt die Band noch einmal ein neues, simpel „Television“ betiteltes Album auf, welches zwar erneut weitgehend wohlwollend bewertet wird, kommerziell jedoch wenig Erfolg hat, und geht ab 2001 wieder regelmäßig auf Tournee. Am 23. Januar 2023 stirbt Tom Verlaine nach kurzer Krankheit im Alter von 73 Jahren in Manhattan. Damit dürften Television wohl endgültig (Rock-)Geschichte sein, ihr Einfluss, welcher sich bei kaum weniger bekannten Musikheroen wie The Police oder U2 ebenso hörbar bemerkbar macht wie bei jüngeren Gitarrenrockbands wie etwa den Strokes, bleibt unumstritten groß.

Rock and Roll.

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Zu kurz gekommen – Teil 15


„Die Ramones gehören zu den wichtigsten Bands aller Zeiten. Für einige sind sie sogar die Schöpfer dessen, was man bald nach ihrer Gründung ‚Punk‘ nannte“, wie der „Rolling Stone“ schreibt. Daher ist es auch kaum verwunderlich, dass es im Laufe der Zeit so einige Tributes an die großen Ramones gab. Etwa jene, die am 11. Februar 2003 erschien – und mit einem außergewöhnlichen Staraufgebot überraschte. Zudem gehört die Cover-Compilation „We’re A Happy Family: A Tribute to Ramones“ zu den letzten Amtshandlungen von Gitarrist und Bandkopf Johnny Ramone.

Die Ramones sind bereits Geschichte, als die Idee eines Tribute-Albums an Johnny Ramone herangetragen wird. Im August 1996 hatte sich die 1974 in New York City gegründete Band mit einer Show in Hollywood aufgelöst, am 15. April 2001 war Sänger Joey Ramone verstorben. Johnny sagte seine Beteiligung an der Compilation unter einer Bedingung zu: Er wollte volle Kontrolle und das letzte Wort. Das sollte sich auszahlen, denn als Punk-Rock-Ikone hat man schließlich so ziemlich alle wichtigen Telefonnummern: „Ich habe ihnen gesagt, dass ich Eddie Vedder kriegen kann“, erklärt der Gitarrist später. „Und dass ich Rob Zombie bekommen kann, die Chili Peppers, Marilyn Manson und Metallica.“ Und so kommt es auch: Im Februar 2003 erscheint „We’re A Happy Family: A Tribute to Ramones“ mit prominenter Besetzung. Mit dabei sind neben den Genannten U2, Green Day, Garbage, The Offspring, Tom Waits, The Pretenders, Rancid, Pete Yorn und sogar Kiss.

Vorher hatte Johnny allen Bands nahegelegt, die Songs so anzugehen, als hätten sie sie selber geschrieben. Das funktioniert unterschiedlich gut: Rob Zombies Variante von „Blitzkrieg Bop“ und Marilyn Mansons „The KKK Took My Baby Away“ bekommen einen bizarren Industrial-Anstrich, „Do You Remember Rock’n’Roll Radio?“ klingt dank Kiss plötzlich nach großer Stadionshow. Green Day hingegen hauen „Outsider“ so raus, wie man es von ihnen gewohnt ist. Die Peppers-Version von „Havana Affair“ soll Johnny Ramone so gut gefallen haben, dass er sie deshalb an den Anfang der Platte setzte, während er „Something To Believe In“ nach eigenen Aussagen erst in der luftigen Aufnahme der Pretenders so richtig möchte. Auf einigen Editionen der Platte gibt es sogar einen versteckten Track: „Today Your Love, Tomorrow The World“ von Ex-und-jetzt-wieder-Chili-Peppers-Gitarrist John Frusciante.

Doch nicht alle Ideen und losen Pläne gehen auf: Für den Song „Here Today, Gone Tomorrow“ etwa hatte der Ramones-Chef ursprünglich Elvis‘ unlängst verstorbene Tochter Lisa Marie Presley eingeplant, auf der Platte landet jedoch eine Version von Rooney. (Frau Presley nimmt das Stück später für ihr eigenes Album „Now What“ auf.) Sogar den „Boss“ höchstselbst wollte Johnny für das Projekt gewinnen, doch leider fällt diese Anfrage ins Wasser, ohne dass er einen Grund dafür erfährt. „Wenn man versucht, an jemanden über sein Management ranzukommen, dann hört man nie genau, was los ist“, kommentiert der Ur-Ramone in einem Interview auf der Band-Homepage. „Später trifft man den Künstler dann, und der hat nie etwas von der Sache mitbekommen.“

Die Ramones live in Toronto, 1976 (Foto: Plismo)

Als Co-Produzent agiert Rob Zombie, er zeichnet auch das fein anzusehende Cover. Der Mann – immerhin selbst Musiker, Regisseur und Kreativling in Personalunion – ist, wie alle, die ihre Beiträge beisteuern, freilich erklärter Fan: „Die Ramones sind die beste amerikanische Band. Was sie gemacht haben, ist so simpel, so reduziert und so auf den Punkt, dass man damit nichts falsch machen kann.“ Die Liner Notes schreibt ebenfalls ein berühmter Fan: Horrorikone Stephen King.

Leider sollte dieses durch und durch gelungene Tribute eine der letzten „Amtshandlungen“ von Johnny Ramone sein: Anderthalb Jahre später verstirbt der stilprägende Gitarrist mit nur 55 Jahren an Prostatakrebs. Der Einfluss seiner Band auf Rock und Punk, wie wir sie kennen, bleibt jedoch unvergessen. Das zeigt sich auch darin, dass die beteiligten Bands und Künstler*innen die Ramones-Songs bis heute immer wieder gern live spielen.

Rock and Roll.

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Song des Tages: The Natural Lines – „Monotony“


Foto: Promo / Jesse Dufault

Mit “Monotony” kündigen The Natural Lines ihr selbstbetiteltes, im kommenden März erscheinendes Debütalbum an. Die US-amerikanische Indie-Rock-Band um Frontmann Matt Pond, der vorher (und das bereits seit Ende der Neunziger) vor allem als Matt Pond PA auftrat, veröffentlichte im Oktober mit der “First Five EP” bereits ein erstes musikalisches Lebenszeichen und startet mit „Monotony“ eine Art Neuanfang, der sich in knackig-kurzen zwei Minuten durch Einflüsse aus dem Folk manifestiert und obendrein mit einem gewissen Hang zur schwelgerischen Hymnik gesegnet ist. Zudem hat sich das Quintett aus New York für das dazugehörige Musikvideo (zumindest wohl für US-Begriffe) prominente Unterstützung besorgt, denn in selbigem gastiert Stand-up-Comedienne Nikki Glaser als Therapeutin von Matt Pond.

„In den letzten Jahren habe ich versucht, mich auf meine Atmung zu konzentrieren – um eine bessere Sänger zu werden und um ein besserer Mensch zu sein. Aber es ist schwer, still zu sitzen und langsamer zu werden, wenn die Welt um einen herum so unruhig zu sein scheint. ‚Monotony‘ ist daher eine Hymne über den täglichen Drahtseilakt, die Suche nach dem richtigen Weg zwischen Leidenschaft und Apathie. Die ganze Zeit über habe ich mit Nikki Glaser gearbeitet. Ihre Unerschrockenheit ist ansteckend. Da sie nie zögert, mir zu sagen, was sie wirklich denkt, hielt ich es für sinnvoll, dass Nikki in dem Video meine Therapeutin darstellt.“ (Matt Pond)

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Pale – The Night, The Dawn And What Remains (2022)

-erschienen bei Grand Hotel van Cleef/The Orchard/Indigo-

Eine halbwegs passende Klammer für ein paar Zeilen über Musik zu finden, stellt für so ziemlich jeden mittelbegabten Schreiber oft genug eine verdammte Krux dar. Bei einem Album wie diesem jedoch fällt der Aufhänger leicht – und zugleich wiegt er schwer, bleischwer. Denn „The Night, The Dawn And What Remains“ markiert mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den endgültigen Abschied von Pale. Klar, neue Songs, dazu unverhoffte, weil ausgegrabene und neu arrangierte Stücke aus der absoluten Frühphase der Aachener Herzensindierockband dürften unter „normalen“ Umständen eigentlich ausreichend Gründe zum inneren Sackhüpfen bedeuten. Doch wie sang bereits John Lennon in „Beautiful Boy (Darling Boy)“ einst so trefflich: “ Life is what happens to you / While you’re busy making other plans.“ Wie es meistens so ist, wenn das Leben und seine unvorhersehbaren Wellen nach oben, unten und kopfüber mit einem eine wilde Achterbahnfahrt unternehmen: Es liegt in einem dunklen Schicksalsschlag begründet, dass Pale sich noch einmal musikalisch wiederfanden. Sogar einem doppelten.

Denn längst war Schluss, eigentlich schon im Jahr 2009. Im Spätsommer 2012, nach sechs Alben und immerhin zwanzig gemeinsamen Jahren, schmiss die Band eine letzte große, Konzert gewordene Abschiedsparty auf der heimischen Burg Wilhelmstein – mit einer Coverversion des Oasis-Gassenhauers „Don’t Look Back In Anger“ als finaler Zugabe (bei der auch die Kilians und ein gewisser Thees Uhlmann mit auf der Bühne standen). Schöner und emotionaler (ein Konzertbesucher gibt wenig später zu Protokoll, dass er „alte Männer weinen gesehen“ habe) – und irgendwie auch passender – konnte es definitiv nicht mehr werden, daher gingen alle Bandmitglieder fortan ihrer Wege. Bis das olle Leben sich einige Jahre später von seiner besonders arschlochigen Seite zeigt: Im November 2019 erhalten sowohl Gitarrist Christian Dang-anh als auch Schlagzeuger Stephan Kochs von ihren Ärzten Diagnosen, die keinen Spielraum bieten. Es ist sehr ernst. Über den Schock der Vergänglichkeit findet das Quartett tolle Erinnerungen und damit die gemeinsame Liebe zur Musik wieder. Bassist Philipp Breuer, eigentlich 1996 bereits ausgestiegen, schleppt das allererste Demo aus den frühen Neunzigern an und schlägt vor: „Da könnte man doch nochmal ran!“ – es soll der erste Funke sein, das Leben als Band ein letztes gottverdammtes Mal zu feiern. Schlagzeuger Stephan Kochs muss jedoch umgehend passen, sein Kampf ums Überleben lässt die Pläne nicht zu. Und Christian Dang-anh ist an den letzten Songs zwar noch beteiligt (und auch auf dem neuen Album zu hören), erliegt jedoch im Mai 2021 dem Krebs.

Uff. Einmal tief schlucken und die Gänsehaut Gänsehaut sein lassen. Denn es gibt auch etwas Schönes: die Musik. Denn trotz und wegen alledem erscheint nun „The Night, The Dawn And What Remains“ (passenderweise, ebenso wie das bislang letzte, 2006 veröffentlichte „Brother. Sister. Bores!„, beim von Thees Uhlmann mitbegründeten Grand Hotel Van Cleef) – und bringt einen gleichermaßen zum Tanzen, Hüpfen und Schwelgen, denn The Pale Four, wie sich die Aachener selbst bezeichnen, klingen frisch wie vor zwei Dekaden zu Zeiten eines „How To Survive Chance„. Während dem sich langsam auftürmenden, störrisch-euphorischen Opener „Wherever You Will Go“ noch die Worte fehlen, packt bereits „Tonight (We Can Be Everything)“ mit seiner Mixtur aus Indie Rock und leichtem Emo-Scheitel beide Arme an die Hüften und positioniert einen dieser melodieverliebten Pale-Refrains im Nacken, den man glücklicherweise nur schwer wieder los wird. Das knackige und zugleich opulent arrangierte „New York“ holt mit Thorsten Skringers Saxofon (das später noch einmal in „Still You Feel“ zu hören ist) und Glöckchen zur großen Pop-Geste aus, die ebenso auf den Tomte’schen Song selben Titels schielt wie zu Bruce Springsteen und seiner E Street Band. Einen Widerspruch stellt das keineswegs dar, denn auch im hymnischen Schönklang waren Pale immer schon zu Hause. Dementsprechend kommt auch „All The Good Good Things“ als einer dieser feinen, ebenso treibenden wie forsch-fluffigen Aufbruchsstimmungssongs ums Eck, wie die Aachener Band sie kurz nach der Jahrtausendwende nahezu reihenweise aus den Ärmeln schüttelte.

Die Perlen des mit knapp 33 Minuten zwar recht knackig-kurzen, jedoch keinesfalls an Highlights armen Albums sind freilich schnell ausgemacht: Zum einen „Bigger Than Life“, der berührende Abschied von Christian Dang-anh, welcher hier die A-Seite beschließt. Typischerweise greifen Pale nicht zur traurigen Ballade, sondern zu einem vor hibbelig flirrenden Gitarren, Klavier und Bläsern pulsierenden, berührenden Popsong, der das Leben mitsamt all seiner Facetten feiert, die Wehmut herunterschluckt und mit trotzigem Optimismus von der Reise ins Unbekannte erzählt: „You go where nobody knows“, singt Holger Kochs. Und man selbst merkt, wie die Gänsehaut eine wohlige Träne ins Knopfloch treibt. Zum anderen das daran anschließende „Man Of 20 Lives“, ein Stück von Holger für Stephan, quasi vom jüngeren für den älteren der Kochs-Brüder. Überhaupt: Holger Kochs‘ Stimme klingt nicht nur hier noch immer fantastisch und ganz und gar nicht, als würde sich hier jemand unverhofft aus der Indierocker-Rente zurückmelden. Kaum weniger toll geraten auch „500 Songs“, bei dem Pale stimmliche Unterstützung von Saskia Pasing bekommen und dessen Gesangmelodie stellenweise frappierend an Thees Uhlmanns „Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf“ erinnert, oder die fast schon obligatorische Klavierballade „Wake Up!“.

Diese Platte wirkt (und wirkt nach!), auch weil die zehn Indie-Perlen vor Gefasstheit, Gelassenheit und auch vor Freude nur so sprühen – „Don’t Look Back In Anger“ eben. Da passt es perfekt, dass der positive Rausschmeißer „Someday You Will Know“ (übrigens mit Steve Norman von Spandau Ballet am Saxofon) die Geschichte der Band in wenigen Strophen herunterbricht und final nochmals zu nassen Wangen animiert: „It’s the last song of a band / That already played its final show / But we were in this together“. Und nun fühlt der Schreiber sich dazu bewegt, diese im Grunde ja recht abgestandenen Worte zu entstauben, die er sonst im kreativen Regal lassen würde, eben weil sie hier trefflich passen: Musik verbindet. Auf ewig. Und Pale, die mit dieser Ehrenrunde titels „The Night, The Dawn And What Remains“ hier einen paar letzte Oden auf das Leben, auf die Freundschaft abliefern und damit ihr musikalisches Vermächtnis noch einmal unverhofft abrunden, werden nach einer allerletzten Show im kommenden Jahr verdammt nochmal fehlen… Ein freudiger Jammer, das Ganze.

„Pale waren nie eine Band, die übermäßig vielen etwas bedeutet hat. Aber denen, die Pale etwas bedeutet haben, haben sie richtig viel bedeutet. Und jetzt noch etwas mehr.“ (aus dem Pressetext)

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Yeah Yeah Yeahs – Cool It Down (2022)

-erschienen bei Secretly Canadian/Cargo-

Karen O steht auf der Bühne und spuckt eine Fontäne aus Bier in die Luft. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet dieses Bild das Cover von „Meet Me In The Bathroom“ ziert, Lizzy Goodmans Buch über das New Yorker Rock-Revival zu Beginn der Nullerjahre – und damit die Yeah-Yeah-Yeahs-Frontfrau zur Gallionsfigur dieser Szene erklärt. Neben all den Strokes‘, Interpols und LCD Soundsystems war Karen Orzoleks Band vielleicht nie die beste, aber zumeist die faszinierendste und ungreifbarste. Ein Art-Punk-Trio mit einem provokanten, nimmermüden Derwisch als Sängerin, deren bis heute größter Song – aller offensiven Attitüde zum Trotz – ein zärtliches Liebeslied namens „Maps“ ist. Nicht nur aufgrund dieses famosen Widerspruchs waren Karen O und ihre Yeah Yeah Yeahs seinerzeit ein spannendes Ereignis, schließlich klang die gebürtige Südkoreanerin und gelernte New Yorkerin damals, vor zwanzig Jahren, als klebe sie den Lederjackenjungs der Strokes-Generation, deren Post-Punk-Revival, der Einfachheit halber, auch ihre eigene Band zugerechnet wurde, Kaugummi in die sorgsam zurechtgelegten Schüttelfrisuren: wild und unwahrscheinlich, simpel und roh im Sinne des großstädtischen Zeitgeists – und eben doch verdammt eigen. Der wohlmöglich größte Unterschied zu vielen ihrer Revival-Kolleg*innen war, dass sich durch all die stilistischen Hakenschläge nie eine gerade Erblinie entlang zu The Velvet Underground, den Talking Heads, Joy Division oder wem auch immer zurückführen ließ. Zwei Dekaden sind seit dieser bewegten Zeit an der amerikanischen Ostküste vergangen und trotz einer kleinen Auszeit, welche vor allem Karen O dazu nutzte, um ihre Kreativität eher in andere Projekte (etwa ein Soloalbum oder ein gemeinsames Projekt mit Alles-Produzent Danger Mouse) zu lenken, sind die Yeah Yeah Yeahs nicht nur weiterhin aktiv, sondern noch immer künstlerisch relevant. Weil nach wie vor keines ihrer Alben wie das andere tönt, weil sie immer wieder aus einem neuen Kokon schlüpfen, ohne ihre alte Seele zurückzulassen.

Eine Wandelbarkeit, die gerade ob der personellen Konstanz dahinter überrascht: Nicht nur haben es Karen Orzolek, Nick Zinner und Brian Chase über zwei Jahrzehnte miteinander ausgehalten, auch hinter den Reglern sitzt für „Cool It Down“ wieder TV On The Radios Dave Sitek, wie bei allen vier Platten zuvor. Das nahezu pure Elektro-Pop-Soundbild der neuen Platte erinnert dabei am ehesten an das dritte, 2009 erschienene Album „It’s Blitz!„, zielt jedoch nicht mehr auf die Tanzfläche, sondern lässt Synth-Gletscher im Majestätstempo über den Boden schleifen. Der Opener „Spitting Off The Edge Of The World“ nutzt zusätzlichen Gesang von Mike Hadreas (alias Perfume Genius), breitwandige Synthiemelodien zwischen M83, Velvet Underground und Twin Shadow und einen um den Globus hallenden Beat, um erst seinem Titel gerecht zu werden und dann vom Weltrand aus ins All zu schießen. „Mama, what have you done? / I trace your steps / In the darkness of one / Am I what’s left?“, fragt Orzolek, und es ist gleichzeitig eine Anklage an die ältere Generation im Angesicht der Klimakrise als auch das völlig zeit- und raumlose Zweifeln einer Verlorenen. „Lovebomb“ erstarrt unter tiefem Ein- und Ausatmen zur Ambient-Skulptur, bevor die Frau mit der immer noch so unheimlich einnehmenden Stimme im famosen „Wolf“ ihren Kate-Bush-Moment feiert: ein absolut erhabenes Stück Musik, das zunächst bei Abba entliehene Leuchtsignale durch einen verschneiten Wald aus mammutbaumhohen Synth-Streichern schickt, nur um dann abrupt zu enden.

An dieser Stelle beginnt der lebendigere Mittelteil eines ansonsten außergewöhnlich ruhigen – und mit lediglich acht Songs in einer guten halben Stunde recht kompakten – Albums. Unter einem Club-Piano-Loop und griffigen Hooks beschwört „Burning“ Feuer, Rauch und Kometen – die Klimakrise rückt hier oftmals ins Zentrum der neuen Stücke, und dass diese Welt so einige Brandherde aufweist, beweist nicht nur das ausdrucksstarke Cover-Foto. Doch „Cool It Down“ kann’s nicht nur gesellschaftskritisch und verbreitet gleichsam, zwischen all der Hilflosigkeit und dem Zorn, auch Gefühle von Aufbruch, Neubeginn und Optimismus: „Different Today“ macht in etwa da weiter, wo die Band vor 16 Jahren mit „Turn Into“ schon einmal war. „That’s where we dance to ESG“, erklärt das ausgelassene „Fleez“, welches sich als durch die Kunsthalle groovender Funk-Post-Punk-Hybrid auch akustisch vor den Legenden aus der South Bronx verneigt. Warum es solche Auflockerungen hier nicht noch häufiger gibt, ist wohlmöglich einer der wenigen Vorwürfe, die sich das Album auf hohem Niveau gefallen lassen muss. Dennoch kauft man den Yeah Yeah Yeahs noch immer nahezu alles ab: Sie bilden weiterhin das Totem einer gleichzeitigen Unnahbarkeit und Aufrichtigkeit, wirken wie freundliche Aliens, die sich kaum in Schubladen stecken lassen, bei denen man aber auch nie Angst haben muss, in fiese, ironische Stolperfallen gelockt zu werden. Die Albernheit war dem Dreiergespann schon immer ernst, weswegen es trotz aller musikalischen Hochklasse etwas irritiert, wenn diesem frostig-humorlosen Art Pop eine solche fehlt. Doch wenn im finalen „Mars“ das Eis taut und Orzolek eine zweiminütige geflüsterte Gute-Nacht-Geschichte für ihren kleinen Sohn vorträgt, wissen wir: die Yeah Yeah Yeahs sind auch deshalb noch eine der relevantesten Bands ihrer Indie-Generation, weil sie sich nicht vollends gegen das Erwachsenwerden wehren – auch wenn das beste Midlife-Crisis-Alter und die Tatsache, dass sich die 43-jährige Musikerin 2009 für den Soundtrack zu Spike Jonzes Verfilmung des Anti-Erwachsenwerden-Kinderbuchs „Where The Wild Things Are“ (dt. „Wo die wilden Kerle wohnen“) verantwortlich zeichnete, etwas anderes vermuten lassen.

Das Leben ist endlich und alle Wesen sind nichts als Sternenstaub – wenn die kurzweilig geratene Platte, der man neun Jahre nach dem letzten Langspieler „Mosquito“ durchaus das „Comeback“-Label anheften darf, mit solchen Nachtgedanken ihr Ende findet, fragt man sich schon, ob man es da mit einer halbstündigen Stippvisite zu tun hatte oder mit einem Aperitif. Immerhin: „Weniger Drama als bei dieser Platte gab es nie im Studio“, sagt Karen O. „Im Gegenteil: Das Studio war sogar eher eine Zuflucht vor all dem Drama da draußen.“ Das Drama da draußen, es dürfte auf absehbare Zeit kaum weniger werden, und weil die Band in solchen Zeiten scheinbar am besten funktioniert, wären weitere Aufnahmen sicher nicht abwegig. Vielleicht sogar welche mit etwas mehr Feuer unterm Hintern, schließlich glänzt der Punk der frühen Jahre vor allem durch eines: Abwesenheit. Andererseits: druff jeschissen! Oder wie Karen O es selbst ausdrückt: „Cool zu sein war mir immer wichtig. Außer in der Liebe.“

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Kevin Devine – Nothing’s Real, So Nothing’s Wrong (2022)

-erschienen bei Triple Crown/Membran-

Regelmäßige Leser von ANEWFRIEND wissen es freilich: Kevin Devine ist seit Jahr und Tag ein regelmäßiger Gast auf diesem bescheidenen Blog, wannimmer es von neuen Tönen aus der Feder des kreativen 42-jährigen Singer/Songwriters aus Brooklyn zu berichten gibt.

Für alle anderen als kleiner Service hier noch einmal (s)ein Indie-Rock-Werdegang im Schnellabriss: Devines Karriere begann in den frühen Nullerjahren mit der Emo-Indie-Rock-Band Miracle of 86. Anschließend veröffentlichte er erste Soloalben, tourte mit seinem ständig wechselnden Backing-Kollektiv The Goddamn Band (welche ihrerseits unter anderem aus ehemaligen Mitgliedern von Miracle Of 86 besteht) und gründete mit Manchester Orchestra-Frontmann Andy Hull zudem das Projekt Bad Books. Neben seiner Solokarriere, welche zuletzt, 2016, die Alben “Instigator” sowie “We Are Who We’ve Always Been” (das 2017 erschien und Akustik-Versionen der “Instigator”-Songs beinhaltete) hervorbrachte, war Kevin Devine, der sich zudem auch politisch engagiert und oft genug Wort gegen soziale Missstände ergreift, auch Tourmusiker in zahlreichen anderen Bands und tourte weltweit, sowohl solo als auch mit befreundeten Bands und Musker*innen wie Frightened Rabbit, John K. Samson oder Julien Baker. Neuerdings beschritt der US-Musiker außerdem neue digitale Wege und bietet seinen treuesten Fans via Patreon exklusiven Content sowie Livestream-Shows (in welchen er etwa auch seinem Idol Elliott Smith die Ehre erwies).

Foto: Erik Tanner

Ja, auch ohne eigene „vollwertige“ Albumveröffentlichung hatte Kevin Devine in den letzten Jahren alle Hände voll zu tun. Wer da nicht versuchte, beständig am Ball zu bleiben, der konnte anhand des enormen Outputs des New Yorker Musikers (zu dem in der Vergangenheit außerdem ein Aus-Spaß-an-der-Freude-Komplettcover des Nirvana-Meilensteins „Nevermind“ zählte) schonmal den Überblick verlieren. Dass es nun doch ganze fünf Jahre gedauert hat, bis „Instigator“ einen Nachfolger erhält, kommt da fast ein wenig überraschend…

Andererseits platzt „Nothing’s Real, So Nothing’s Wrong“ mitten hinein in eine in vielerlei Hinsicht durch eine weltweite Pandemie, den Klimawandel, kriegerische Konflikte, rassistische Gewalttaten oder „Me Too“ aufgewühlte Zeit – vor allem, wenn man dessen Schöpfer selbst befragt: Konzepte wie Kapitalismus und Männlichkeit seien am Ende, so Devine, die Realität an Bizarrheit kaum noch zu überbieten. Wo Tocotronic ob des Zustands der Welt bereits anno 2007 einst „Kapitulation“ forderten, ruft der 42-Jährige nun zum eskapistischen Rückzug auf. Und zwar dem ins Innere: Realitätsverlust als Chance.

„Die Songs loten alle eine bestimmte Art aus, wie man auf eine Krise reagiert: spirituell, familiär und kulturell. Anstatt der ohnmächtigen Annahme, dass es einen unsichtbaren Architekten gibt, der alles bestimmt, sage ich mir: Alles ist genauso, wie es ist, und vieles von dem, was mir real vorkommt, ist gar nicht real: Ich muss mich nicht von Allem emotional kaputt machen lassen. ‚Nothing’s Real, So Nothing’s Wrong‘ ist natürlich eine plakative Aussage – Aber wie soll es sonst auch anders gehen heutzutage? Ich habe mir mit einem mentalen Skalpell einen ’safe space‘ erschaffen, in dem ich mich in Ruhe sortieren kann.“ (Kevin Devine)

Vor allem klanglich präsentiert sich Kevin Devines nunmehr zehntes Solo-Werk dabei in einem nahezu völlig neuen Gewand, denn garagiger Power Pop oder splitternackte Songwriter-Übungen sind auf „Nothing’s Real, So Nothing’s Wrong“ nicht mehr anzutreffen. Stattdessen balancieren Devine und Band spürbar mehr Tonspuren als je zuvor auf ihren schmalen Schultern und legen sich richtig hinein in die weiträumig ausgetüftelten und detailliert orchestrierten Stücke – ein „surrealer, cineastischer Bedroom-Rock-Fiebertraum“, wie’s im Begleittext zum neuen Album heißt. Songs wie „Override“ oder „Someone Else’s Dream“ klingen entsprechend, als hätte man rohen Elliott-Smith-Skizzen eine Pomp-Behandlung spendiert, so wie auch dieser seinen todtraurigen Songs auf „XO“ und insbesondere „Figure 8“ (freilich auch auf dem postum erschienenen „From A Basement On The Hill“) ein gewisses Mehr an Gewicht genehmigt hat. Schon das Eröffnungsstück „Laurel Leaf (Anhedonia)“, welches sich mit Anhedonia, der Unfähigkeit Freude und Lust zu empfinden, befasst, schichtet hibbelige Streicher und verrauschte Schlagzeugeffekte über eine Beatle’eske Pop-Melodie, die mit den Symptomen einer Depression konterkariert wird. „All the nights I cut myself and I felt nothing / Murder every messenger, but they keep coming“ – Auswege zu finden, ist oft genug unerträglich schwer. Manchmal bleibt da nur, sich mit dem inneren schwarzen Hund zu versöhnen. Mit dieser Überdosis Harmonie zwischen den Noten demonstriert Devine gleich zum Einstieg, wie viel Kraft und Selbstheilungspotential in tönender Kunst stecken kann – für die, die sie hören und die, die sie machen.

Galoppierende Stampf-Drums und flirrende Elektro-Sprengsel regnen in „How Can I Help You?“ herab, das zwar nicht direkt ins Ohr will, seine Qualitäten aber dennoch nach und nach offenbart. In anderen Songs experimentiert Devine nicht nur mit Soundcollagen, sondern auch mit Tempowechseln, weiteren Synthie-Backings und immer wieder mit traumwandlerischen, gar psychedelischen Harmonien, die in große Gesten umschlagen. Selbst in Momenten der Paranoia („Someone’s after me“) versucht er, seine innere, entspannte Mitte nicht zu verlieren, sodass ebenjene Momente fast ein wenig zugedröhnt wirken mögen. Was wiederum nicht heißt, dass Kompositionen wie etwa „It’s A Trap!“ nicht auch – im positiven Sinne – ein wenig chaotisch werden dürfen, wenn sich noch klarinettenähnliche Töne und krumme Rhythmen zu dem bunten Reigen dazugesellen – Größen von den Flaming Lips über Sparklehorse bis hin zu Wilco lassen hier als Referenzen lieb grüßen. Mit am besten kulminiert dies alles im vorab veröffentlichten „Albatross“. „I think my brain is broken“, fürchtet Devine in der nahezu formvollendeten, als feierlicher Sixties-Schunkler getarnten Stadion-Pop-Hymne, stellt jedoch auch relativierend fest: „Nothing matters anyway.“ – und man selbst merkt immer mehr, dass da vielleicht etwas dran sein könnte an seiner Feststellung. Das Album endet schließlich versöhnlich mit „Stitching Up The Suture“, und tatsächlich hat Devine im Laufe dieser Songs mit seinem vorsichtigen Optimismus so einige Wunden zugenäht – unsere, aber auch seine.

Obwohl „Nothing’s Real, So Nothing’s Wrong“, dessen Albumtitel etwas von zu viel Wein und Küchenphilosophie hat, nicht wenige musikalisch herausfordernde Geschütze auffährt (von denen zugegebenermaßen nicht jedes einen Volltreffer landet und einen im ersten Moment ein wenig überrumpeln mag), erstickt Album Nummer zehn dennoch nicht an der eigenen Theatralik. Auch lyrisch wagt sich der „Brooklyn Boy“ noch stärker als ohnehin schon ins Literarische vor, erzählt hochintrospektive, jedoch mit allerlei textlichen Verrenkungen ausgeschmückte Anekdoten eines zwar wachen, aber hochgradig an sich selbst zweifelnden Geistes, der sich vor der ihm fremd gewordenen Welt da draußen in sich selbst zurückzuziehen sucht. Letztendlich steckt jedoch mehr Konfrontation als Augenverschließen in Devines emphatischen Bewältigungsmechanismen, vor allem wenn es um seine eigene Einsamkeit geht – umso besser, dass all die Albträume, all die Ängste das Album nie in allzu dunkle Gefilde ziehen. Und natürlich tönen hier viele Songs schwer und sperrig, sind mit all den überbordenden, surrealen Arrangements, den gleißenden Synthies, den schwankenden Gitarren, den Popsongrahmen oft genug sprengenden Klangexperimenten recht nahe dran am Psychedelic Pop der bereits genannten Flaming Lips oder Sparklehorse, muten mitunter sogar ein bisschen esoterisch an, und sind von der Unbekümmertheit des jungen „Emo-Devine“ von vor einem Jahrzehnt, der nur Stimme, Gitarre und ein bisschen Grunge Rock benötigte, um jedes Hörerherz zu erwärmen, meilenweit entfernt. Aber auch eine konsequente Weiterentwicklung – zumindest musikalisch. Bei all dem absurden Irrsinn in der Welt da draußen bleibt eben manchmal nur noch die Einsiedelei und der Weg zurück zu sich selbst. Denn da, dort drinnen, kriegt einen keiner. Dennoch: all is not lost.

Rock and Roll.

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