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„Ein wahres Herz aus Gold“ – Andy Fletcher ist tot.


Foto: picture alliance / Pacific Press

Unter den Fans von Depeche Mode gab es einen Running Gag, und der ging so: „Was macht eigentlich Andy Fletcher?“ Gemeint war die Rolle, die das stille Mitglied der Band einnahm, wieviel er zum Sound der britischen Synthie-Pop-Pioniere beitrug, er, der bei hunderten von Songs, die in über vierzig Jahren entstanden sind, keinen einzigen Songwriting-Credit erhalten hatte. „Martin [Gore] ist der Songwriter, Alan [Wilder] ist der gute Musiker, Dave [Gahan] ist der Sänger und ich lungere herum“, hatte „Fletch“, wie ihn seine Freunde nannten, einmal halb scherzhaft, halb mit britischen Understatement seine Rolle beschrieben. Das war 1989 in der Filmdoku „101“ des Regisseurs D.A. Pennebaker, da waren Depeche Mode schon längst internationale Superstars.

Sänger Dave Gahan hatte irgendwann im Lauf der langen Karriere von Depeche Mode begonnen, seine Unsicherheit hinter der Fassade einer klischeehaft überzeichneten, harten Männlichkeit zu verbergen, inklusive L.A.-Rockstar-Tattoos sowie allerlei Alkohol- und Drogenexzessen. Martin Gore pflegte eine Zeitlang das Image des extrovertierten, genderfluiden Paradiesvogels, obwohl er im Grunde seines Herzens ein kleines, schüchternes Sensibelchen war (und wohl noch ist). Andy Fletcher war einfach er selbst, blieb auf der Bühne und bei Terminen in der Öffentlichkeit im Hintergrund, war aber für das psychologische Konstrukt Depeche Mode enorm wichtig, zwischen zwei anscheinend riesigen Egos hielt er die Band zusammen. Als Dave Gahan etwa im Jahr 2001 nach der Veröffentlichung des Albums „Exciter“ öffentlich erklärte, sich benachteiligt zu fühlen, weil er keine Songs für Depeche Mode schreiben dürfe und drohte, die Band zu verlassen, war es bezeichnenderweise Fletcher, der den Kompromiss aushandelte: In Zukunft würde Gahan zu den Alben der Band ein paar Songs beisteuern, aber Gore der Hauptsongwriter bleiben.

Andrew John Leonard „Fletch“ Fletcher wurde am 8. Juli 1961 in Nottingham, England, geboren. Ende der 1970er-Jahre gründete er zusammen mit seinem Schulfreund Vince Clarke in Basildon, Essex die kurzlebige Band No Romance, in der er den Bass spielte. Wenig später, 1980, stieß Martin L. Gore dazu, den Fletcher bereits seit Kindheitstagen kannte, das Trio nannte sich ab da Composition Of Sound – und alle drei Musiker spielten Synthesizer. Im selben Jahr stieß Dave Gahan als Sänger dazu, auf seinen Vorschlag hin benannte sich die Band in „Depeche Mode“ um – nach einem französischen Modemagazin. Anfangs wurden Depeche Mode in England als Teenie-Band belächelt, ihre Pionierleistungen für die elektronische Popmusik wurden (noch) nicht gewürdigt, innerhalb weniger Jahre aber wurden sie mit über 100 Millionen verkauften Platten zur größten Synthesizer-Pop-Band (wahlweise auch Synthie-Rock- New-Wave- oder Dark-Wave-Band) der Welt mit einer der loyalsten Fangemeinden, die „ihre Jungs“ bei Konzerten frenetisch feierte.

Vince Clarke ging, Alan Wilder kam und ging, Gahan wurde drogenabhängig und starb um ein Haar, Gore zog nach Kalifornien, alle beruhigten sich, ließen den Rockstar-Zirkus hinter sich und stießen Solo-Karrieren an, welche alle paar Jubeljahre durch ein neues Depeche Mode-Album (zuletzt „Spirit“ von 2017) oder eine Tournee unterbrochen wurden, und schienen sich – you may call it Altersmilde – immer besser zu verstehen. Obgleich die Karriere von Depeche Mode gut dokumentiert sein mag, blieb Andy Fletcher doch über all die Jahre ein kleines Rätsel, der ungleich unglamourösere Mann im Schatten.

Wohl auch deshalb galt „Fletch“ als der Gentleman unter den Depeche Mode-Mitgliedern, warmherzig, klug und ausgestattet mit (s)einem trockenen Humor. So amüsierte er sich darüber, dass Fans seinen Band-Freund Dave höflich als „Mister Gahan“ ansprachen, er (psycho-)analysierte in Off-the-record-Gesprächen seine Bandkollegen recht treffend und traf sich in Backstageräumen mit dem Flair von Umkleidekabinen mit alten Freund*innen, und anhand der Gespräche war zu erkennen, dass diese Freundschaften schon seit Jahrzehnten bestanden. Auch war Fletcher, der sich gern um die geschäftlichen Belange der Band kümmerte, oft genug derjenige, der deutliche Worte fand, während Gahan und Gore die Lage gern auch mal etwas schönredeten, wannimmer sie sich gerade mal nicht so gut verstanden. Die „Faith And Devotion“-Tournee 1993 sei für ihn „die Hölle“ gewesen, erzählte er einmal, und er wusste es nach dem Drogenentzug Gahans 1996 stets sehr zu schätzen, dass bei Depeche Mode so viel Verlässlichkeit, so etwas wie Berechenbarkeit, eingekehrt war. Trotzdem tat er gleich gar nicht so, als wäre dieses Trio ein reiner Kumpelverein: „Mit Dave rede ich eigentlich nur, wenn es um die Band geht. Das war von Anfang an so.“

Im Jahr 2002 gründete Fletcher, der hin und wieder auch als DJ in Erscheinung trat, das Label Toast Hawaii mit dem einzigen Zweck, die Musik des Synth-Pop-Duos Client zu veröffentlichen. Er hatte erkannt, dass die Musik von Katie Holmes und Sarah Blackwood den retromanischen Zeitgeist traf und vielleicht erinnerte ihn der Client-Mix aus Synth Pop, Electroclash und New Wave auch an seine eigenen musikalischen Wurzeln. Und auch hier wurde Fletchers Wesen sichtbar: So tauchte er einmal, während eines Interviews mit Client im Hotel Mariandl in München, wie aus dem Nichts auf und setzte sich an den Tisch neben den Interviewer, bei Auftritten des Duos „lungerte“ er im Publikum herum und strahlte eine Fürsorglichkeit aus wie ein Vater, der seinen Kindern beim Erwachsenwerden zusieht und von dem Gedanken daran gleichermaßen von Stolz erfüllt und von Angst getrieben wird.

Doch zurück zu seiner Stammband.

Als Dave Gahan begann, auch noch Songs zu schreiben, waren er und Martin L. Gore umso mehr der Dreh- und Angelpunkt von Depeche Mode – und doch brauchten sie Andy Fletcher. Denn es ist keineswegs entscheidend, dass dieser musikalisch vielleicht nicht so viel zum eigentlichen Songwriting beitrug – er war nicht nur ein Gründungsmitglied, sondern menschlich ein überaus essenzieller Teil der Band. Sie ist ohne ihn als ausgleichendes Element zwischen den beiden Alphatypen kaum vorstellbar, ohne seine Bescheidenheit und ironische Distanz zu all dem Wahnsinn, den das Superstardasein oft genug mit sich bringt.

„Meine Rolle in dieser Band ist es, im Hintergrund zu stehen“, erzählte er 2005. „Dave ist der Sänger, Martin ist der Songwriter. I’m the backroom boy. Mir ist klar, dass die beiden anderen den Fans wichtiger sind, sie sind die Helden. Ich bekomme nicht dieselbe Aufmerksamkeit. Das ist mein Schicksal. Da geht es mir wie Larry Mullen oder Adam Clayton, die ebenfalls immer im Schatten von Bono und The Edge stehen. Aber die Chemie der Band stimmt trotzdem nur, wenn alle Mitglieder zusammen sind.“

Und damit hat er absolut recht. Depeche Mode ohne hin? In vielerlei Hinsicht schlichtweg undenkbar.

Am 26. Mai ist Andy Fletcher im Alter von 60 Jahren gestorben. Zwei Drittel seines Lebens stellte er in den Dienst von Depeche Mode, die 2020 in die „Rock And Roll Hall Of Fame“ aufgenommen wurden. Er war – in diesem Geschäft auch eher eine Seltenheit – seit 31 Jahren mit derselben Frau zusammen und verheiratet, die beiden hatten zwei Kinder. Die Schlagzeilen überließ er, wie eben auch das Rampenlicht, lieber seinen Bandkumpanen, er landete in ebenjenen (den Schlagzeilen) zuletzt etwa im April dieses Jahres ganz unprätentiös mit der Meldung, dass er sich bei einem Fahrradunfall in Barcelona das Handgelenk gebrochen habe. „Oft kommt mir unsere Karriere wie ein Traum vor. Und ich habe Angst aufzuwachen und plötzlich einen ganz normalen Job machen zu müssen“, sagte er vor einigen Jahren. Darum muss er sich keine Sorgen mehr machen, denn jener Traum blieb bis zum Ende unantastbar. Und irgendwie muss man die kaum von der Hand zu weisende Ironie, dass sich Gevatter Tod – ganz ähnlich wie unlängst bei den Rolling Stones, wo ausgerechnet der ewig stille wie zurückhaltende Schlagzeuger Charlie Watts vor Lebemännern wie Keith Richards oder Mick Jagger die Bühne, die sich da „Leben“ nennt, verlassen musste – nun auch bei Depeche Mode den in vielerlei Hinsicht Nüchternsten der Band zuerst geholt hat, fast schon unweigerlich mit einem diabolisch-sarkastischen Grinsen betrachten. Mach’s gut, Andy Fletcher!

(Lesenswert ist auch dieser Nachruf auf „Zeit Online“)

(via Facebook)

Rock and Roll.

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Song des Tages: Luwten – „Standstill“


Ein bisschen ironisch mutet es schon an, dass Luwten ihr im April erschienenes zweites Album ausgerechnet „Draft“ genannt hat, schließlich bedeutet der Künstlername der im niederländischen Amsterdam beheimateten Musikerin Tessa Douwstra wörtlich „Ort ohne Wind“. 

Dennoch ergibt der Titel Sinn, denn es ging Luwten, die ihr selbstbetiteltes 2017er Debütwerk beinahe buchstäblich in einem solchen stillen Vacuum – ganz allein mit sich selbst und ihren Gedanken – aufnahm, darum, ein bisschen mehr Luft, ein bisschen mehr Input von draußen zuzulassen. „Wie viel Alleinsein kommt daher, dass es hilft?“, fragte sich die Künstlerin. „Wieviel kommt daher, dass man Angst hat? Hilft Alleinsein dabei, authentisch zu sein? Oder ist Authentizität etwas, nach dem man auch mit anderen suchen könnte oder gar sollte? Mir ist aufgefallen, dass ich viel über Denken versus Fühlen und Alleinsein versus Zusammensein schreibe. Ich liebe die Idee von Musik als Selbsterfahrung. Für die Macherin wie für die Zuhörer*innen.“ Zudem erforscht Douwstra die Ideen von Handlungsfähigkeit, Kontrolle und Freiheit, die im verwirrenden, von Pandemien und Restriktionen bestimmten Klima der letzten zwei Jahre zunehmend an Bedeutung gewinnen. 

Soundmäßig hat sich Tessa „Luwten“ Douwstra für die elf neuen Songs Inspiration aus sehr verschiedenen Richtungen geholt. So beruft sie sich musikalisch für ihre Pop-Entwürfe auf Komponisten wie Steve Reich und Künstler wie Ólafur Eliasson, während sie sich für ihren Gesang wiederum von Neosoul-Künstler*innen wie Solange, D’Angelo oder Frank Ocean beeinflussen ließ.

„Abstrakt Pop“ nennt die Niederländerin ihren aus dieser Melange heraus entstandenen, recht eigenen Stilmix. Das überrascht ein wenig, denn insbesondere auf der emotionalen Ebene – die ja ein nicht unwesentlicher Bestandteil jedes ernstgemeinten Musikprojektes sein sollte – wird Douwstra im Grunde sehr konkret. Auch sind die zwar sparsamen Arrangements ihrer halborganisch organisierten Stücke keineswegs so artifiziell, wie es das Attribut „abstrakt“ vermuten ließe. Popmusik gibt es tatsächlich auch – aber nicht als abstraktes Konzept, sondern stets eingebettet in eine erzählerisch ausgerichtete Songstruktur, die Luwten zwischen den Zeilen und Tönen als Songwriterin im Pop-Pelz im Stile einer Leslie Feist entlarvt. Und: jener Pop-Aspekt manifestiert sich vor allem durch ihre ungebundene stilistische Offenheit. Seien es Art Pop, Krautrock, alternativer R’n’B, Folk Pop oder New Wave – nie geht es um den eigentlich zitierten Stil, und schon gar nicht um die im heimischen Studio kunstvoll verwobenen Bestandteile aus Live-Instrumenten, Samples, programmierten Beats, getweakten Field-Recordings oder elektronischen Elementen, sondern immer um den Song und die Gedanken, die Tessa Douwstra hier – meist durch innere Dialogen und dezidiert lakonisch – präsentiert. „Luwten“ mag zwar der niederländische Begriff sein, der einen windstillen Ort bezeichnet und für die selbstgewählte Isolation steht, die sich die Musikerin in kreativer Hinsicht auferlegt hat. „Draft“ ist nun jedoch jene Art von frischem Luftzug, den sie zulässt, um sich allmählich der Welt gegenüber zu öffnen und Einflüsse von außen zuzulassen. Kurzum: Austarierte kommerzielle Popmusik tönt heutzutage deutlich seelenloser und abstrakter daher als das, was Luwten selbst als „abstrakt“ bezeichnet, denn hier gerät vieles vor allem verdammt einnehmend.

Noch toller als die Studio-Versionen geraten im Falle von Luwten die Live Sessions, in welchen sie und ihre Band die Songs in deutlich seelenvollerem organischem Gewand präsentieren:

Rock and Roll.

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Song des Tages: KennyHoopla – „how will i rest in peace if i’m buried by a highway?//“


Ja sicher, alle ach so trendbewussten Radio-Hörer, die in ihren Träumen gern mal gegen den Mainstream-Strom schwimmen mögen, feiern jeden neuen Track von Billie Eilish und Co. ab, als gäbe es kein Morgen im Pop (und obwohl die Musikszene sich in einer Zeit fast ohne Live-Konzerte in einer recht schwierigen Situation befindet, ist das natürlich Quatsch). Dabei gibt es doch noch weitaus interessantere Acts zu entdecken – KennyHoopla zum Beispiel.

Kenny….who? Genau. Auch bei mir lief der Newcomer bislang unter dem Radar.

Heißt das was? In diesem Fall wohl kaum, denn fresher, aufregender als die Songs, die der 23-Jährige, der als Kenneth La’ron in Cleveland, Ohio aufwuchs, zustande bringt, dürfte es 2020 kaum werden. Wenig verwunderlich also, dass es ihn, wie so viele seiner Musikerkollegen, mittlerweile ins wuselige Los Angeles verschlagen hat, wo er Typen wie blink-182-Schlagzeuger Travis Barker zu seinen neuen Best Buddies zählt.

Und die Musik? Nun, auch die wandelt sich bei KennyHoopla nahezu ständig. War die 2016er Debüt-EP „Beneath The Willow Tree“ noch ein Amalgam aus hypnotisch-tightem Trap und düsterem HipHop, machten sich schon bei der im vergangenen Jahr veröffentlichten Single „lost cause//“ ganz andere Sounds breit: etwas, das Kenneth „Kenny“ La’ron selbst als „new wave nostalgia“ beschreibt, und Inspirationen von The Drums über Passion Pit bis hin zu American Pleasure Club (formerly known as Teen Suicide) zitiert. Ins kreative Mischwerk darf längst alles, was ihm irgendwie grad unter die Griffel kommt – mal scheint etwas von der emotionalen Strahlkraft des Indierocks der Achtziger und Neunziger durch, mal sensibel-verpennter Bedroom-Anti-Pop, mal Alternative-R’n’B.

Wen wundert’s – das ist bei „how will i rest in peace if i’m buried by a highway?//“ keineswegs anders. Der Titelsong seiner im Februar erschienenen zweiten EP ist dabei weitaus mehr als ein Tropfen auf den musikalischen heißen Stein oder ein schnell vorübergehendes philosophische Statement über den Begriff der „ewigen Ruhe“ im Kontext einer kapitalistischen Gesellschaft, die sich bis zu ihrem eigenen Untergang mehr und mehr selbst (aus)dehnt und (ver)biegt. Der Song ist eine kathartische Explosion aus Klang, Inspiration und Juvenilität.

Im allerersten Moment mag „how will i rest in peace if i’m buried by a highway?//“ noch an die Gitarren- und Synthesizer-getriebene Euphorie der New Wave der frühen Achtziger erinnern, an den tiefen Schmerz und die raue Schönheit von Bands wie Joy Division. Doch sobald KennyHooplas fast schon von Seelenpein getriebener Gesang in den Mittelpunkt rückt, muss man wohl beinahe unweigerlich an den dance-punkigen Nullerjahre-Indie Rock der frühen Bloc Party zu Zeiten von deren famosem, hubbelig-innovativem Debüt „Silent Alarm“ denken.

Dabei sind die sechs Stücke der EP weit davon entfernt, liebevolle BritRock-Plagiate eines musikalischen Jung-Nostalgikers zu sein. Vielmehr fängt KennyHoopla, der in einem Interview mit dem NME zugab, „gar nicht richtig Gitarre spielen“ zu können (andererseits ebenjenen Song zustande brachte, nachdem er zum ersten Mal ein Sechs-Saiten-Instrument in der Hand hatte), all die Freude und Hoffnungslosigkeit seiner Vorgänger ein und bastelt aus den einzelnen Teilen ein ebenso interessant wie innovativ tönendes Gesamtpaket – die Inspirationen mögen an mancher Stelle offensichtlich scheinen, die Ausführung jedoch gerät umso hörenswerter. So könnte KennyHoopla tatsächlich der „nächste heiße Scheiß“ für alle jene sein, denen Billie Elish und Co. längst nur ein müdes Gähnen entlocken…

Rock and Roll.

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Sunday Listen: SAULT – „UNTITLED (Black Is)“


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Nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd durch weiße Polizisten gehen die Proteste gegen Rassismus – mal mehr, mal weniger öffentlichkeitswirksam – weltweit weiter. Auch am 19.06., am sogenannten „Juneteenth„, dem Tag, an dem an das Ende der Sklaverei der afroamerikanischen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten erinnert wird, zog es in den US of A landesweit Menschen auf die Straßen. Und: Genau an diesem Tag veröffentlichte die britische Band SAULT völlig überraschend ihr nächstes Album mit dem Titel „UNTITLED (Black Is)“. Zeitlos und doch so verdammt relevant. Ein Protestalbum, welches leider perfekt in diese Zeit passt…

We present our first ‘UNTITLED’ album to mark a moment in time where we as Black People, and of Black Origin are fighting for our lives. RIP George Floyd and all those who have suffered from police brutality and systemic racism. Change is happening… We are focused. SAULT x

Um die noch recht frische Band aus London ranken sich seit jeher ein paar Banksy-würdige Mysterien. Ihre Veröffentlichungen erscheinen aus dem Nichts (wie etwa im vergangenen Jahr gleich zwei Werke titels „5“ und „7„), Hintergrundinformationen existieren kaum und öffentliche Auftritte gibt es –  zumindest bisher – nicht. Aus den Credits der Songs ist jedoch zu erfahren, dass sowohl Dean „Inflo“ Josiah (unter anderem Produzent für Little Simz, Jungle oder The Kooks) als auch Sängerin Cleopatra „Cleo Sol“ Nikolic ihre Finger im Spiel haben.  So veröffentlichten SAULT ihr neuestes Werk einmal mehr ohne Vorankündigung als Free Download auf ihrer Website sowie via Bandcamp. Auf dem Album sind auch die aus Chicago stammende Rapperin Melisa „Kid Sister“ Young, Soul-Musiker Michael Kiwanuka oder die Poetry-Künstlerin Laurette Josiah vertreten.

Das Cover der Platte ziert eine schwarze, in die Luft gereckte Faust auf pechschwarzem Grund – das Artwork ist bewusst minimalistisch gehalten und sagt doch eigentlich alles. Musikalisch bekommt man eine gleichsam vielfältige wie reduzierte Mischung afroamerikanischer Musikstile zu hören: Soul, Afrofunk, Motown, Gospel, R&B, DooWop, Hip Hop und Spoken Word-Interludes, an mancher Stelle klingen gar New Wave, Post Punk, Dub oder Trip Hop an. Außerdem ungewöhnlich: Mitte Juni spielte DJ Gilles Peterson „UNTITLED (Black Is)“ in seiner BBC-Radiosendung, noch bevor es irgendwo sonst zu hören war. Und zwar – allein das spricht bereits Bände und geschah vorher nur ein einziges Mal – komplett. Als den „ersten Klassiker der Ära der ,Neuen Realität“ bezeichnete die DJ-Koryphäe für schwarze Musik das Album vorab auf seinem Twitter-Account.

Noch viel spannender sind jedoch die Themen, mit denen sich SAULT auf dem Album beschäftigen. Sie bieten dem Hörer einen Einblick in ein Leben voll von systematischem Rassismus und Polizeigewalt. Schließlich dürften beide Band-Köpfe wissen, wovon sie reden: Sängerin Cleo Sol hat jamaikanische, serbische und spanische Wurzeln, Produzent Inflo ist schwarz. In den Songs thematisieren sie die permanente Angst, den immanenten Stress, unter denen Farbige (also nur nicht Schwarze, sondern etwa auch Hispanics) in den US of A – und freilich nicht nur da – stehen. Weil sie bei jeder Polizeikontrolle immer mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Weil zunächst einmal ihre Hautfarbe gesehen wird, selten der Mensch dahinter. Man spürt die Wut, die Angst, Trauer, all diese Ungerechtigkeit – und doch bleibt am Ende die Hoffnung auf eine bessere, eine friedvollere Welt bestehen.

Wildfires“ positioniert sich dabei als das Herzstück des Albums und dürfte mit Zeilen wie „We all know it was murder“ schon jetzt einer der eindringlichsten Songs des Jahres sein. Ein berührendes, beat-getriebenes Soul-Statement, dem jede(r) sein (oder ihr)  Gehör schenken sollte. Anderswo, in „Hard Life„, einem schwermütigem Track mit schleppenden TripHop-Beats und wummerndem Bass, heißt es „Everyday feels like a battle“. In „Bow“ gibt Michael Kiwanuka mal nicht den zugänglichen Soul-Folkie, sondern chantet über einen Afro-Beat. Er, dessen Eltern einst aus Uganda nach London flohen, zählt so einige afrikanische Länder und Städte auf und fordert am Ende: „We got rights!“„Wir haben Rechte!“„Don’t Shoot Guns Down“, ein Aufschrei im gleichnamigen Song, ist unterlegt von Polizeisirenen sowie Sprechchören bei einer Demonstration. Und dazwischen immer wieder poetische Momente wie in „Black Is„: Spoken Word meets Gospel, und in den Lyrics heißt es „Black is beautiful / Black is excellent, too / In me, in you“. Der Band gelingt dabei das Kunststück, niemals bitter zu klingen, sondern ein stolzes Statement schwarzer Selbstbestimmung zu formulieren. This generation cares. 

All diesen formidabel-löblichen Aktionismus mal außen vor, bleibt natürlich zu hoffen, dass das Thema nicht wieder in den Hintergrund tritt, bis der nächste sinnlose, rassistisch motivierte Todesfall die Medien erreicht, da die öffentliche Aufmerksamkeitsspanne bei so vielen wichtigen Themen leider immer recht kurz ist (und Dank unserer digitalen Reizüberflutung immer kürzer gerät). Jeder Mensch sollte versuchen sich daran zu beteiligen, die Missstände weiter auszuräumen und Rassismus weiter zu bekämpfen. Sich selbst hinterfragen, weiterbilden, andere sensibilisieren. Change is happening? Let’s hope so.

SAULT haben dazu mit „UNTITLED (Black Is)“, das in digitaler Form gratis angeboten wird und  auch als Vinyl vorbestellt werden kann (die Einnahmen sollen an Charity-Organisationen gehen), auf jeden Fall einen bedeutsamen Teil beigetragen – weniger als Musik schaffende Band, sondern vielmehr als Dokumentaristen und Chronisten. Ein wichtiges Album für diese wegweisende Zeit…

 

 

Rock and Roll.

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Song des Tages: Die Arbeit – „Könige im Nichts“


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Ein zackiger, Breakbeat-artiger Unterbau, dazu flirrende, verhallte Gitarren, ein pulsierender Basslauf und eindringlicher, deutschsprachiger Sprechgesang der Güteklasse Dirk von Lowtzow – Die Arbeit haben all diese Elemente einer guten New-Wave-/Post-Punk-Platte in ihrem Song „Könige im Nichts“ vereint. Fans von Die Nerven, Karies oder Messer oder vergleichbaren internationalen Acts wie Preoccupations, Moaning oder den frühen (!) Editors dürften jedenfalls Gefallen an der 2018 gegründeten Dresdner Band finden.

Sich selbst ordnen Maik Wieden, Uwe Hauptvogel, Benjamin Rottluff und Marius Jurtz irgendwo zwischen „Diskurspop“ und „Postpunk“ ein. Oder eben etwas ausführlicher auf Facebook:

„Reduzierte Gitarren, Beats auf den Punkt, deutscher Text aus Poesie und Propaganda fügt sich ohne großes Brimborium zusammen zu einer erfreulichen Monotonie a la ‚Deutsch Amerikanische Freundschaft‘, ‚Joy Divison‘ und ‚Tocotronic‘. Ein oszillierendes Erweckungserlebnis irgendwo zwischen Aufbauen und Abreißen.“

Dem durchaus ansprechenden Vorab-Track des am 21. Februar via Undressed Records erscheinenden Debütalbums „Material“ haben Die Arbeit kürzlich auch ein Musikvideo spendiert, das einen angehenden Astronauten durch alte Industriehallen begleitet, bis er es zum Mond schafft – ansprechend und ästhetisch inszeniert zum treibenden Charakter der Musik.

 

 

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Rock and Roll.

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