Schlagwort-Archive: Moritz Krämer

Song des Tages: Johanna Amelie & Moritz Krämer – „Bunt hier“ (feat. Tristan Brusch)


Moritz Krämer? Klaro, kreativer Hansdampf in so ziemlich allen Gassen, ob nun solo, mit Die Höchste Eisenbahn und eben als Regisseur, von dem auch anlässlich der Veröffentlichung seines (einmal mehr famosen) dritten Album-Alleingangs „Die traurigen Hummer“ im vergangenen Jahr auf ANEWFRIEND die Schreibe war. Kennt man, mag man, den stets sympathisch verpeilten Moritz.

Da der 41-Jährige in Berlin zuhause ist, trifft er zuweilen beinahe zwangsläufig auf manch andere Musiker-Kolleg*innen. Man tauscht sich aus, spinnt ein wenig an den neusten kreativen Einfällen herum und jammt entspannt (so stell ich’s mir zumindest vor) – und manchmal, ja manchmal kommt am Ende so ein feiner Song ums Eck wie „Bunt hier“, Krämers bereits im März 2021 erschienene Kollabo mit der ebenfalls in der Hauptstadt ansässigen Musikerin Johanna Amelie, bei welcher die beiden zusätzliche Unterstützung von Tristan Brusch bekamen (und der bei YouTube eigenartigerweise als „Christian Bursch“ aufgeführt wird – von dem Herrn wird hier bei ANEWFRIEND übrigens in Kürze wohl noch zu lesen sein).

In dem recht legeren, angenehm zwischen Tragträumerei und urbaner Schnelllebigkeit schwebenden Songwriter-Indie-Pop-Soft-Rock-Stück besingt das Trio die Ära einer schillernd-bunten Welt, die in die Krise unserer heutigen Zeit mündet. Wer genauer hinhört, der wird bemerken, dass die Berliner Musiker im Refrain eine berühmte Kollegin zierten, denn „Ich kann mich gar nicht entscheiden, ist alles so schön bunt hier“, diese Zeile sang Nina Hagen 1978 in ihrem Song „TV-Glotzer“ – ansonsten erinnert hier freilich nichts an die Hektik dieses Punk-Songs. Vielmehr äußern Amelie, Krämer und Brusch in der sommerlich anmutenden Nummer einen durchaus frommen Wunsch: „Lass uns bei wieder streiten.“ Und auch wenn so etwas in streitintensiven Zeiten wie diesen nur schwer vorstellbar sein mag – träumen darf man ja…

Rock and Roll.

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Der Jahresrückblick – Teil 1


Was für Musik braucht man in einem so eigenartigen Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf diese ganze verdammt verrückte und aus den Angeln geratene Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser, „normaler“, gewohnter werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie das Schlechte – für Momente vergessen lässt. Eine Zuflucht. Eine Ton und Wort gewordene zweite Heimat. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2021 einmal mehr recht wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

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Cleopatrick – BUMMER

2021, ein Jahr, welches rückblickend im Schatten dieser vermaledeiten Pandemie an einem vorbeizog. Januar… Corona… Dezember. War irgendwas? Habe ich irgendetwas verpasst? Nope? Okay, gut – ich leg’ mich mal wieder hin. 

Trotzdem musste es auch in den zurückliegenden zwölf Monaten – und fern aller Kontakbeschränkungen, Li-La-Lockdown-Hin-und-hers, Impfdiskussionen und Wutbürgereien (alles so Begriffe, die kaum einer noch hören oder lesen mag, jedoch längst in unseren sprachlichen Alltag übergegangen sind) – ja irgendwie weitergehen. Während der große Musikfestival- und Konzerttross auch 2021 – allen Lösungs- und Anschubversuchen der Beteiligten zum Trotz – im Gros zum Stillstand verdonnert war, durfte der musikalische Veröffentlichungskalender das ein oder andere Highlight für sich verbuchen, welches es eventuell ohne Fledermaus, menschliche Dummheit und eben Corona nie gegeben hätte. Wäre, wäre, Fahrradkette – klar.

Ebenso auffällig ist, dass sich die ANEWFRIEND’sche Alben-Jahresbestenliste in 2021 wieder auffällig vom Konsens anderer Musikmagazine und -portale unterscheidet, nachdem ich 2020 noch – völlig berechtigt – in die Jubelfeier von Phoebe Bridgers’ großartigem Werk „Punisher“ einstimmen durfte. Denn während andernwebs gefühlte Konsens-Platten von Turnstile oder Little Simz abgefeiert, hochjubiliert und über den grünen Kritikerklee gelobt werden, finden diese hier so gar nicht statt. Hab’s versucht, habe reingehört – just not my cup o’tea. (Dass jedoch weder die neue Platte von The War On Drugs, noch die von etwa The Notwist oder Mogwai – um nur eben die paar Beispiele zu nennen, welche mir gerade einfallen – Erwähnung finden, ist wohl vielmehr dem simplen Fakt geschuldet, dass ich bei all den tollen neuen Tönen des Musikjahres noch nicht zum Hören dieser Alben gekommen bin.) Andererseits findet mein persönliches Album des Jahres andernwebs (beinahe schon erschreckend) wenig Erwähnung. Verehrte Kritiker-Kolleg*innen – was’n da los?

An Luke Gruntz und Ian Fraser alias Cleopatrick kann’s keinesfalls liegen, denn die beiden Kanadier zerlegen mit ihrem Langspiel-Debüt „BUMMER“ in weniger als einer halben Stunde in bester Duo-Manier mal eben alles, was gerade noch unbehelligt im eigenen verranzten Proberaum in Coburg, Ontario im Weg stand. The Black Keys sind euch zu bluesmuckig? Royal Blood sind mittlerweile – und spätestens mit ihrem diesjährigen dritten Album „Typhoons“ – zu sehr in Richtung Indiedisco gehüpft? Bei den White Stripes hat die so schrecklich eintönig neben dem Beat trommelnde Meg White eh schon immer genervt? Dann sind diese zehn Stücke euer persönlicher Hauptgewinn! Im Grunde gibt’s über diese Platte im tiefen Dezember auch gar nicht mehr zu berichten als das, was ich knapp sechs Monate zuvor in meiner Review zum Ausdruck gebracht habe (oder zum Ausdruck bringen wollte). Das Ding rockt wie die im Lockdown ganz fuchsteufelswild gewordene Sau! Mehr juvenile, am Zeitgeist zwischen Blues’n’Indierock- und Hippe-di-Hopp-Gestus gewachsene Pommesgabel brauchte es 2021 nicht. Hat leider kaum ein grunzendes Nutztier mitbekommen, macht’s für mich selbst aber keineswegs schlechter. Geil, geiler, Cleopatrick on fuckin’ repeat.

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2. The Killers – Pressure Machine

Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 1: Brandon Flowers und seine Killers durfte man eigentlich – nach immerhin vier im Großen und Ganzen (n)irgendwohin musizierenden Alben zwischen 2008 und 2020 (also alle nach „Sam’s Town“) – schon ad acta legen. Umso überraschender, dass dem Bandkopf der Las-Vegas-Alternative-Poprocker ein solches qualitativ dichtes, tatsächlich zu Herzen rührendes Werk wie „Pressure Machine“ in den kreativen Schoß fiel, während Flowers – wie viele seiner Kolleg*innen auch – dazu verdonnert war, konzertfrei zu Hause herumzusitzen. Er machte das Beste daraus und zog sich gedanklich nach Nephi zurück, einem 5.000-Seelen-Örtchen im Nirgendwo von Utah, Vereinigte Staaten, wo er als zehn- bis 17-Jähriger lebte, bevor es ihn wieder in seine Geburtsstadt Las Vegas verschlug. Die daraus resultierenden Tagträumereien sind jedoch keineswegs biografisch verklärter Hurra-US-Patriotismus, sondern ein ehrlicher, scheuklappenfreier Tribut an die oft von der Gesellschaft vergessenen „einfachen Leute“, an ihre Leben, Lieben und persönlichen Geschichten. Dass diese irgendwo zwischen auf Balladeskes im Heartland Rock und – ja klar, gänzlich können es Flowers und seine drei Bandkumpane auch hier nicht lassen – schillernde Festivalhauptbühnendiscokugel pendelnden elf Songs ebenjene „einfachen Leute“ zwischendrin auch selbst zu Wort kommen lassen, macht das Gesamtergebnis eben nur noch dichter, tiefer und zu einem Konzeptwerk-Erlebnis, welches selbst die größten, wohlwollendsten Killers-Freunde anno 2021 kaum mehr erwartet haben dürften. Großes Breitwandformatkino für die Ohren.

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3.  Torres – Thirstier

Man einem Künstler, manch einer Künstlerin verleiht das Glück der Liebe ja keine kreativen Hemmschuhe, sondern vielmehr tönende Flügel – das beste aktuelle Beispiel dürfte Mackenzie Ruth „Torres“ Scott sein. Deren fünfte Platte bestätigt zudem, dass die im wuseligen Big Apple beheimatete US-Musikerin längst aus der Indie-Singer/Songwriterinnen-Sadcore-Nummer früherer Tage heraus gewachsen ist. Für die zehn Stücke von „Thirstier“ setzt sie auf raumgreifende Rock-Hymnen, welche selbst kleine Alltäglichkeiten immer etwas glänzender darstellen, als man sich das zunächst denken würde. „Before my wild happiness, who was I if not yours?“ konstatiert Torres beispielsweise in „Hug From A Dinosaur“. Oft genug stellt man sich beim Hören der Songs selbst die Frage: Wie schön – zum Himmel, zur Hölle – kann man bitte über die Liebe singen?!? Exemplarisch etwa das sanft startende und in einem fulminanten Feuerwerk endende fantastische Titelstück: „The more of you I drink / The thirstier I get“ – Zeilen fürs von Herzen umrahmte Poesiealbum, ebenso das Zitat aus dem manischen Finale des Albumabschlusses „Keep The Devil Out“, welches passenderweise die Auslaufenrillen der A- und B-Seiten der Vinylversion ziert: „Everybody wants to go to heaven / But Nobody wants to die to get there“. Bei Torres sind diese gefühligen Momente anno 2021 meist mit donner-dröhnenden Gitarrenteppichen unterlegt, die sich so mit ihrer mahnend bis sehnsüchtig-zerrenden Stimme verbinden, dass man nur jubilieren möchte: Endlich mehr Liebe, endlich mehr Epos! Ihr bisher gelungendstes Werk, ohne Zweifel.

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4.  Moritz Krämer – Die traurigen Hummer

Moritz Krämer macht mit „Die traurigen Hummer“ ein nahezu lupenreines „Moritz-Krämer-Album“ und beweist, dass er noch immer der besten bundesdeutschen Liedermacher ist. Dass dieses irgendwie ja vor dem zweiten Album „Ich hab’ einen Vertrag unterschrieben“ entstand? Dass der Berliner Musiker, den man sonst als ein Viertel von Die höchste Eisenbahn kenn kann, hier einmal mehr den Blick auf die abseitigen kleinen Alltagsmomente legt und für jene Sätze findet, auf die man selbst in abertausend Leben nicht gekommen wäre, die aber nun plötzlich ebenso richtig wie wichtig scheinen? Dass Krämer sich in den zehn Songs einmal mehr als wohlmöglich größter Kauz des deutschen Indie Pops erweist? Alles erfreulich, alles ebenso unterhaltsam wie kurzweilig, genau wie dieses Album.

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5.  Gisbert zu Knyphausen & Kai Schumacher – Lass irre Hunde heulen

Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 2: Gisbert zu Knyphausen, seines Zeichens – neben dem gerade erwähnten Moritz Krämer – ein anderer großer deutscher Liedermacher, und Kai Schumacher, mit Talent gesegneter Pianist und hier der andere kongeniale Part, kommen mit Neuvertonungen von Franz Schubert-Stücken ums Eck. Was im ersten Moment – und ohne einen der Töne von „Lass irre Hunde heulen“ im Gehörgang zu haben – anmuten könnte wie die nervtötende siebente Stunde im Deutsch- oder Musik-Leistungskurs, gerät überraschenderweise derart faszinierend, dass es eine wahre Schau ist. Gisbert zu Knyphausen und Kai Schumacher transportieren etwa 200 Jahre alte Stücke ins 21. Jahrhundert als wäre dieses Kunststück das kleinste der Welt. Romantik meets Moderne, und man selbst hört fasziniert träumend zu.

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6.  Biffy Clyro – The Myth Of The Happily Ever After

Mal Butter bei die Fische: Jene Band, die einst mit „Infinity Land“ und „Puzzle“ auch meinen eigenen musikalischen Kosmos im Sturm eroberte, gibt es längst nicht mehr. Sie wird wohl auch kaum mehr wiederkommen, da brauchen sich selbst innigst Hoffende wenig vormachen. Zu breit ist die Fanbasis geworden, die sich Biffy Clyro mit den darauffolgenden Alben in den vergangenen zehn Jahren erschlossen haben, zu mainstreamig fällt das Festival-Publikum aus, das die Headlines-Auftritte der drei Schotten mittlerweile besucht. Und doch gibt „The Myth Of The Happily Ever After“ endlich wieder berechtigten Grund zur Hoffnung – und all jenen die Hand, die einst Songs wie „Wave Upon Wave Upon Wave“ erlagen. Wenngleich Biffy Clyro recht wenig Interesse daran haben, die Uhren so weit zurückzudrehen. In Ansätzen gab bereits der letztjährige Vorgänger „A Celebration Of Endings“ den neuen Glauben an die Band zurück, allen voran durch den ruppigen Schlusstrack „Cop Syrup“. Aber erst sein in Lockdown-Eigenregie entstandenes Geschwister-Album, mit Fleisch gewordenem Alternative Rock in „A Hunger In Your Haunt“, einer Gänsehaut erzeugenden Verneigung vor einem zu früh verstobenem Freund in „Unknown Human 01“, der aufbäumenden Ehrerbietung für ein unterentwickeltes japanisches Rennpferd namens „Haru Urara“ und einem erneut aggressiv schäumendem Finale, lässt das 2016er Werk „Ellipsis“ endgültig als elektropoppigen Solitär in der Vita einer der größten und sympathischsten Stadionbands der Gegenwart erscheinen. Mon the Biff!

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7.  Sam Fender – Seventeen Going Under

Seventeen Going Under“, das Nachfolgewerk zu Sam Fenders bockstarkem Debütalbum „Hypersonic Missiles“ (welches seinerzeit, 2019, den Spitzenplatz der ANEWFRIEND’schen Jahrescharts erobern konnte), ist eine klassische Coming-Of-Age-LP. Der Musiker aus North Shields, einer kleinen Stadt im Nordosten Englands, berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Teenager, die oft genug von Angst, Wut und Problemen handeln – „See, I spent my teens enraged / Spiralling in silence“ wie es im eröffnenden Titelstück heißt. Trotz der sehr persönlichen Geschichten schafft es Fender, die Themen – schwierige Beziehungen mit Familie und Freunden, Umgang mit Erwartungshaltungen, Erfahrungen mit Alkohol und Gewalt, Gefahren toxischer Männlichkeit – universell zugänglich und nachfühlbar für alle Hörer*innen zu machen. So handelt „Get You Down“ davon, wie eigene Unsicherheiten Partnerschaften beeinflussen, oder „Spit Of You“ von der schwierigen Beziehung von Vätern und Söhnen. Aber auch seine politische Seite zeigt der Engländer wieder, wenn er etwa in „Aye“ seinem Ärger über die gegenwärtigen Zustände Luft macht und zu dem Schluss kommt: „I’m not a fucking patriot anymore, […] I’m not a fucking liberal anymore“. In eine ähnliche Richtung geht „Long Way Off“, in dem es heißt: „The hungry and divided play into the hands of the men who put them there“. Beim Sound wird Fender seinem Ruf als „Geordie Springsteen“ oder als einer Art „britischer Antwort auf The War On Drugs“ weitgehend gerecht. Klassischer, hymnisch orientierter Rock-Sound trifft in den elf Songs (in der Deluxe Edition sind’s sogar fünf mehr) auf treibende Gitarrenriffs und Saxofon-Einlagen, der jedoch wegen seiner kraftvollen Produktion und dem pumpenden Schlagzeug dennoch alles andere als gestrig tönt. Und: Der 27-Jährige und seine Band variieren und spielen auch – etwa, wie bei „Spit Of You“, mit Country-Einflüssen oder Piano-Balladen-Interpretationen („Last To Make It Home“ und „The Dying Light“). Fast ein bisschen experimentell klingt „The Leveller“ an, wenn sich hämmernde Drums mit Streichern auf Speed verbinden. Alles in allem mag „Seventeen Going Under“ zwar im ersten Hördurchgang nicht dieselbe Sogwirkung entwickeln wie der Erstling, geht jedoch dennoch als würdiger Nachfolger von „Hypersonic Missiles“ durch, der einen trotz der ernsten, gesellschaftskritischen Themen mit einem zwar melancholischen, jedoch durchaus guten Gefühl entlässt. Oder, wie Sam Fender es selbst recht passend zusammenfasst: „It’s a celebration of life after hardship, and it’s a celebration of surviving.“

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8.  Manchester Orchestra – The Million Masks Of God

Dass Manchester Orchestra, bei genauerem Hinhören seit einiger Zeit eine der faszinierendsten Bands im Alternative-Rock-Kosmos, kein Album zweimal schreiben, macht den Sound des US-Quartetts aus Atlanta, Georgia irgendwie aus und lässt ihre Werke bestenfalls zu von Hördurchgang zu Hördurchgang stetig wachsenden Klang-Kaleidoskopen werden wie das 2017er Album „A Black Mile To The Surface“. Auf „The Million Masks Of God“, seines Zeichens Langspieler Nummer sieben, entfernt sich die Band um Frontmann Andy Hull noch weiter von ihren frühen Emo-Rock-Einflüssen zugunsten eines poppigen, noch weiter aufgefächerten Indie-Sounds, der hier vor allem um Einflüsse aus Americana, Alt. Country und sogar Gospel erweitert wird. Wer’s böse meint, der könnte behaupten, dass es wohlmöglich das „amerikanischste Album“ sei, dass Manchester Orchestra je (oder zumindest bisher) geschrieben haben. So versetzt etwa „Keel Timing“ alle Hörer*innen direkt in eine Midwest-Szenerie, die einem einen Güterzug vors innere Auge pinselt. Wer noch mehr zu kriteln haben mag, der darf gern behaupten, dass dem Album in Gänze – zumindest im ersten Moment – jener „Pop-Approach“ fehlen mag, welchen einzig „Bed Head“, ein nahezu perfekt geschriebener Popsong mit hohem Suchtfaktor, liefert. Stattdessen verlagern Andy Hull und Co. das Faszinosum hier weiter ins Detail und hinein in die stilleren Töne, wenngleich es mit „The Internet“ auch einen kleinen Rückblick auf den Vorgänger „A Black Mile To The Surface“ gibt. Mit dem hat „The Million Masks Of God“ dann noch etwas anderes gemein: Einmal mehr benötigt ein Manchester Orchestra-Langspieler mehr Zeit, mehr Hördurchgänge, um zu wachsen, um in Tiefe wirklich erfasst werden zu können. Freunde der Band aus Zeiten vor dem ähnlich einnehmenden „Simple Math“ wird es jedoch wohl nur schwerlich begeistern können. 

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9.  Thrice – Horizons / East

Spätestens seit ihrer Rückkehr nehmen Thrice verlässlich Platten von großmeisterlicher Souveränität auf – „Horizons / East“ bildet da erfreulicherweise keine Ausnahme. Dass Frontmann Dustin Kensrue dieses Mal eindringlich von bröckelnden Gewissheiten singt, darf dennoch als Hinweis an alle durchgehen, die sich vor der Altersmilde einer ehemaligen Sturm-und-Drang-Band fürchten. Klar, behagliche Gitarren-Ströme beherrscht das US-Quartett genauso mühelos wie aufbrandende Refrains, das macht Songs wie das erst anmutig torkelnde und schließlich explodierende „Dandelion Wine“ oder die knackige Deftones-Hommage „Scavengers“ jedoch nicht weniger beeindruckend. Schuld daran sind Details in den Texturen – die verdrehten Riffs in „Scavengers“ etwa – oder rhythmische Haken, die den umliegenden Wohlklang bestenfalls schaumig schlagen. Andere Songs experimentieren stilistisch, „Northern Lights“ mischt zum Gefrickel unruhigen Bar-Jazz, „Robot Soft Exorcism“ wiederum integriert thematisch passend synthetische Sounds. Im Finale „Unitive / East“ lösen sich Thrice gar spektakulär in einer fluoreszierenden Soundpfütze auf, in welche ein klimperndes Piano tröpfelt – mit dem Versprechen, bald mit den Nachfolger „Horizons / West“ zurückzukehren.

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10. Julien Baker – Little Oblivions

„Everything I get, I deserve / You whisper to me ‚Don’t you like when it hurts?’…“ Niemand leidet so schön wie Julien Baker. Die Musik der Singer/Songwriterin aus Tennessee ist ein offenes Buch, das in wunderschönen Worten von Depressionen, Alkoholismus, Zweifeln an der eigenen Spiritualität und zerbrochenen Beziehungen erzählt. Schon auf ihrem 2015er Debüt kümmerte sich Baker herzlich wenig darum, geneigten Hörer*innen Oden von der Freude vorzuträllern – ist schließlich ihr Album, sind ihre Probleme, also ist all das ihre Therapie. Und all jene, die den Werdegang der mittlerweile 26-jährigen US-Musikerin genauer verfolgen, wissen: daran hat sich über die Jahre nichts – und wenn, dann lediglich in Detailfragen – geändert. Auch „Little Oblivions“, ihr nunmehr drittes Album, erzählt von recht ähnlichen Problemen in ebenso schönen Worten – und trifft einen damit erneut mitten ins Herz. Was sich allerdings geändert hat, ist die Art, wie Baker das Lecken ihrer Wunden musikalisch aufbereitet. Wo „Sprained Ankle“ und „Turn Out The Lights“ in ihrer Spärlichkeit und desolaten Klanglandschaften fast schon nihilistisch wirkten (was umso ironischer gerät, wenn man weiß, wie offen Julien Baker ihren Glauben zur Schau stellt), erklingen in „Little Oblivions“ erstmals detaillierte, organische Orchestrationen, die den tröstenden Silberstreifen verbildlichen, der sich im Laufe der Platte immer wieder flüchtig manifestiert. „Little Oblivions“ beschreibt diesen Moment, sucht danach – und macht darin am Ende doch vieles wieder kaputt. Man lausche nur dem fulminanten Finale von „Hardline“! Baker findet immer wieder kurz Halt, nur um erneut vom destruktiven Strudel aus Selbstzweifeln und der schlichten Unfähigkeit, glücklich zu sein, hinabgerissen zu werden. „It doesn’t feel too bad / But it doesn’t feel too good either“ – Ihre Songs sind bittersüße Umarmungen, ein wohltuendes Bad in den eigenen Tränen, das auf „Little Oblivions“ mehr denn je dazu einlädt, kopfüber einzutauchen, während Julien Baker einem klammheimlich das Herz aus der Brust reißt. Katharsis und Destruktion, Erlösung und Zweifel lagen 2021 selten näher beieinander. 

…auf den weiteren Plätzen:

Kevin Devine – Matter Of Time II mehr…

Jim Ward – Daggers mehr…

Slut – Talks Of Paradise

Danger Dan – Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt mehr…

Wolfgang Müller – Die Nacht ist vorbei mehr…

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Moritz Krämer – Die traurigen Hummer (2021)

erschienen bei Tapete/Indigo-

Als Bob Dylan 2016 den Nobelpreis für Literatur gewann, setzte eine muntere Diskussion über den Sinn oder Unsinn dieser Entscheidung ein. Ein Musiker erhält die höchstmögliche Auszeichnung in der Welt des geschriebenen Wortes? Freilich mag diese Ehrung im Fall von His Bobness – je nachdem, wie tief man bisher ins reichhaltige Schaffen der Singer/Songwriter-Legende eingetaucht ist, je nachdem, wie fest die Fanbrille sitzen mag – durchaus verdient sein, mindestens ungewöhnlich war sie dennoch. Spinnt man die Idee ein wenig weiter und denkt über deutschsprachige Interpretinnen und Interpreten nach, die für einen Literaturpreis infrage kommen, dann dürften rasch Namen wie etwa Gisbert zu Knyphausen, Niels Frevert, Tom Liwa oder Sven Regener fallen. Wobei: Regener? Der hauptberufliche Frontmann von Element Of Crime stellt ohnehin einen Sonderfall dar, denn abseits seines anerkannt fulminanten musikalischen Outputs hat er sich über die Jahre auch einen Ruf als exzellenter Schriftsteller erworben und (s)einen eigenen popkulturellen Kosmos erschlossen – man denke nur an „Herr Lehmann“. Neben einigen anderen mehr sollte einer jedoch keineswegs vergessen werden: Moritz Krämer. Der legt mit „Die traurigen Hummer“ nun sein drittes Soloalbum vor und begeistert darauf nicht nur mit wunderbaren Songs, sondern eben auch einmal mehr mit herausragenden Texten.

Foto: Promo / Max Zerrahn

Krämer, normalerweise als ein Viertel der Indiepopper von Die Höchste Eisenbahn künstlerisch ordentlich ausgelastet, hatte 2011 mit „Wir können nix dafür“ ein durch und durch entzückendes Debüt veröffentlicht und 2018 sowie 2019 sein Doppelalbum „Ich hab einen Vertrag unterschrieben 1 & 2“ folgen lassen. Während beim Erstling der Funke dank einer Platte voll wundersamer Stadt-Land-Fluss-Beobachtungen am Abgrund sofort übersprang, benötigte sein zweites Werk einige Durchläufe, um zu zünden – was wohl auch daran liegen mochte, dass dieser Konzeptalbum gewordene musikalische Aufruf zum Widerstand gegen die Selbstausbeutung mit all seinen Liebe-und-Business-Reflexionen und Meta-Ebenen tatsächlich nach den Aufnahmen zu „Die traurigen Hummer“ entstand, einfach weil noch Zeit im Studio übrig war. Liest sich eigenartig? Ist aber so. Von daher: Herzlich willkommen in der herrlich verqueren Gedankenwelt von Moritz Krämer!

2021 macht der 41-jährige gebürtige Schweizer, der im Hochschwarzwald aufwuchs und einst ins wuselige Berlin kam, um Regisseur zu werden (und dieses Vorhaben in der Vergangenheit, abseits vom Musikalischen, auch bereits mit einigen Kurz- und Indie-Filmchen umgesetzt hat), es der geneigten Hörerschaft wieder deutlich einfacher. Die zehn neuen alten Songs gehen sofort ins Ohr, machen es sich dort gemütlich und gehen auch so schnell nicht mehr fort – ist ja Herbst, wer will bei dem Schmuddelwetter noch vor die Tür? Über die Spieldauer von rund vierzig Minuten ist es dabei insbesondere dieser charakteristische Tonfall, der den Sänger so einzigartig macht und einen Zeile für Zeile, Strophe für Strophe tiefer hineinzieht in diese ursympathische Form der musikalischen Darbietung. In der Wörter sich immer mal wieder soaneinanderschmiegendasssieganzohneleerzeichen gesungen, nein: weggenuschelt werden. Denn eben das beherrscht Moritz Krämer wie fast kein Zweiter: Nuschelliteratur. Auch wenn es in dieser nur am Rande um melancholische Schalentiere gehen mag…

„Viele sind immer im Urlaub / Viele schreiben ihren Roman / Viele kriegen gerade Kinder, kommen endlich an / Viele laufen jeden Tag / Viele in Paris, für Prada / Viele kaufen Bitcoins / Ich lieg‘ im Bett mit Kater…“ (aus „Rhythmus“)

Inhaltlich unternimmt der kreative Tausendsassa lakonische Ausflüge in allzu alltägliche, allzu menschliche Bereiche des Daseins, parliert über Versagensängste („Auffliegen“), den lieben Nachwuchs („Finster“), Gegenentwürfe zur heutigen Wegwerfgesellschaft (Verlieren“), über Depressionen und Eleganz („Schwarzes Licht“), über Verlust, Tod und Austauschbarkeit („Austauschbar“), über den Optimierungs- und Leistungsdruck der Freizeitgesellschaft („Rhythmus“), über Schuld und Unschuld, Pech und Glück sowie alle Graustufen dazwischen („Jeder muss gucken wo er bleibt“) oder die Flucht aus der Stadt („Jetzt“). Und immer wieder sind da feine und feinsinnige Texte wie im Auftaktstück „Nackt und einsam“, in dem er singt: „Deine Synapsen sind träge / Und du lachst ohne Grund / Wenn das deine Krankheit sein soll / Werd‘ bitte nie mehr gesund, nie wieder“. Klare Gedanken, diffuse Ängste, immanente Zweifel und sanfte Hoffnungen: Mitten aus dem Leben, das selten nur direkte Verbindungen kennt, kommen Krämers zeitlose Geschichten auf der Höhe des Zeitgeists, eben weil er konkrete und persönliche Geschichten abstrakt zu verpacken weiß. Manchmal, wie in „Beweisen“, besitzen sie gar die erzählerische Dichte eines Romans, immer wohnt ihnen eine sanfte, gen Optimismus gerichtete Melancholie inne. Diese Bilder, diese Sätze und Gedanken: „Ich war da, ich hab’ mich für irgendwas zurechtgemacht, was dann gar nicht kam“ – kaum vorstellbar, aber Krämer macht daraus eine der besten Popzeilen des Jahres. Ein Glücksfall für den zurückhaltend auftretenden, abseits der Bühne meist recht scheuen Sänger ist übrigens die Band, die er für das Album um sich herum gruppiert hat, denn Hanno Stick am Schlagzeug, Alex Binder am Bass und Andi Fins an den Tasten setzen die Ideen Krämers ebenso pointiert wie pfiffig um. Weitere Gastmusiker fügen sich souverän ein, auch das Duett mit Larissa Pesch in „Schwarzes Licht“ reiht sich nahtlos ein in diesen starken Songreigen, der häufig weitaus fröhlicher ausfällt, als es die Inhalte hergegeben hätten.

Jenseits seiner Solo-Aktivitäten hat Moritz Krämer mit Die Höchste Eisenbahn seit nunmehr drei Alben eine zusätzliche musikalische Heimat gefunden, die zu ihm und seinen Stärken uneingeschränkt passt, schließlich stimmt auch dort oft genug die Mischung aus Ideen, Texten und künstlerischer Freiheit. Dennoch beweist der kauzige Indiepop-Troudabour mit „Die traurigen Hummer“ einmal mehr deutlich, dass man sein Solo-Schaffen keinesfalls außer Acht lassen sollte. Denn dieser Mann, der so offenkundig ungerne im Mittelpunkt steht, hat sich mit seiner Klasse, die völlig frei von Prätentiösität, Muskeln, Lack und Fassade im Raum steht, das Rampenlicht überaus verdient. Auch, wenn er wohl ohne Literaturpreis leben müssen wird…

Rock and Roll.

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Song des Tages: Moritz Krämer – „Um raus zu sein“


musik und frieden, foto- christiane falk

Foto: Facebook / Christiane Falk

Die Behauptung, Moritz Krämer habe sich mit dem Nachfolger zum 2011er Werk „Wir können nix dafür“ (welches seinerzeit den Silberplatz in der ANEWFRIEND’schen Jahresendabrechnung belegte) Zeit gelassen, stellt schon an sich eine feine Untertreibung dar – immerhin liegt dieses bereits stolze sieben Lenze zurück. Und obwohl der Berliner Indie-Liedermacher in der Zwischenzeit alles andere als faul war und neben zwei Alben und der ein oder anderen Tournee mit seiner Band Die Höchste Eisenbahn, zu der neben ihm Francesco Wilking, Felix Weigt und Max Schröder gehören, auch einen Low-Budget-Film („Bube Stur“) dirigiert hat, wird’s nun so langsam – uufjepasst, Wortspiel! – „höchste Eisenbahn“ für neue Songs (zumal die nächste Platte seiner Hauptband wohl scheinbar bereits in den Startlöchern steht)…

51rCmYx2p+L._SS500Umso schöner also, dass Moritz Krämer mit „Ich hab‘ einen Vertrag unterschrieben 1&2“ nun ein neues (Doppel-)Album angekündigt hat, welches am 1. Februar 2019 erscheinen wird. Besser sogar: Der erste, acht neue Stücke starke Teil wird (digital) bereits in wenigen Tagen, am 30. November, zu hören sein.

Worum geht’s? Nun, wie man anhand der leicht verqueren Vorlieben des stets umtriebigen Künstlers bereits vermuten konnte, wird das Ganze konzeptionell wieder einmal etwas aus dem Rahmen fallen:

„‚Ich hab einen Vertrag unterschrieben 1&2‘ ist der Monolog eines düpierten Erzählers. Er glaubt hinters Licht geführt worden zu sein und schreibt Briefe an seinen Vertragspartner. Er will seine Schulden begleichen, überlegt wie er sich aus der Verantwortung stehlen kann. Dabei sieht er nochmal zurück, zur Seite, nach vorn, verliert sich und vergisst, was er eigentlich wollte.“

 

Mit „Um raus zu sein“ lässt Moritz Krämer schon jetzt einen ersten Vorgeschmack bebildert tönen:

 

Auf Tour wird Krämer zudem auch gehen, und im kommenden Jahr hier spielen:
07.03.19 Hamburg – Knust
08.03.19 Hannover – Kulturzentrum Faust (Mephisto)
09.03.19 Essen – Zeche Carl
10.03.19 Wiesbaden – Schlachthof
11.03.19 München – Ampere
13.03.19 Schorndorf – Manufaktur
14.03.19 Nürnberg – Club Stereo
15.03.19 Leipzig – Die naTo
16.03.19 Berlin – Lido
17.03.19 Dresden – Beatpol
18.05.19 Köln – Cardinal Sessions Festival IX

 

Rock and Roll.

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Song des Tages: Die Höchste Eisenbahn – „Gierig“


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Fakt ist: „Wer bringt mich jetzt zu den anderen“ ist eines der speziellsten, gleichzeitig aber auch eingängigsten und daher besten deutschsprachigen Indiepopalben des Jahres 2016.

Fakt ist auch: Die Höchste Eisenbahn ist ein musikalischer Zusammenschluss, welcher – zumindest in Deutschland – seinesgleichen sucht. Klar, solche Charaktere wie  Francesco WilkingMoritz Krämer, Felix Weigt und Max Schröder, die, zusammengenommen, schon so ziemlich alles von „Tatort“-Hintergrundbeschallung (Wilking, nachdem sich seine Band Tele aufgelöst hatte) über feinen, verspulten Singer/Songrwriter-Pop (Krämer), die andere Hälfte von Olli Schulz & Der Hund Marie (Schröder) bis hin zum Bandbetrag für die stets an den Nervenenden sägende Lena Meyer-Landrut (Weigt) gemacht haben, findet man so schnell nicht wieder ein einem Verbund.

Ja logisch ist das alles Fakt – und höchst subjektiv.

487595_z1Ganz und gar nicht subjektiv lässt sich feststellen, dass das, was 2012 einst als lose Idee für ein spontanes gemeinsames Konzert in Dresden zwischen Francesco Wilking und Moritz Krämer begann, vier Jahre später zur festen Band zusammengewachsen ist. Und dementsprechend klingt nun auch Album Nummer zwei: deutlich mehr „nach Band“, nach gemeinsamem Ideensammeln und Haareraufen im Proberaum, deutlich mehr aus einem Guss als noch das drei Jahre zurückliegende Debüt „Schau in den Lauf Hase„, welches damals vor allem Stücke enthielt, die hörbar entweder aus der Feder Wilkings oder Krämers stammten.

Im Jahr 2016 singen die beide Frontmänner des Vierergespanns auf den neuen Stücken von „Wer bringt mich jetzt zu den anderen“ deutlich öfter im Duett, greifen die Ideen und Einwürfe des anderen viel öfter auf, lassen so kaum mehr erkennen, wessen Hirnmasse der jeweilige Song den nun entsprungen ist. Klar sind die Texte noch immer ebenso liebevoll abwegig wie alltäglich wie – im Grunde – kitschig schön. Da singen sie mal von schrulligen Typen wie „Timmy“, der reich ist und irgendwie einsam, dafür jedoch eine riesige Villa auf den britischen Jungferninseln besitzt, mitsamt dem Klavier von John Lennon und einem Speisesaal, durch den Aras fliegen. Oder, wie in „Lisbeth“, von der einstigen Jugendliebe. Dazu spielen nun vermehrt krumme Orgeln, Flöten, ein paar Synthies größer als zuvor auf. Gut also, dass Wilking und Krämer mit Felix Weigt und Max Schröder zwei der begabtesten Multiinstrumentalisten der Republik (zumindest was Indiepop betrifft) zur Seite stehen und den beiden somit den Rücken fürs kreative Wortspiel freihalten.

Besonders schön: „Gierig“, welches chinesisch (?) anmutende Streicher im Gepäck hat und wieder so ein Mädchen, das wohl alles und nichts will, und wieder so einen verschrobenen Typen namens „Louis“, der außen ganz cool und lässig wirken mag, tief drin jedoch ein verunsicherter Softie ist, der immer die falschen Blumen kauft und es nicht übers Herz bringt, dem Mädchen sein Herz auszuschütten. Kitschig, oder? Und wäre das noch nicht genug, baut Halb-Italiener Wilking noch ein, zwei Zeilen über seine italienische Mama ein: „Meine Mutter war neu hier / Vierzig Jahre lang / Satellitenfernsehen / Dass sie überall hin bringen kann“ – 15 Worte, die wohl mehr über die irgendwann in den Sechzigern und Siebzigern nach Deutschland gekommenen Immigranten sagen als zehn Alben von Bushido und Co. Kitsch meets Pop meets Melancholie meets mediterraner Esprit meets Berliner Schnauze – ein riesiger bunter Culture Clash des Indiepop, gespielt von der „wohl kleinsten Supergroup der Welt“ (plattentests.de).

 

Hier gibt’s „Gierig“ samt Musikvideo…

 

…sowie in der auf die Akustische reduzierten „detektor.fm“-Session:

 

„Ist das deine Antwort?
Klar bin ich enttäuscht
Ich hab immer gehofft
Dass was nach uns kommt

Geh wenn du geh’n musst
Woanders ist nicht hier
Du verlässt mich nicht
Ich verletz‘ mich mit dir

Louis ist der Typ mit dem Auto
Louis ist der Typ, der dich abholt
Louis hatte immer schon Freunde
Louis gehört dir seit er 9 ist
Louis soll dir sagen: ‚Ich lieb dich‘
Louis sagt dir immer nur:
‚Sei nicht so gierig, sei nicht immer so gierig‘

Meine Mutter war neu hier
Vierzig Jahre lang
Satellitenfernsehen
Dass sie überall hin bringen kann
Du kannst nicht schlafen
Die Straße rauscht wie ein Meer
Die letzte Telefonzelle
Bis ein Betrunkener heim fährt

Louis ist der Typ mit dem Auto
Louis ist der Typ, der dich abholt
Louis hatte immer schon Freunde
Louis gehört dir, seit er 9 ist
Louis soll dir sagen: ‚Ich lieb dich‘
Louis sagt dir immer nur:
‚Sei nicht so gierig, sei nicht immer so gierig‘

Wir schlagen Haken
Rechts und Links
Die einen werden bezahlt
Und die ander’n wollen gewinnen

Louis ist im Laden und kauft Blumen
Louis kauft immer die falschen
Die kann er behalten

Sei nicht so gierig, sei nicht immer so gierig
Sei nicht so gierig, sei nicht immer so gierig
Sei nicht so schwierig, sei nicht immer so schwierig

Sei nicht so traurig
Bist nirgendwo allein
Jemand, der an dich denkt
Und du wirst zu Hause sein…“

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , ,

Die Höchste Eisenbahn, Desiree Klaeukens & André Baldes im Musikbunker, Aachen, 11. Februar 2014: Ganz alltägliche Charmegranaten…


Die Höchste Eisenbahn

Die Tücken des Tourneealltags… Da kommt Francesco Wilking, die eine singende Frontmannhälfte der Höchsten Eisenbahn, einmal zu spät zum Soundcheck des Tourstopps im Aachener Musikbunker, und dann das! Weder ist ihm klar, wo zum Teufel sich denn der richtige Eingang befindet (ich kenne das Problem, ging es mir doch vor einigen Monaten als Besucher kaum anders), noch trifft er jemanden an, der ihn herein lässt. Auch die bereits wohl emsig probenden Bandkollegen Moritz Krämer, Felix Weigt und Max Schröder kann er telefonisch nicht erreichen (Handyempfang vs. Bunkerkatakomben – keine gute Paarung!). Nur durch Gevatter Zufall gewährt im ein Hausmeister Eintritt. Und der weiß darauf nicht einmal, wo im Gelände denn für gewöhnlich die Konzerte stattfinden (!). Um eines vorweg zu nehmen: Am Ende hat Wilking seine Band dann doch noch gefunden…

Wohlmöglich mag das der Grund für die leichte Verspätung gewesen sein? Und auch die Reihenfolge der drei angekündigten Bands scheint irgendwie durcheinander geraten zu sein. So betritt nicht der als „Lokalmatador“ agierende Aachener Musiker André Baldes als Erster die Konzertbühne, sondern Desiree Klaeukens. Am Ende ist dieser Tausch jedoch keine so schlechte Wahl, denn müsste man die Songs der Wahl-Berliner und gebürtigen Duisburger Liedermacherin mit wenigen Worten beschreiben, so würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit folgende Begriffe besonders oft fallen: zart, anschmiegsam, herzwarm und unaufdringlich. Und in der Tat benötigt die Endzwanzigerin einige der etwa dreißig Auftrittsminuten, um mit dem anwesenden Konzertpublikum – bis zum Ende des Abends ist der Raum gut gefüllt – warm zu werden. Bei den ersten Stücken ihres kürzlich erschienenen Debütalbums „Wenn die Nacht den Tag verdeckt“ blickt Klaeukens meist ein wenig verschüchtert zu Boden, sucht Orientierung beim mitgereisten Gitarristen (normalerweise hat sie deren zwei dabei, nur heute eben nicht, da der andere „arbeiten musste – mit Musik verdient man ja heutzutage kein Geld mehr“, wie sie nur halb scherzhaft zugibt) und taut er langsam auf. Dann jedoch erzählt sie kleine Anekdoten über die Songpräferenzen des älteren Teils ihres Konzertpublikums (die mögen das Stück „Züge“ wohl, weil es so „schön schunkelig“ sei), von der kürzlichen Heimat-Stippvisite bei ihren Eltern in Duisburg oder den unverschämten Wucherpreisen ihres Albums beim Onlinehandelsriesen mit dem „A“. So oder so – am Ende hat Desiree Klaeukens, zu deren Fans, den formidablen Reviews des „Spiegel“ oder „Musikexpress“ nach zu urteilen, nicht nur die bundesdeutsche Musikpresse, sondern auch bekannte Musikerkollegen wie Niels Frevert, Tom Liwa oder Gisbert zu Knyphausen zählen, die anwesenden Studenten und Pärchen, aber auch die grau melierten Besucherteile scheinbar von sich überzeugt. Selbstbewussteren Auftritten der gelernten KfZ-Mechanikerin (!) sollte also nicht im Wege stehen – schon gar nicht die Qualität ihrer Songs, in denen sie mit einer Menge sprödem Charme von den kleinen und großen Dingen im Leben, vom zähen Ringen mit der Liebe und von unausweichlichen Abschieden erzählt. Auch André Baldes macht nicht all zu viele Worte um seine Musik. Muss er auch nicht. Gemeinsam mit seinem Bassisten und Schlagzeuger lässt er, der sich auf seiner Homepage nicht eben unzutreffend als eine „Mischung aus Dave Matthews, Damien Rice und Clueso“ inklusive „einer markanten Stimme und intelligenten deutschsprachigen Texten“ beschreibt, die Stücke seines vor wenigen Monaten veröffentlichten Albumdebüts „Vorhang und Statisten“ für sich sprechen. Zwar fehlt da und dort noch der vielbeschriebene „zündende Funke“ zum Erfolg, insgesamt jedoch können sich Baldes und seine Musik durchaus hören lassen.

Gegen 22.30 Uhr ist es dann aber Zeit für die Hauptband des Abends, Die Höchste Eisenbahn. Wie Desiree Klaeukens und André Baldes veröffentlichte auch das Berliner Quartett vor wenigen Wochen sein Debütwerk „Schau in den Lauf Hase„. Dabei sind Francesco Wilking (als Frontmann der Indiepopper Tele und solo), Moritz Krämer (solo), Felix Weigt (als umtriebiger Multiinstrumentalmusiker für Kid Kopphausen oder Lena Meyer-Landrut) und Max Schröder (unter anderem bei Tomte, als „Olli Schulz & Der Hund Marie“, nur als „Der Hund Marie“ oder unter eigenem Namen und dem Zusatz „& Das Love“ musizierend) freilich alles andere als grünschnäblige Newcomerkücken. Gut, klar – das ließe sich bereits an ihrem Äußeren vermuten, das mal munter verschlurft im Norwegerpulli und RUN DMC-Shirt (Wilking), mal mit norddeutsch adretten Cardigan-Flair (Weigt), mal mit holzbehauenem Fünfeinhalb-Wochen-Bart (Schröder) oder als unscheinbare grau verhuschte-verspulte Pulli-Maus (Krämer) daher kommt. Doch schon nach dem Setlist-Einstieg mit dem Krämer-Song „Aliens“ wird klar: Die Vier muss man einfach mögen! Dabei zieht die Band gar keine große Show ab. Im Gegenteil: Die Höchste Eisenbahn wirkt auch auf der Bühne so herzlich normal und unaffektiert, dass man fast meint, man wäre Gast bei einer ihre Proberaum-Sessions. Dabei ziehen die vier Musiker ihre, neben dem kiloweise vorhandenen Charme, wohl größte Trumpfkarte, ihre Professionalität, aus dem Ärmel, würzen mit dieser jedes gespielte Stück nach, bis es um ein Vielfaches besser und homogener als auf Konserve klingt (und dabei war das, was man da hören konnte, schon nicht von schlechten Eltern!), wechseln munter zwischen den Instrumenten hin und her (bis auf Schröder, der fest hinterm Drumkit klemmt) und garnieren die Pausen zwischen den Songs mit amüsanten Unterhaltungen, bei denen jedoch jeder seinen festen Platz zu haben scheint: Weigt als Animateur aus dem Hintergrund, Wilking als Band-Regisseur, Krämer als stiller Kommentator und Schröder als lauschende Stimme aus dem Off. Auch das Publikum wird mit Refrain-Gesängen bei „Was machst du dann“ eingebunden, darf zum großen „Raus aufs Land“ träumend die Lippen bewegen, das tierische Ratespiel aus „Isi“ weiterspinnen, bei „Allen gefallen“ erleben, wie die Band die Synthesizerflächen der Albumvariante durch deutschpoppende Postrock-Wände á la Casper (of „XOXO“-Fame!) ersetzt oder den regulären Abschluss „Die Uhren am Hauptbahnhof“ – samt der auf Italienisch gesungenen Passagen von Francesco Wilking! – noch minutenlang nachklingen lässt. Nach 90 Minuten und „Der Himmel ist blau“ (von der 2012 erschienenen „Unzufrieden EP„) als letztem Zugabenstück ist Schluss. Bis dahin hatte die Höchste Eisenbahn freilich fast alle bislang gemeinsam geschrieben Lieder zum Besten gegeben – ist doch Ehrensache!

(An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der an diesem Abend anwesende und zuständige Tontechniker selbst für die nicht eben schlechte Akustik des Musikbunkers einen ganz ausgezeichneten Job gemacht hat, was nur noch mehr zu einem rundum gelungenen Konzertabend betrug… Danke.)

Tour 2014

 

 

Konzertimpressionen? Bekommt ihr hier:

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Hier kann man sich die Musikvideos zum „Eisenbahn“-Song „Was Machst du dann“…

 

…und das zu Desiree Klaeukens‘ Lied „Warm in meinem Herz“ (welches bei Gefallen aktuell sogar hier zum kostenlosen Download bereit steht) anschauen:

 

Rock and Roll.

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