
Hach ja, der ESC. Da kann sich der Gesangswettbewerb formally known as „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ noch so sehr wandeln und häuten und rundumerneuern, ein paar Dinge haben schonbar seit Jahr und Tag Bestand: Peter Urban moderiert die ganze Chose in der übertragenden ARD zwar stets etwas großväterlich, aber mit ehrlicher Pathosbefreitheit runter, die Wettbüros behalten mit ihren Prognosen nahezu immer recht – und Deutschland, Germany, l’Allemagne holt sich mit hinterletzten Plätzen beim Lied- und Gesangswettstreit der Europäischen Rundfunkunion, an welchem aus unerfindlichen Gründen seit 2015 auch der zwar ferne, jedoch scheinbar gefühlt nahe Nachbarstaat Australien teilnehmen darf, alljährlich immer neue peinliche Nackenschläge ab (freilich nur kurz vom erstaunlichen Sieg anno 2010 mit Lena Johanna Therese Meyer-Landruts Stefan-Raab-Überhit „Satellite“ sowie den rückblickend überaus respektablen 8. beziehungsweise 4. Plätzen für Künstler wie Roman Lob und Michael Schulte unterbrochen, die dann wiederum 2012 und 2018 stattfanden). Nagt’s am teutonischen Selbstverständnis, dass man für solche Niederlagen nicht mal mehr einen Fussball oder irgendwelche Wirtschaftsprognosen benötigt? Dass man über die potentiellen Gründe für die scheinbare Abneigung gegen „uns Deutsche“ ganze Bücher lang vortrefflich mutmaßen und debattieren könnte? Ach, lohnt nicht, Darling! Ein, zwei Traditionen sollten sich bewahren…
Und dieses Jahr? Triumphierte gestern eine Frau, die ein fleischfarbenes, wohl aus ihrer eigenen Lederchaiselongue zusammengeschustertes Outfit, Henna-Verzierungen und sehr, sehr lange Fingernägel trug, selbst in den Momenten der größten Spannung wie Billie Eilishs von Schlaftrunkenheit und nebulösen Stoffen achtsam sedierte ältere Schwester wirkte und sich auf der großen Bühne aus einer engen „Sonnenbank“ (Peter Urban) befreite. Loreens Lied „Tattoo“, mit viel Zielbewusstsein von ganzen sechs Autoren geschrieben, beginnt nicht gänzlich ohne Absicht mit einer fast schon Abba’schen Wendung: „I don’t wanna go / But baby, we both know/ This is not our time / It’s time to say goodbye.” – noch mit das Beste an der auf Finalsieg getrimmten Drei-Minuten-Nummer. Sei’s drum, die schwedische Musikerin ist jetzt der einzige Mensch neben Johnny Logan, der den Eurovision Song Contest zweimal gewonnen hat – erstmals 2012 mit „Euphoria“ (welches, so viel Ehrlichkeit sollte im Vergleich mit dem diesjährigen Stück nunmal sein, doch deutlich mehr Ohrwurmpotential besaß).
Und dahinter? Belegte der Finne Käärijä, rein optisch ein irrer Hybrid aus dem teutonischen Hippe-di-Hopp-Rapper Haftbefehl und CSD-Techno-Freund, mit der populistischen Gaga-Tanzroutine „Cha Cha Cha“ den zweiten Rang. Noch weiß man, dass diese ulkige Type sich zu Beginn des Bühnenvortrags mit irrem Blick und massig Elan aus einer Bretterbude befreite und, schenkt man dem vorangegangenen Vorstellungseinspieler Glauben, scheinbar recht gern in einer Riesenradkabine sauniert. Wird wohl alles schnell vergessen werden… Apropos „raus aus dem Hirn-Zwischenspeicher“: Auf dem dritten Platz landete die Israelin Noa Kirel mit „Unicorn“, deren auf ansehnliches Tanzspektakel gemünzte Inszenierung irgendwo zwischen J.Lo, Shakira und Ariana Grande zwar wahrscheinlich die überzeugendste des diesjährigen Show-Wettbewerbs war. jedoch offen ließ, was all das nun mit „Female Empowerment“, also mit weiblicher Selbstermächtigung, zu tun hatte. Andererseits: Einhörner will einem ja auch keiner näher erklären, also sei’s drum, is‘ alles nur schön anzuschauende Schau für den juxen Moment. Und: genau diese Treppchen-Platzierungen wurden von den Buchmachern eben vorher angekündigt. Gähn.
Praktisch war außerdem, dass der „Eurovision Song Contest“ ausgerechnet bei den Brexitern in good ole England stattfand, schließlich hatte sich das Augenmerk der gut behüteten Promi-und-Unterhaltunsgwelt ja erst eine Woche zuvor für die lang geplante Inthronisierung von Prinz, ähm… König Charles III. dahin gerichtet. Kaum waren also die Krönungsfeierlichkeiten in London abgeschlossen, verlagerte das öffentliche Interesse einfach den Schauplatz etwas weiter nördlich: Der ESC wurde von der BBC in Liverpool stellvertretend für die im Vorjahr – wohl auch mit einem guten Überpfund Solidarität – erfolgreiche Ukraine ausgerichtet, da solch ein Wettbewerb in einem im Krieg befindlichen Gebiet wohl keine allzu gute Idee abgegeben hätte. Daher erfuhr der geneigte Zuschauer eine Woche lang, dass Liverpool die Geburtsstadt der Beatles ist (ach nee!) und dass die Bürger von Liverpool keine Engländer, sondern „Liverpudlians“ und „Scousers“ sind – und stolz darauf (ach so!). Außerdem sind sie herzlich (ach ja?). Und hierzulande wurde die Stadt am River Mersey nur in einem Satz erwähnt, wenn dieser daraufhin auch „Jürgen Klopp“, neben Ratebespaßler Günther Jauch aktuell Deutschlands sympathischstes Werbemaskottchen Nummer eins, enthielt.
Aber ich schwof einmal mehr ab… Camilla und Charles eröffneten also die prall mit Fahnen wedelndem Publikum gefüllte Arena bei den Royal Albert Docks, und am Anfang der Fernsehübertragung spielten unter anderem Herzogin Kate und Andrew Lloyd Webber auf dem Piano einige Kadenzen von „Stefania“, dem ukrainischen Gewinnersong des letzten Jahres, bevor das experimentell gekleidete Kalush Orchestra das Lied auch noch einmal in der Halle aufführte. Und jetzt haben wir genug von der Flöte – und zwar auch von selbiger, die der kleinwüchsige Mann zwischen Trommlern und Amazonen für Moldau blies! (Ein „Skandal“ ist übrigens nur das, worüber man, bei allem Irrsinn dieser Tage, nicht selbst mit einem Auge zwinkern kann…)
So kommentierte sich Peter Urban in seiner letzten ESC-Sendung vier Stunden lang tapfer durch die Postkartenansichten von Rathäusern, Brücken und Bibliotheken von Großbritannien, den jeweiligen 26 Finalbetragsländern und der Ukraine. Die Toiletten, hatte Urban vorher angemerkt, lagen dicht an der Sprecherkabine. Pickepackene 240 Minuten, 14.400 Sekunden dauerte die Show, die durch das Abfragen der sogenannten Jury-Stimmen aus jedem Land traditionell einmal mehr gen Ende etwas in die Länge gezogen wurde (obwohl die Verantwortlichen hier mittlerweile gewinnbringend gekürzt haben). Wenig überraschend einigten sich diese „Experten-Jurys“ mit überwältigender Mehrheit auf Schwedens Loreen – und dieses Votum wurde, ebenso wenig überraschend, auch von der öffentlichen Meinung, den Publikumsstimmen, der Vox Populi, nicht wirklich gewendet. Hinter Loreen und Finnlands technoider Antwort auf Haftbefehl, Käärijä: ein großer Abstand zum israelischen Pop-Sternchen Noa Kirel und dem Italiener Marco Mengoni mit „Due Vite“, nebst dem hübsch anzuhörenden Schweizer Betrag einem der wenigen traditionellen Lieder im Wettbewerb.
Apropos „Zum ESC bestellen wir uns ’ne Pizza!“: Italien ist das einzige Land der „Big Five“, also der immer schon qualifizierten europäischen Staaten, das schlußendlich auf dem Tableau reüssierte. Frankreich und Spanien, Großbritannien und Deutschland scheiterten mal mehr, mal minder spektakulär mit – wie soll man’s schreiben? – gewollten Beiträgen, die am Ende nahezu keiner wollte. Chris Harms, der Sänger von Lord Of The Lost, liest immer die letzte Seite eines Buches zuerst. Daher hätte auch er gern vorher gewusst, wie der Wettbewerb schlussendlich ausgeht. Mit dem letzten Rang für selbige Lord Of The Lost nämlich. Die Dark-Rock-Band aus Hamburg-St. Pauli wirkte wie aus Versehen in die große Arena geraten. Harms rief „Liverpool, make some noise!“ in eine Halle, in der seit zwei Stunden nur ausgelassener Lärm herrschte. Am Ende waren „Blood & Glitter„, rote Lack’n’Leder-Outfits (die vor allem den Frontmann wie eine neu entdeckte Moskito-Abart aussehen ließen), Feuershow, an der stählernen Rammstein-Fibel geschulte Rrrrrrock-Rifferei und Screamo-Einlagen mickrige 18 Pünktchen wert – da kann die fünfköpfige Truppe wohl, bei aller Mittelmäßigkeit ihres Songs, am wenigsten für. (Noch lustiger war übrigens der Fakt, dass zwei der insgesamt drei Jury-Punkte ausgerechnet aus dem verschrobenen Island kamen und der Präsentator der Punkte seine astreine S&M-Vermummung nicht ablegte. Ach, Island…) Vielleicht war die Reimbarkeit des Titels auf „Glatt und bitter“ zu sehr böses Omen? So nämlich kommentierten Olli Schulz und Jan Böhmermann, ja nicht erst seit gestern beste „Fest & Flauschig“-Podcast-Buddies, das Stück ahnend für den österreichischen ORF. Vielleicht hätte der NDR, anstatt Lord Of The Lost (die den Vorentscheid knapp vor Ikke Hüftgold gewannen und Liverpool somit nur hauchdünn vor einer Überdosis Ballermann-Verblödung bewahrten), wohl eher Böhmermann und seinen tatsächlich verdammt guten, einmal mehr ebenso toll musikalisch ausstaffierten wie mit einem Augenzwinkern garnierten Songbetrag „Allemagne Zero Points„, der mit seiner Veröffentlichung vor ein paar Tagen freilich bewusst zu spät kam, gen England schicken sollen? Nun, verehrte bundesdeutsche Auswahljury: der „blasse dünne Junge“ wäre doch ’ne Idee fürs kommende ESC-Jahr! Schlimmer kann’s nun eh kaum noch kommen… Und nehmt Barbara Schöneberger bitte, bitte endlich den Schlüssel zu ihrem Kinderkirmes-Ankleidezimmer weg! Und bitte, bitte, bitte haltet es nie, nie, nie wieder für eine gute Idee, Elton die Jury-Punkte präsentieren zu lassen, schließlich mag nun mindestens halb TV-Europa denken, dass der ehemalige Raab-Sidekick der schönste und witzigste Mann aus Teutonien sei. Wie wär’s denn mit Ingo Zamperoni? Oder meinetwegen eben Günther Jauch oder Jürgen Klopp?
Natürlich, erst hinterher ist man wirklich schlauer, und auch die diesjährigen geprügelten Hunde von Lord Of The Lost wissen, zumal als Söhne Hamburgs, nun: Du kannst vieles planen, aber der wandlungsfähige Eurovision Song Contest ist in manchem Moment wie die hohe See.
Und wo, kurz vor Ende dieses von Zeitgeist geprägten Artikels erneut der Name der Hansestadt fiel, hier noch etwas Wissensvermittlung: Mit insgesamt 2.500 Brücken ist Hamburg Europas Stadt mit den meisten Brücken und stellt Venedig, welches über lediglich rund 400 Brücken verfügt und damit in dem Ranking nur den fünften Platz belegt, klar in den Schatten. Wusste man? Oha, Chapeau! Und bei aller Nähe zum Wasser sei mir da noch ein letzter Brückenschlag gestattet, denn nun geht – ohne eine Träne, dafür mit amtlicher Würde – der deutsche Kommentatoren-Bootsmann, der jede Ausgabe des ESC seit 1997 mit seiner bestens bekannten Stimme sowie mit dem ein oder anderen zutiefst ehrlichen Einwurf begleitete, von Bord – und das sei ihm, auch schon stolze 75 Lenze alt, freilich gleichsam gestattet wie gegönnt. Passenderweise verabschiedete sich der noble Peter Urban daher gestern ohne Umschweife: „Es war mir ein Vergnügen und eine Ehre. Ihr Peter Urban.“ Wegen zweier Dinge wird er ab dem kommenden ESC-Jahr vor allem fehlen: Peter Urban war niemals borniert. Und er war (beinahe) niemals pathetisch. Im Zweifel waren das die bemerkenswertesten deutschen Leistungen beim wohlmöglich pathetischsten Fest der Welt (nach der Krönung).
Rock and Roll.