Ok Kid – Ok Kid (2013)
-erschienen bei Four Music/Sony-
Hand aufs Reimemonsterherz: Wieviel hat der HipHop von Heute noch mit dem der Neunziger gemeinsam? Wieviel Bling Bling, Baggy Pants, dicke Protzkarossen, arschwackelnde, knapp bekleidete und doppelt überschminkte – Vorsicht: Jargon! – „Bitches“, windschiefe Kappen und breitbeinige Potenzposen finden heutzutage noch in den oberen Rängen des Deutschraps statt? Natürlich gibt es noch immer jene Unverbesserlichen, die meinen, dass ihnen ihre auf Billigkonservenbeats gestammelten Provokationssalven das Koks der nächsten Monate sichern würden. Doch der Großteil der „Generation HipHop“ hierzulande – altersmäßig irgendwo zwischen Anfang Zwanzig und Mitte Dreißig einzuordnen – hat mit „Entdecke die Möglichkeiten!“ das Motto eines schwedischen Möbelhauses beim Wort genommen und probiert nahezu scheuklappenfrei munter allerlei musikalische Spielarten aus. Rhymes’n’Lines zu GitarreSchlagzeugBass und/oder Piano? Beatkulissen, über die sich sanfte Postrock-Gewitter legen? HipHop zu akustischer Instrumentierung? Popmelodien mit Herz und Hirn? Alles geht, nichts muss… Deutlichster Beleg für diesen Drang nach organischen, authentischen Klängen dürfte wohl sein, dass längst niemand mehr sagen kann, wann, wie und mit wem all das wirklich angefangen hat. Mittlerweile musizieren Deutschrap-Ziehväter wie die Fantastischen Vier mit vielköpfigen Begleitbands in Höhlen, nehmen ehemalige Underground-Provokateure wie Prinz Pi beinahe komplett erwachsene Akustik-Alben auf, oder feiern erfahrene Hardcore-Shouter wie Casper vor einem Tausendpublikum große, bandgewordene Raprockorgien – der eine Arm immer zum Bouncen, der Kopf zum Denken und Bangen bereit. Gruppen wie die Chemnitzer von Kraftklub gehen sogar noch um Einiges weiter und winkeln ihren energetisch enervierenden, international festivaltauglichen Sprechgesang gänzlich um eine komplette Rockinstrumentierung… Am deutlichsten wird die Verschiebung weg vom puren, platten Posertum jedoch in den Texten: Diese „Generation HipHop“ – sie denkt, sie fühlt, sie zweifelt. Und so sprechsingen beinahe ganzkörpertätowierte, bärtige junge Männer über Schwächen und Ängste – und sprechen damit einer ganzen sinnsuchenden Generation, die nie einen Krieg erlebt, aber mit dessen Altlasten ebenso klar kommen muss wie mit Schnelllebigkeit und wohlstandsgenährter Sinnfreiheit, aus der Seele. Wohin gehen wir heute – und wie geht’s morgen weiter? All diese Fragen…
Und in diese Klanglandschaft, in dieses Umfeld passen Ok Kid nur zu gut. Allein schon der Name: Eindeutig angelehnt in die zwei wegweisendsten Alben der großen, experimentellen Rocksinnsucher, Zweifler und Erneuerer von Radiohead – „Ok Computer“ und „Kid A“. Doch allein dieser Hinweis bringt hier wenig. Denn schon vor der Wahl ihres aktuellen Bandnamens bewiesen sich die Wahlkölner Jonas Schubert (Stimme), Raffael „Raffi“ Kühle (Beats) und Moritz Rech (Keyboards) als jona:S jahrelang im HipHop-Umfeld ihrer Heimatstadt Giessen, veröffentlichten zwei EPs („Elektrisch“ 2009 und „Grau“ im Jahr 2011), sammelten allerhand Festival- und Bühnenerfahrungen und gewannen gar kleinere Musikauszeichnungen. Als 2012 dann das damalige Quintett zum Trio schrumpfte, nutzen die drei die Gelegenheit zur namentlichen wie musikalischen Umstrukturierung, gaben althergebrachte Beatzöpfe für mehr Offenheit im Klangbild auf und liessen noch mehr als den eh schon verhandenen Verstand in die Texte einfliessen.
Mit „Ok Kid
“ liegt seit April nun das erste Zeugnis dieser Wandlung auf Albumlänge vor. Und natürlich erfinden die dreizehn Stücke das musikalische Rad keineswegs neu, sondern basteln unter Zuhilfenahme erprobter Produzenten – Robot Koch (u.a. Casper, Materia) und Sven Ludwig (u.a. Roman Fischer, Puppet Masters) – an ihrer eigenen kleinen Nische. Die darf man zwar durchaus noch im HipHop verorten, dennoch ist Vieles hier meilenweit weg von bloßer Phrasendrescherei. Das komplette Album wird durchzogen von einer nachdenklichen Grundstimmung, die auch schon „XOXO
„, das letztes Werk von Labelkollege Casper, so überzeugend und glaubhaft erscheinen ließ. So huldigt Jonas in „Stadt ohne Meer“ doppeldeutig den grauen Fassaden der Heimatstadt Giessen („Und Du riechst immer noch nach gestern / Ohne Glanz und Stil / Nicht gewaschen, nicht poliert / Doch… ich will Dich nicht verbessern / Denn niemand passt besser zu mir als Du.“), zieht in „Verschwende mich“ und dem tollen „Kaffee warm“ („Und schon wieder dieses kopfzerfickende Gefühl / Dieses: Ich will nicht, dass Du weißt, dass ich nicht weiß, was ich will.“) kapitulierende Schlussstriche unter gescheiterte Beziehungen, kämpft im Opener „Allein, zu zweit, zu dritt…“ tapfer gegen die eigene Orientierungslosigkeit an („Hauptsache weitermachen / Auch wenn die Nachbarn sagen, es wäre besser einzupacken / Denn es ist niemand da, der dir das Wasser reichen kann / Weil du noch viel zu durstig bist / Dein Atem ist noch viel zu lang.“) oder schildert im pianogetränkten Abschluss „Mehr Mehr“ die innere Zerrissenheit einer Jugend inmitten von Reizüberflutung und Rastlosigkeit („Sind nach außen perfekt, innerlich für’n Arsch / Woll’n das Gefühl wieder haben, wie es früher mal war / Und wir feiern, und wir feiern, und wir feiern uns selbst / Sind zu groß für uns’re Stadt, doch zu klein für die Welt.“). Damit all das nicht zum Bezug unterhalb der Trauertapete der „neuen Weinerlichkeit“ verkommt, variieren das Trio und seine Helfer den Bandsound zwischen gewollt poppig-plakativ, melodiös und gekonnt rotzig-rockig, lassen aber auch kleine Synthie-Albernheiten und traditionelle Skits mit einfliessen. Gastspiele geben der Österreicher Gerard (in „Wenn der Tag abreist“) und Olli Banjo (unter desen Rock-Pseudonym „wunderkynd“, in „Heile Welt“), und wer bei postrockenden Gipfelstürmern an Casper und bei vertrackt-verschleppten Beatmonstern an Materia denken muss, der liegt wohl keineswegs falsch. Ansonsten in der Referenztrommel: The Streets und Massive Attack (die vertriphopten englischen Einflüsse), Cro, Prinz Pi, Kraftklub und Clueso (der Popfaktor für’s nationale Musikgemüt) – keinesfalls die schlechteste Gesellschaft.
Mit ihrem selbstbetitelten Debütalbum hinterlassen Ok Kid bereits deutlich mehr als eine flüchtige, 54-minütige Duftmarke in der deutschen Musiklandschaft. Und auch wenn hier noch nicht jedes der dreizehn Stücke auf gleichen Niveau zu punkten weiß, bieten Jonas, Raffi und Moritz Unterhaltung für Herz und Hirn auf einem Album, dass sowohl im Frühling Hoffnung schöpfen lässt, als auch im Sommer zum Feiern des Jetzt und im Herbst zum Grübeln über den Morgen danach die passenden Soundtracks liefert. Und im Winter? Nun: Am 27. September erscheint das neue Casper-Album „Hinterland„… Doch bis dahin könnte wohl kaum ein Album besser diesen fest eingeplanten Platz im Herzen warm und frei halten. Songs übers Mutterficken und abgedrehten Brutaloscheiß? Nichts als der dröge Dunstkreis der Bushidos und K.I.Z.s dieser Republik könnte Ok Kid ferner liegen… Willkommen im Jahr 2013. Willkommen in der neuen Ernsthaftigkeit der „Generation Vielleicht“. Wer hören will, darf tanzen. Wer denken will, darf fühlen. The kid is alright…
Hier kann man in alle Stücke des selbstbetitelten Debütalbums von Ok Kid reinhören…
…und sich die Musikvideos von „Stadt ohne Meer“…
…“Verschwende mich“…
…“Kaffee warm“…
…und eine Sessions-Variante des Albumabschlusses „Mehr Mehr“ ansehen:
Rock and Roll.