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Rock and Roll.
Fotos: Ben Palhov / ECM Records
Sie heißen Oded Tzur, Nitai Hershkovits, Omer Klein oder Adam Ben Ezra – Israels Jazzkünstler sorgen, wie man liest, unter distinguierten Musikfreunden derzeit für Höhepunkte und kleinere Jubelstürme bei gutem Wein oder einem Schwenk Whiskey. Auf „Big Vicious„, dem neuen Album des gefeierten Trompeters Avishai Cohen und seiner gleichnamigen Band, ist ausgeklügelter, elektronischer Jazz zu hören, der sich – da hört her! – wohl perfekt als Soundtrack von Ausgangsbeschränkungen und ausgestorbenen Innenstädten eignen würde.
Fünf Männer auf einer Bühne zeigt das Cover von „Big Vicious
“ – versunken, in sich gekehrt, auf das Innere, die Seele hörend. Zwei Schlagzeuger und zwei E-Gitarristen. Vorne steht der bärtige Trompeter, den Kopf gesenkt, das Instrument in seinen Händen funkelt. Dunkel und freundlich ist diese Grafik – in höchstem Maße ebenso nebulös wie mysteriös, aber keineswegs bedrückend. Geschaffen wurde sie von derselben Künstler-Agentur, die sich auch für die Animation des preisgekrönten Dokumentartrickfilms „Waltz With Bashir“ verantwortlich zeichnet.
Als wäre sie schwarz-weiß, vielleicht auch sepiafarben – so klingt diese Musik, an der lange getüftelt wurde, unter anderem mit dem Elektronica-Produzenten Rejoicer aus Tel Aviv (und schließlich mit Produzent Manfred Eicher in den Studios La Buissonne in Südfrankreich). Rejoicer empfahl den Musikern auch, mehr wegzulassen, sich aufs Wesentliche zu beschränken: „Wir haben uns sehr darauf konzentriert, was wir nicht haben wollten. Nicht zu viele Informationen, das war unsere Richtschnur. Nur nicht wieder zuviel von allem Möglichen – das haben wir beim Schreiben und während der Produktion ständig berücksichtigt. Eine überaus bewusste Entscheidung.“
Es ist feiner, elektronischer Jazz, den Avishai Cohen und seine Mitstreiter präsentieren: melancholisch-gebrochene Musik, in der man sich tagträumend einrichten kann. Ob „Big Vicious“ als Soundtrack zur Corona-Krise taugt? Schließlich wurde auch in Israel eine Ausgangssperre verhängt, ist das öffentliche Leben hier ebenfalls nahezu zum Erliegen gekommen. Der Musiker mit Vollbart, Tattoos am Hals und Ringen an den Fingern, der optisch irgendwie anmutet wie der lange verschollene Bruder von US-Folk-Troubadour William Fitzsimmons, nickt. Jetzt gehe es vor allem darum, sagt er, ruhig zu bleiben und abzuwarten. Wer das nicht könne, solle sich selbst hinterfragen.
Das Kunstvolle an diesen elektroakustischen Klanggebilden ist ihre Reduziertheit. Nur ein Sound-Skelett ist zu hören. Dem setzt Trompeter Cohen mit makellosem Ton funkelnde Glanzlichter auf. Bisher kannte man den Musiker als gefeierten Interpreten von Jazz-Standards, also amerikanischer Musik. Cohen wiegelt ab. Er habe immer schon elektronische Musik gemacht, nur kaum etwas davon veröffentlicht: „Amerikanischen Jazz gibt’s im Grunde gar nicht. Jazz ist amerikanisch, weil er da entstanden ist. Natürlich kann man auch in Europa Jazz spielen.“
Neben einer Variation von Beethovens „Mondscheinsonate“ gibt es wohl kaum Zweifel, welches Stück einen der Höhepunkte des Albums darstellt: es ist die eindrucksvolle Version von „Teardrop„, ein Titel der TripHop-Formation Massive Attack, anno 1998 auf dem Meilenstein „Mezzanine“ erschienen. Die Gruppe aus dem englischen Bristol hatte in den Neunzigerjahren Fusion-Klassiker von Billy Cobham aus den Siebzigern gesampelt, Musik aus den Seventies, als der Jazz erstmals elektronifiziert und futuristisch klang. Mit ihrer „Teardrop“-Interpretation machen Avishai Cohen’s Big Vicious die längst legendären britischen Elektronik-Bastler um Mastermind Robert „3D“ Del Naja zu Wahlverwandten, zu kreativen Geschwistern im Geiste. Der Ansatz erinnert in der Mischung aus Post-Punk-Rock und Groove mit freierer und jazzig komplexer Grundierung ein bisschen an die norwegische Post-Jazz-Fusion-Szene, anderswo an Miles Davis‘ Fusion Jazz der späten Sechziger, machmal funken gar Schlaglichter gen Indie Rock und Pop auf. „Teardrop“ jedoch, bei dem Avishai mit seiner Trompete ganz natürlich die Rolle von Liz Fasers ätherischer Stimme im Original übernimmt, habe Signalcharakter, wie Cohen erläutert: „Ich finde, dieses Stück hat etwas Spezielles. Es öffnet immer unsere Herzen, wenn wir es spielen. Es altert einfach nicht. Wir haben ja schon immer viele Cover-Versionen gespielt, einige kamen, einige flogen raus, einige blieben, aber ‚Teardrop‘ fühlt sich immer frisch an. Es entfacht jedes Mal ein Feuer.“ (Und das meint er, dem unter anderem bereits eine kaum weniger feine Version der Musik gewordenen Radiohead-Dystopie „Pyramid Song“ gelang!)
Mit „Big Vicious“ positioniert sich der Melodiker Cohen gemeinsam mit Uzi Ramirez (Gitarre), Yonatan Albalak (Gitarre, Bass) und den beiden Schlagzeugern Aviv Cohen und Ziv Ravitzsie als primus inter pares in der israelischen Jazz-Szene. Seine Trompete zieht mit kleinen solistischen Ausflügen und Höhenflügen die Melodie in die Tracks, während verschwimmend bearbeite Gitarren und Keyboards, dunkle Bässe und zischelnde Percussion unruhige, zärtliche oder undurchsichtige Atmosphären erschaffen. Und überhaupt feiert die Kunst der Improvisation des nahöstlichen Landes derzeit eine Blüte – so wie es vor einigen Jahren bei norwegischen und skandinavischen JazzkünstlerInnen der Fall war. Das Cover-Artwork von „Big Vicious“ lässt sich auch als Bildnis von fünf Musikern lesen, die gerade ein gelungenes, melodieverliebt-groovendes Stück beendet haben und den Applaus des Publikums erwarten. Ein Augenblick des Glücks, der schon im nächsten Moment wieder vorbei sein mag, in jener Sekunde des Kurzweils jedoch seinen höchst eleganten Gipfel erreicht hat.
Rock and Roll.
Oft gehört, mehrfach gecovert und doch selten erreicht: „Teardrop“ von Massive Attack. Hierbei von einem „Klassiker“ zu sprechen, grenzt schon an Untertreibung, immerhin hat auch das dazugehörige Album „Mezzanine“ seit seinem Erscheinen im Jahr 1998 nichts, aber auch gar nichts von seiner Größe und Faszination verloren (von mir wird das Album übrigens – nur halb scherzhaft – heute noch immer in der Liste der „besten Beschlafalben“ Seite an Seite mit Sigur Rós‘ „Ágætis byrjun“ geführt).
Dass die Coverversion von Ray Scully dezent an jene von José González erinnert? Geschenkt, immerhin besitzt niemand Rechte oder Patente auf gelungene Wiederverwertungen. Und irgendwie schließt sich bei der Scully’schen Variation auch die Lücke von González zum Massive Attack-Original…
(Apropos „geschenkt“: via Soundcloud kann man sich das Ray Scully-Cover von „Teardrop“ auch kostenlos aufs heimische Abspielgerät laden…)
Und da’s noch immer so großartig und geradezu ikonisch ist, hier die Originalversion samt dem nicht minder tollen Musikvideo:
(via Vimeo steht das Musikvideo hier zur Verfügung…)
Rock and Roll.
Verdammt. Langsam bin ich’s leid…
„Er war ein Mystiker und ein Folksänger, ein Dichter und ein Storyteller, ein Jazzer und ein begnadeter Soulsänger. Doch seine sanfte Stimme und seine virtuose Songkunst erhielten nie die Aufmerksamkeit wie etwa die Alben seines Freundes aus früher Kindheit, Curtis Mayfield.“
(Quelle: der heutige Nachruf des Rolling Stone)
Terry Callier wurde am gestrigen Sonntag tot in seiner Wohnung in Chicago aufgefunden, die Todesursache ist bisher unbekannt. Er wurde 67 Jahre alt.
Kennengelernt habe ich seine Musik 2006 durch das großartige „Live With Me“, welches in Kooperation mit Massive Attack entstand:
Während ich oben stehende Videoversion aufgrund der emotionalen Bildgewalt persönlich für die bessere erachte, sieht man bei dieser (bei beiden führte Jonathan Glazer Regie) während des kompletten Songs die Lippen von Callier und hängt buchstäblich an ihnen:
Natürlich könnte ich jetzt noch einmal alle biografischen Fakten und Eckdaten herunterbeten. Natürlich könnte auch ich hier noch einmal seinen enormen Einfluss auf die nachkommenden Generationen von Jazz-, Soul- und Folksängern betonen – man höre sich da nur Michael Kiwanuka an, der selbst angibt, dass Callier zu seinen größten Inspirationsquellen zähle, oder Beth Orton, die auch mit dem 1945 in Chicago geborenen Sänger und Komponisten zusammenarbeitete. Und bedauern, dass seinen 1972 beziehungsweise 1974 erschienenen Albumgroßtaten „What Color Is Love“ und „I Just Can’t Help Myself
“ bis zum 2009 gemeinsam mit Massive Attack aufgenommenen letzten Album „Hidden Conversations
“ wenig Ertragreiches nachfolgte. Wer mag, kann dies alles im bereits eingangs erwähnten und sehr treffend von Maik Brüggemeyer geschriebenen Nachruf nachlesen. Hier nur ein, zwei Anekdoten: Terry Calliers zeitweiliges Dasein abseits des kommerziellen Erfolgs führte sogar soweit, dass er, der seine Tochter als alleinerziehender Vater großzog, Anfang der Achtziger eine Stelle als Programmierer an der Universität von Chicago annahm, diese jedoch wieder verlor, als er nach dem Erscheinen seiner Platte „Time Peace
“ (diese wurde 1998 nach 19 Jahren „Abstinenz“ über das Jazz-Traditionslabel Verve veröffentlicht) den ‚Time for Peace Award‘ der Vereinten Nationen für (s)eine „herausragende künstlerische Leistung“ gewann – sein Arbeitgeber habe schlichtweg nichts von seinem Leben als Musiker gewusst… Vorher nahm er seine zahlreichen Platten in seiner Freizeit auf und trat während seines Urlaub in kleineren Clubs auf (auch in England, was wohl Eddie Pillar, dem Leiter von Acid Jazz Records, sowie einigen DJs zu verdanken ist, welche in den frühen Neunzigern seine alten Aufnahmen für sich entdeckten). Er hätte dem Musikgeschäft wütend und enttäuscht, dass sein Talent nur von einer Handvoll Bewunderer beachtet wurde, den Rücken kehren können. Doch der John Coltrane-Begeisterte legte zeitlebens ein bewundernswertes Potential an innerem Frieden, Ausgeglichenheit und Sanftmut an den Tag (ohne jedoch seine Musik als gesellschaftspolitisches Mittel zu verkennen). Was sei schon so ein bisschen Musik gegen das Glück des eigenen Kindes?
Was bleibt, ist eine weitere große Persönlichkeit und dessen Stimme, die nun für immer verstummt ist. Und wundervolle Songs, die bleiben. Wie dieser hier: „Dancing Girl“ von „What Color Is Love“…
Hier könnt ihr euch noch einmal ein etwa 3 Jahre altes Interview mit Terry Fallier anschauen, in welchem er unter anderem auch über seine Zusammenarbeit mit Massive Attack spricht:
„Follow the dancing girl / Go to the quiet place. / Here in the weary world / Somewhere between time and space. / We shall be free. / Each of us is born alone / Well, welcome to the twilight zone. / You can leave with only what you bring.“
Rock and Roll.