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Das Album der Woche


Tall Ships – Everything Touching (2012)

Tall Ships - Everything Touching (Cover)-erschienen bei Big Scary Monsters/Alive-

Die zufälligen Bekanntschaften sind mitunter keinesfalls die schlechtesten. Jene, an die man vollkommen frei und frisch und vorurteilsfrei unbelastet herangeht und dafür umso mehr belohnt wird…

So geschehen vor wenigen Tagen: ein Freund wollte uns Karten für das in etwa zwei Wochen hier im niederländischen Maastricht stattfindende Konzert der Iren Villagers (ANEWFRIEND wird berichten!) sichern und wurde vom Betreiber der Lokalität (genauer: der Maastrichter Muziekgieterij) gefragt, ob er denn nicht obendrauf noch Freikarten für die kommende Zwei-Tages-Konzertreihe haben möchte? Schleppender Vorverkauf als absolut kostengünstige Unterhaltungsoption? Na, aber gern doch! Und während sich der erste Abend noch folkloristisch selig gestaltete, spielte als zweite Gruppe des zweiten Abends eine englische Band groß auf, von der ich zwar vor nicht allzu langer Zeit einmal gelesen, die jedoch – man wird ja heutzutage im weltweiten Netz unweigerlich der Zerstreuung preisgegeben – mein Kurzzeitgedächtnis wieder verlassen hatte. Umso stärker drängten sich Tall Ships, dieses Brighton-Cronwall’sche Dreiergespann aus Richard Phethean (Gitarre, Gesang), Matt Parker (Bass, Sampler) und Jamie Bush (Schlagzeug), das auf der Bühne noch im einen Keyboarder erweitert wurde, auf. Diese Energie! Diese juvenile Atmosphäre, diese Sounddichte, dieses Gefühl! Fürwahr – die Band, die auf der „Insel“ bereits 2010 mit ihren beiden EPs (die selbstbetitelte Debüt-EP und die „There Is Nothing But Chemistry Here EP“) sowie der 2011er Vorab-Single „Hit The Floor“ für Furore in Indierock-Kreisen gesorgt hatte, hatte ich – bisher – zu unrecht überhört. Dabei weiß ihr nach dem Konzert erstandenes und mittlerweile signiert mein Plattenregal zierendes Debütalbum „Everything Touching“ – dem schlichten Cover zum Trotz – durchaus zu überzeugen…

Tall Ships #1

Der Opener „T=0“ legt schonmal dynamisch vor. Zu einem Fahrt aufnehmendem Schlagzeugbeat gesellt sich erst ein repetitives Gitarrenriff, dann Keyboardgeklimper und schließlich eine komplette Tasten-‚Wall Of Sound‘, bevor Phetheans Gesang einsetzt und vom wundersam süßen Gefühl der zweisamen Unverwundbarkeit kündet: „When I’m with you we are invincible / Together as one our worries come undone“. Bereits das folgende, quasi instrumentale „Best Ever“ zieht darauf besagte ‚Wall Of Sound‘ noch ein Stück weit nach oben, lässt eine kurze Verschnaufpause trügerisch aufglimmen und setzt noch ein paar mehr derbe Klangsteine. Die maritime Realitätsfluchtfantasie „Phosphorescence“ könnte in ihrer hymnischen Verspielheit auch dem Proberaum der Foals schallen, während einen Stücke wie der sich bestätig steigende, melancholische Winterrocker „Oscar“ oder die feinfühlige, mit naturwissenschaftlichen Motiven („Within you every particle is perfect /…/ You are a triumph of natural selection / Every mutation leading to your perfection“) changierende Liebesode „Ode To Ancestors“ einen wohl unweigerlich an die Kanadier von Wintersleep denken lassen. Das zu großen Teilen forsch drauf los polternde „Gallop“ hätte keinen anderen – und besseren! – Titel verdient gehabt, während Frontmann Richard Phethean in einer dezent an Depeche Mode-Fronter Dave Gahan erinnernden gewaltigen Stimmlage von der jähen Vergänglichkeit der Jugend singt: „And before you know, you’re getting old / And losing touch / But life keeps marching on and on, and you’re hung up on things you haven’t done / And all now you have are regrets, and you’re heavy with emotional debts / To the ones you love“ – ein düsterer Funke in einem Meer aus Träumereinen. Apropos „Träumereien“: in eben jenen darf der Hörer im sechsminütigen, Sigur Rós in den Indierock verschleppenden „Idolatry“ ausgiebigst baden, bevor Phetheans Gesangszeile „I can’t build these statues anymore“ gen Himmel entschwindet. Das Doppel aus dem einmütigen, atmosphärischen Instrumentalstück „Send News“ und „Books“, bei welchem erneut – textlich – naturwissenschaftliche mit philosophischen Motiven („I’ve wandered this library for years now / Killing time whilst time slowly killed me / But I know / Time, time is precious / And time will forget us“) und – musikalisch – die isländischen Post Rock-Heroen mit modernem britischem Indierock hervorragend unter einen Hut gebracht werden. Der abschliessende Neunminüter „Murmurations“ setzt zuerst mit einem befremdlich wie stoisch im Hintergrund pumpendem Beat und einsamen, sanften Gitarren ein, steigert sich im Verlauf jedoch  in einen beinahe rauschhaften Full-Band-Zustand, an dessen Spitze ein aus etwa vierzig Freunden, Familienangehörigen und Fans bestehender und in der örtlichen Grundschule aufgenommener Chor die (fast) letzten Zeilen von „Everything Touching“ singt: „Stay with me, for just a while / Hold me close, confirm my denial / You’re all I have, you’re all I need / Settle now, you’re something to believe“. Das Album läuft sanft aus, bis nur noch von fern eine friedvolle Kinderstimme trällert…

Tall Ships-Press shots 29-05-11

Tall Ships schaffen auf ihrem Langspiel-Erstling „Everything Touching“ eine 44 Minuten andauernde dichte Indierock-Atmosphäre, die in Momenten mit (An)Zug an die Landsmänner Foals, die Schotten von We Were Promised Jetpacks oder die US-Mathrocker Battles erinnert, während der Hörer bei den gelegentlichen melancholischen Ruhepolen hingegen nicht selten an Wintersleep oder Sigur Rós denken muss. Dabei bauen Richard Phethean & Co. jedoch keineswegs auf dumpfen Ripoff-Sand, sondern verzieren diese musikalischen Eckpfeiler mit klugen, tiefgründigen Texten und ausreichend Eigenständigkeit und Abwechslungsreichtum, um sich eine gute Zukunftsperspektive zum soeben angesetzten „großen Sprung“ zu erabeiten, denn die Band spielte etwa kürzlich beim renommierten US-Festival „South By Southwest“ und befindet sich gerade auf ausgedehnter Tournee. Und auch wenn Tall Ships die auf den Bühnenbrettern der Maastrichter Muziekgieterij dargebotene Live-Energie (noch) nicht ins Studio und das – nichtsdestotrotz ausgesprochen formidable – Debüt „Everything Touching“ transportieren konnten, so steht eines doch fest: mit diesen Briten ist in Zukunft zu rechnen! Und: ich liebe Zufallsbekanntschaften!

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Wie (fast) immer lässt euch ANEWFRIEND nicht ohne Hörproben im Regen (den man beim gerade zart aufkeimenden warmen Wetter nun wirklich nicht nötig hat!) nicht ohne Hörproben stehen und bietet euch hier das komplette Album im Stream…

…sowie die 2011 veröffentlichte Vorab-Single „Hit The Floor“…

 

…und die Videos zum Albumopener „T=0″…

 

…dem energetischen „Gallop“…

 

…sowie dem selben Song in einer reduzierten ‚Outdoor Acoustic Session‘-Variante…

 

…und als Teil der letztjährigen Session von Tall Ships in den ehrwürdigen „Maida Vale“-Studios der BBC:

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Auf dem Radar: Palma Violets


Palma Violets

Wenn der britische NME eine Band zum „nächsten heißen Scheiß“ kürt, dann ist durchaus erst einmal Vorsicht geboten. Klar, das hat bei den Strokes bereits sehr gut geklappt, wie auch bei den Libertines, aber die Frequenz, in denen pubertäre Bleichgesichter auf der Insel erst zu potentiellen Erben der Säulenheiligen BeatlesStonesClashKinks erhoben und dann – mir nichts, dir nichts – wieder vom Thron gestoßen werden, ist schon beachtlich.

So war es auch im vergangenen Oktober, als da eine Formation windschief vom Magazintitel rockte, die bisher lediglich eine einzige Single veröffentlicht hatte und sich sonst einen Scheiß ums karrieretechnische Vorankommen scherte – keine Homepage, kein Facebook-Auftritt, keine Promo-Kostproben fürs Musikjournalistenvolk, nichts. Wer wollte, konnte doch eins der Konzerte besuchen… Und trotzdem – oder: gerade deshalb? – ernannte der NME diese einzige Single, „Best Of Friends“, zur „Single des Jahres“ – und schob Palma Violets, das Quartett aus dem Süden der englischen Hauptstadt, somit ein gutes Stückweit ins Licht der Öffentlichkeit. Dass da auch in Zeiten des stetig bröckelnden Musikvertriebs ein Plattenvertrag nicht lange auf sich warten lassen würde, ist logisch (am Ende machte das Qualitätslabel „Rough Trade“ das Rennen).180 (Cover)

Die wichtigste Frage lautet nun: kann man dem Hype-Braten trauen – nun, da das Debüt-Album der Band, welches der Vierer nach ihrem Probe- und Aufnahmeraum im Londoner Stadtteil schlicht und einfach „180“ taufte, erscheint? Und die Antwort ist ebenso simpel wie die Hype-Zyklen der englischen Musikpresse: für einen Sommer gern. „180“ bietet zwölf (zählt man den Hidden Track „Brand New Song“ mit) energiegeladene Garagenrock-Songs, denen zwar noch der der Kater der letzten Indiedisconacht im Rücken sitzt, die dafür aber umso mehr jugendliche Unbedarftheit im Kopf und Hummeln im Hintern haben. Mit ihrer Musik wird die milchgesichtige Band, die sich nach einer Süßigkeitenmarke benannt hat, wohl keine Revolution anzetteln, aber: wer will das schon? Genauso wenig wie die zwanghaft bemühten Vergleiche mit den seligen Libertines, wenn den beiden Palma Violets-Frontmännern Sam Fryer und Chilli Jesson ein ähnlich innig-blindes (Bühnen)Verhältnis nachgeschrieben wird wie damals Pete Doherty und Carl Bârat.

Palma Violets bieten schrammeligen, retrolastigen Indierock, der von Papas Hinterhofgarage aus zur Suche nach kleinen Popmomenten aufbricht und die Fake-Ray Ban (natürlich vom Pakistani-Lädchen im die Ecke gezockt!) schon mal für die ersten warmen Tage des Jahres bereit gelegt hat. Ob nun durchgerockte Eintagsfliege oder „Britanniens neue Rocksensation“ (einhelliger Pressesprech) – das sollen gern andere entscheiden.

(Wer mag, dem bietet zum Beispiel dieser aktuelle Artikel der Frankfurter Rundschau mehr Informationen.)

 

Hier kann man das Debütalbum „180“ probehören…

 
…sich das Video zur ersten Single „Best Of Friends“ anschauen…

 

…ebenso wie Kostproben eines Liveauftritts von Palma Violets…

 

…und hier eine Session des Quartetts in den Maida Vale-Studios der BBC hören:

 

Rock and Roll.

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