Frank Turner – Tape Deck Heart (2013)
-erschienen bei Vertigo/Universal-
Schon surreal: da spielt man sich jahrein, jahraus die Finger in Bars und kleinen Kaschemmen blutig, vergrößert mit ein wenig Spritgeld als Lohn stetig die Fanschar jener, die schon beim nächsten Auftritt in diesem oder jenen Winzclub stolz das frisch gestochene Tattoo mit dem geliebten Songtextzitat vorzeigen und mit geschlossenen Augen textsicher jede Zeile mitsingen. Da nächtigt man im Schlagsack im nasskalten Backstagebereich, hechelt sich gedrängt sitzend im alten Tourvan von Auftrittsort zu Auftrittsort, nur um mancherorts quasi jeden Besucher mit Handschlag begrüßen zu können – und plötzlich findet man sich als Secret Act der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in London wieder, einer Show, die beinahe der komplette zivilisierte Erdball verfolgen wird – und durfte vorher beinahe keinem vom eigenen unverhofften Glück berichten… Liest sich wie der wahr gewordene feuchte Rock’n’Roll-Traum? Nun, Frank Turner ist genau das passiert!
Doch wer glaubt, dass der 1981 in Bahrain geborene Engländer mit Harcore-Vergangenheit (bis 2005 war er Teil des Londoner Kollektivs Million Dead) danach abheben und sein Glück buchstäblich in den seelenlosen Versprechungen von Sex, Drugs and Rock’n’Roll suchen würde, der hat die Karriere des 31-Jährigen aus Winchester nicht aufmerksam genug verfolgt. Denn obwohl er mittlerweile keinerlei Mühe hat, große Hallen wie die 12.000 Besucher fassende Londoner Wembley Arena auszuverkaufen, so weiß er doch genau, dass er dieses Privileg nicht nur den stetigen eigenen Ochsentouren, sondern auch seiner ihm zu großen Teilen noch immer treu ergebenen Fanschar zu verdanken hat. Klar gibt es jene, die sich vor zehn Jahren bei ihm noch gern gern Schrammen im Hardcore-Moshpit holten, Turner jedoch mittlerweile nur allzu gern als Waschlappen abstempeln und ihm aufs Griffbrett seiner Akustikgitarre spucken würden. Doch da gibt es sich keinerlei Illusionen hin und nimmt’s mit Pragmatismus: „Denen bin ich mittlerweile viel zu hip. Aber das ist mir völlig egal. Ich mache, wozu ich Lust habe und wem meine Musik nicht gefällt, der muss ja nicht hinhören.“ Feel free to call this punkrock attitude…
Doch selbst jemand wie Frank Turner braucht allen Klassikern zum Trotz, die von Langzeit-Fans bei Konzerten bereits nach den ersten Akkorden erkannt und frenetisch bejubelt werden, immer wieder einen kleinen Anlass für die nächste Tournee dies- wie jenseits des Atlantiks. Und welchen besseren Anlass gäbe es da als ein neues Album? Denn davon hat der nimmermüde Punkrock-Singer/Songwriter seit 2007 mittlerweile ganze vier Stück unter eigenem Namen zu Buche (respektive: im Plattenregal) stehen – und kürzlich kam mit „Tape Deck Heart“ Nummer fünf hinzu…
Wer mit dem bisherigen Schaffen Turners vertraut ist und nun die zwölf neuen Stücke (der regulären Version) hört, der wird sich zurecht fragen: Was gibt’s Neues? Doch andererseits war und ist es dem Grundsympathen nie daran gelegen, sich irgendwo komplett neu zu erfinden. Bereits der Opener „Recovery“ dürfte dem ein oder anderen Backkatalog-Connaisseur ein wissendes Lächeln auf die Lippen zaubern, wird doch das Gros der Turner’schen Trademarks ohne Umschweife auf den Plattenladentisch gepackt: bittersüße, mit Ironie und Witz gewürzte Texte, die von gefällig rockenden bis mitreißenden Melodien ummantelt werden. Textlich scheint der Engländer nach seiner letzten Veröffentlichung, der im vergangenen Jahr erschienenen Werkschau „Last Minutes and Lost Evenings„, welcher neben 15 Songs aus dem bisherigen Backkatalog auch das komplette Konzert in der Wembley Arena auf DVD beilag, einiges an Erinnerungen und Erlebnissen für sich ad acta legen zu wollen. So singt er in „Recovery“ vom Gesunden und Vergessen, erinnert sich in „Losing Days“ an die eine oder andere seiner bereits zahllosen Tätowierungen und deren Anlässe („I remember well the day that I got my first tattoo / I was so scared before and after I was so proud when it was new / But these days I’ve gone and got me many more / And sometimes I get more when I get bored“), macht in „Plain Sailing Weather“ Zugeständnisse an die wiederholte eigene Fehlbarkeit („Just give me one fine day of plain sailing weather / And I can fuck up anything, anything“) oder überzeugt in „The Way I Tend To Be“ mit feiner Melodie und lebensweisen Textzeilen: „Because I’ve said ‚I love you‘ so many times that the words kinda die in my mouth / And I meant it each time with each beautiful woman but somehow it never works out / You stood apart in my calloused heart, and you taught me and here’s what I learned / That love is about the changes you make and not just three small words“. „Good & Gone“ unternimmt Midtempo-Streifzüge hin zu perfekt ausgemalten Zukunftsträumen à la Hollywood, über einsame Tanzflächen, Hotelflure und hektische Flughafenhallen, und lässt dabei persönliche guilty pleasures wie Mötley Crüe endgültig gen Hair Metal-Hölle fahren – nur um nach knapp vier Minuten festzustellen, dass alle Träume für lange Zeit vor der heimatlichen Haustür gewartet haben. Die Akustische-zu-Schlagzeug-Ballade „Tell Tale Signs“ dürfte ab sofort eines der Mitsing-und-Mitwipp-Highlights von Frank Turner-Konzerten werden, denn Textzeilen wie diese bringt selbst der gewiefte Lyriker selten zustande: „God dammit Amy, we’re not kids any more / You can’t just keep waltzing out of my life / Leaving clothes on my bedroom floor / Like nothing really matters, like pain doesn’t hurt / You should be more to me by now than just heartbreak in a short skirt“. Gleiches trifft auch auf „Four Simple Words“ zu, das zuerst eine kleine Bar-Revuenummer antäuscht („I’d like to teach you four simple words / So the next time you come to a show / You could sing those words back at me / Like they’re the only ones that you know“), nur um unvermittelt Fahrt aufzunehmen, als amtlicher Punkrock-Brecher für Bewegung im bierselig eingeleiteten Circlepit zu sorgen, und allen Szenefashionistas den erhobenen Mittelfinger zu präsentieren: „Somebody told me that music with guitars was going out of fashion and I had to laugh / This shit wasn’t fashionable when I fell in love / If the hipsters move on why should I give a fuck?“. „Polaroid Picture“ erzählt von längst vergangenen Tagen in der englischen Hauptstadt und davon, dass sich bereits im Entwicklungsprozess eines Polaroids das soeben noch Fotografierte dermaßen verändern kann, dass man es selbst nicht mehr wieder zu erkennen scheint („So in the stillness of the moment / Make sure you take a Polaroid picture / And keep it with you forever to / Remind yourself that everything changes“). „Anymore“ glimmt als fatalistische Heartbreak-Ballade still vor sich hin, bevor das abschließende Doppel aus „Oh Brother“ und „Broken Piano“ sich in groß aufgefahrenen Bandversionen dann noch einmal zu den Tagen voller Unbekümmertheit zurück träumt, als man – angestachelt durch die rohe, pure Energie von Bands wie Nirvana – mit Freunden leidlich gut klingende Bands gründete und sich in der Gewissheit verabschiedete, sich irgendwann wiederzusehen („Oh Brother“), nur um plötzlich mutterseelenallein durch den englischen Nebel streunen zu müssen („Broken Piano“).
Natürlich sticht auch auf dem fünften Frank Turner-Album nicht jeder Song gleichermaßen ins Auge (respektive, natürlich: Ohr). Dennoch ist „Tape Deck Heart“ in seiner Gesamtheit – und trotz der Tatsache, dass der tätowierte Singer/Songwriter hier ein wenig introspektiver zu Werke geht als noch auf dem 2011 erschienenen Vorgänger „England Keep My Bones“ – um einiges schlüssiger geraten als das ein oder andere bisherige Werk. Und auch wenn an der einen Stelle schon mal positive Erinnerungen an Billy Bragg, die verblichenen R.E.M. (die Peter Buck-Gedächtnis-Mandoline in „Losing Days“!) oder ein leicht schaler Bon Jovi’scher Beigeschmack (man höre „The King Fisher Blues“) aufkommen mögen, so bleiben sich Frank Turner, der sich übrigens mit seiner im vergangenen August ins Leben gerufenen neuen Zweitband Möngöl Hörde erneut auf ausgetreten geglaubte Hardcore-Pfade begeben wird, und seine Begleitband The Sleeping Souls auch auf dem fünften Album treu. „Tape Deck Heart“ hebt in gefühlter Mixtape-Manier wehmütig das Pint-Glas in Richtung der eigenen Vergangenheit – nur um im nächsten Moment wieder ironisch lächelnd in die Saiten zu greifen und das Leben zu feiern. Keine Frage: auch aus dem aktuellen Album dürfte sich der ein oder andere Song als fester Bestandteil in künftige Setlists schleichen. Und Frank Turner? Lebt seine eigene Version des englischen Rock’n’Roll-Traums. Und liefert ab. Und tourt jahrein, jahraus. Und liefert ab. Und tourt jahrein, jahraus. Und…
(Allen, die trotz allem noch einen Nachschlag wollen, sei hier die Deluxe Edition von „Tape Deck Heart“ ans Herz gelegt, die ganze sechs Bonus Tracks enthält – vier Mal Frank Turner solo an der Akustischen, zwei Stücke im vollem Bandumpfang.)
Hier gibt’s die Videos zum Albumopener „Recovery“…
…zum Album-Highlight „Plain Sailing Weather“…
…und die gut 15-minütige Dokumentation „The Way I Tend To Be“, welche Turners Werdegang beleuchtet:
Immer noch nicht genug? Kein Problem! Auf nyctaper.com findet ihr einen Mitschnitt (Soundboard!) des Frank Turner & The Sleeping Souls-Konzerts im New Yorker Bowery Ballroom, welcher – in etwas kleinerem Rahmen als mittlerweile bei Turner gewohnt – am 4. März diesen Jahres stattfand – und natürlich vom Künstler selbst abgesegnet wurde…
Hier gibt’s den Song „Photosynthesis“ als Hörprobe:
Rock and Roll.