
An kaum einer anderen Stadt lassen sich die Entwicklungen und Umbrüche der Musik des 20. Jahrhunderts so genau verfolgen wie in New York City. Sei es Harlems Jazz-Szene der 1920er Jahre, die Duke Ellington und den Cotton Club hervorbringt, oder Charlie Parkers Aufstieg zum Dauergast der Clubs in Midtown Manhattan. Es lässt sich nicht über die Geburt von Hip Hop sprechen (respektive schreiben), ohne DJ Kool Hercs Partys in der West Bronx zu erwähnen. Im Westen Manhattans prägt das Greenwich Village in den Sechzigern das Folk Revival mit Bob Dylan und Joan Baez ebenso wie das East Village den Anti-Folk rund um die Moldy Peaches Anfang des neuen Jahrtausends.
Die Namen der Cafés und Clubs, aber auch die Häuserschluchten und Hinterhöfe präg(t)en die Gesichter dieser Szenen. Sie sind gleichermaßen Requisiten wie Akteure in der popkulturellen Erinnerungsarbeit. Im Falle New York Citys, das in seinen vergleichsweise jungen 600 Jahren Stadtgeschichte nicht eben wenig Historisches erlebt hat, lässt sich so Musikgeschichte auf geografischer Ebene erkunden, wenngleich die Verbindung von Orten und Musik eher ungeplant verläuft und mitunter ganz profane Gründe haben kann.
Ende der Sechzigerjahre steigen die Mieten im East Village, das zu dieser Zeit stark von der Kunst- und Musikszene rund um Andy Warhols Factory geprägt wird. Das Problem ist heute kein anderes: Gentrifizierung, denn nach Leerstand kommt Kunst und nach Kunst der schnöde Mammon. Aber gerade diese Szene zwischen The Velvet Undergrounds Heroin-Chic und dem grellen Drag des nach New York schwappenden Glam Rock übt eine verständlicherweise große Faszination auf die US-amerikanische Jugend aus.
So landen um 1970 herum zwei Privatschüler aus Delaware im Big Apple – genauer gesagt in der Bowery im verrufenen Südosten Manhattans. Hier sind die Mieten so günstig wie die Kriminalitätsrate hoch ist. Es gibt genügend Freiräume für junge Dichter wie Richard Lester Meyers und Thomas Miller, die sich bald Richard Hell und Tom Verlaine rufen lassen. Zusammen starten sie 1972 das Musikprojekt The Neon Boys, aus dem ein Jahr später das von Gitarrist Richard Lloyd und Schlagzeuger Billy Ficca komplettierte Quartett Television hervorgeht.

Als eine der ersten Bands finden Television den Weg ins CBGBs. Ebenfalls in der Bowery gelegen, wird der gerade gegründete Club schnell zum Epizentrum einer neuen Szene, an deren Speerspitze Television neben Blondie, der Patti Smith Group und den Ramones stehen. Aus verschiedenen Richtungen finden diese Bands zum rohen Sound des Punk Rock, der die zweite Hälfte der Siebziger dominiert.
Television lassen sich dabei vor allem von den 13th Floor Elevators, Lou Reed oder dem Jazz-Saxofonisten Albert Ayler inspirieren. Bereits 1974, drei Jahre vor der Veröffentlichung ihres Debüts, entstehen die meisten Songs in einer Demo-Session mit Roxy Music-Mitbegründer Brian Eno. Tom Verlaine missfällt jedoch der kühle Sound der Aufnahmen, daher lehnt der Band-Kopf viele Angebote von Labels ab, die ihm nicht die Oberhand in der Produktion zusichern.
Auch innerhalb der Band kommt es schnell zu Reibereien, driften die Pole Hell und Verlaine auseinander. Letzterer fokussiert sich immer stärker auf einen professionellen Sound, während Bassist Richard Hell auf und abseits der Bühne einen wilden, unkontrollierten Stil pflegt. Mit struppigen Haaren und Sicherheitsnadeln in Hose und Lederjacke soll er Malcolm McLaren, dem legendären Musikmanager hinter den Sex Pistols, als Vorbild für die britische Version der Szene gedient haben. Letztlich kommt es 1975 zum Bruch zwischen den Jugendfreunden, Hell verlässt die Band und gründet bereits eine Woche später mit New York Dolls-Gitarrist Johnny Thunders die Band The Heartbreakers. Er wird von Ex-Blondie-Bassist Fred Smith ersetzt.
Anfang 1977 bringt schließlich Elektra Records das Television-Debüt „Marquee Moon“ heraus. Im „goldenen Jahr des Punk“ wirkt das Album gleichsam deplatziert und doch voll am wilden Puls der Zeit. Ein Widerspruch? Mitnichten, denn „Marquee Moon“ skizziert wie kein anderes Album das New York der frühen Siebziger: Städtisches Elend und der Hedonismus einer jungen, drogenbefeuerten Szene bieten die Grundstruktur der Platte, direkt verkörpert von Verlaines einzigartiger, an Lou Reed erinnernder Stimme. Sie ergießt sich in einem kränklichen Nölen über die Songs, seltener schwingt sie dann in ein fast schon selbstgefälliges Lallen um.
Dagegen steht die untypische Versiertheit der Musiker. Wechselseitig ergänzen sich beide Gitarren, indem sie nacheinander in die Leerstellen der Rhythmen kriechen und die Tonleitern auf und ab klettern, ohne dabei die Eingängigkeit ihrer Melodien aus den Augen zu verlieren. Tom Verlaine und Richard Lloyd fügen sich an den Gitarren ganz nach Jazz-Manier ein oder setzen Kontrapunkte zum Rest der Band. Ebenso lässt sich die Neigung zum Jazz in Billy Ficcas leichthändigem Schlagzeugspiel finden.
Aller Versiertheit zum Trotz landen Television dabei keineswegs in der Improvisations-Sackgasse, auch nicht im zehnminütigen Titelsong des Albums. Wie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ein „Rolling Stone“-Kritiker anmerkt, flirten sie nur mit der Formlosigkeit, während sich die eingängigen Riffs in den Hinterkopf meißeln.

Auf textlicher Ebene führt „Marquee Moon“ auf eine Reise durch ebenjene hedonistische Szene und ihre großstädtische Moloch-Bühne. Verlaines assoziative Lyrik orientiert sich an Rimbaud und Ginsberg, atmet aber gleichzeitig den Muff der dreckigen Straßen. Das Album lässt sich voll und ganz als existenzialistischer Trip durch das nächtliche New York lesen. Den überschwänglichen Riffs des Openers „See No Evil“ dichtet Verlaine die Zeilen „Cuz what I want / I want now / It’s a lot more / Than ‘anyhow‘“ an. In Verbindung mit dem psychedelischen Garage-Sound des Songs baut sich eine Art Freitagabend-Hymne auf, welche im Slogan „Pull down the future with the one you love“ mündet.
„Venus“ erzählt von einem Drogentrip, der den glitzernden Broadway auf surreale Weise verzerrt. Verlaines Alter Ego stolpert herum, verkleidet sich mit seinem Freund Richie (Hell) als Polizist und fällt der armlosen antiken Statue Venus von Milo in die Arme. Kopfüber im Blues getränkte Paranoia begegnet einem in „Friction“, das in jene dunkle Gassen führt, die den Heroin-Opfern gehören: „It’s just a little bit back from the main road / Where the silence spreads and men dig holes.“
Höhepunkt des Albums wie auch des Drogentrips ist zweifellos der Titeltrack „Marquee Moon“. Stoisch wühlen sich Gitarrenriff und Basslauf über zehn Minuten lang durch den Song, während Verlaine ihn von allen Seiten mit Soli garniert und Ficcas Schlagzeug diesem Dekor wie einbetoniert entgegensteht. Verlaines Erzähler hingegen steht still, als der Trip abschwächt und sich existenzielle Ängste vor Leben und Tod einstellen.
Folgerichtigerweise prägen „Elevation“ und „Prove It“ die zweite Hälfte mit einer Art rotziger Verzweiflung. Das lyrische Ich schläft am Ufer des East River ein und wacht schließlich, von den Wellen geweckt, dort auf. Trotz des musikalischen Optimismus‘, den auch „Guiding Light“ verströmt, sind in „Prove It“ die grellbunten Klamotten der letzten Nacht im Tageslicht nur noch grau: „Now the rose / It slows / You in such colorless clothes / Fantastic! You lose your sense of human„.
Schließlich legt sich ein zerrissener Vorhang über das surreale Schauspiel der Nacht. „Torn Curtain“ stellt weniger einen Epilog als vielmehr einen Trauermarsch dar. Seltsam eingängig kriecht das fast siebenminütige Stück entlang, während Verlaines Gitarre jaulend gegen die vorbeiziehenden Jahre ankämpft. „Tears…rolling back the years / Years … flowing by like tears.“ Nächte und Drogentrips wiederholen sich, aber das miese Gefühl bleibt bestehen.
Die Selbstbeschreibung einer Szene endet mit einem pessimistischen Urteil – und doch feiert „Marquee Moon“ sich selbst. Perspektivlosigkeit wandelt sich zu Hedonismus, Glücksgefühl zu Horrortrip. Television besingen ein halbes Jahrzehnt in der Bowery, im CBGBs, in verfallenen Häusern und dunklen Gassen. Ihr Debüt-Langspieler kondensiert all das in eine bunte Nacht und einen grauen Morgen in New York City.
Tom Verlaines Assoziationen zu Orten und Gefühlen einer Szene bleiben über die Jahre bestehen. Sie lassen sich in seinen Songs zurückverfolgen wie die Musikgeschichte anhand des Stadtplans von New York City. Das kann nicht einmal eine schicke Herrenboutique im alten CBGBs-Gebäude ändern. Denn mittlerweile ist die Bowery längst gentrifiziert worden. Aber in den Fotos von Robert Mapplethorpe und Chris Stein, den frühen Filmen von Jim Jarmusch und Amos Poe oder eben in „Marquee Moon“ und dem im selben Jahr von Richard Hell veröffentlichten Album „Blank Generation“ stechen diese Assoziationen einer Szene weiter deutlich hervor.
Wenngleich Televisions Debütalbum vor allem in Großbritannien auf Resonanz bei Publikum und Kritikern stößt, bleibt es seinerzeit ein kommerzieller Misserfolg. Dennoch gilt das Werk heute als Klassiker der Rockmusik und ist in zahlreichen Bestenlisten auf vorderen Rängen vertreten, etwa belegt es Platz 107 der 500 besten Alben aller Zeiten des „Rolling Stone“. Im April 1978 folgt „Adventure„, das trotz guter Kritiken nicht aus dem Schatten des wegweisenden Vorgängers heraus kommt. Kurz darauf löst sich die Band aufgrund musikalischer Differenzen und Richard Lloyds vermeintlicher Drogensucht auf. Die Mitglieder verfolgen Solokarrieren, wobei sowohl Verlaine als auch Lloyd Soloalben veröffentlichen. 1992, 14 Jahre nach ihrer Trennung, nimmt die Band noch einmal ein neues, simpel „Television“ betiteltes Album auf, welches zwar erneut weitgehend wohlwollend bewertet wird, kommerziell jedoch wenig Erfolg hat, und geht ab 2001 wieder regelmäßig auf Tournee. Am 23. Januar 2023 stirbt Tom Verlaine nach kurzer Krankheit im Alter von 73 Jahren in Manhattan. Damit dürften Television wohl endgültig (Rock-)Geschichte sein, ihr Einfluss, welcher sich bei kaum weniger bekannten Musikheroen wie The Police oder U2 ebenso hörbar bemerkbar macht wie bei jüngeren Gitarrenrockbands wie etwa den Strokes, bleibt unumstritten groß.
Rock and Roll.