Egal ob sie nun aus dem Musiker-Business, aus der Sportwelt, aus Hollywood oder dem Superhelden-meets-Superschurken-Universum stammen – der aus Israel stammende und in Kalifornien beheimatete Grafikdesigner Gil Finkelstein verjüngt unter dem Titel „The Baby Superstar“ via Instagram auf ebenso kreative und humorvolle wie herzallerliebste Weise die hinlänglich bekannte Prominenz, die zwar hier vor allem durch volle Windeln von sich reden machen mag, sich jedoch oft genug auch durch das ein oder andere „Markenzeichen“ zu erkennen gibt… Prädikat: sollte man gesehen haben.
Singer/Songwriter Christian Lee Hutson sieht auf eine Art und Weise gut aus, die Fremde dazu verleitet, ihn vorschnell mit ungleich berühmteren Leuten zu verwechseln. So soll es bereits mehrfach vorgekommen sein, dass er mit vermeintlichen Fans für Selfies postierte – und die trotz seiner Proteste darauf bestanden, dass er der britische Schauspieler Dan Stevens sei. Geboren und aufgewachsen im kalifornischen Santa Monica, zählt Hutson unter anderem Phoebe Bridgers und Conor Oberst zu seinen Freunden, die beide auf seinem aktuellen Album „Quitters„, wie bereits beim Vorgänger, als Produzenten auftreten. Außerdem war er eine Zeit lang als Tourgitarrist für Jenny Lewis unterwegs, nachdem diese ihn dazu einlud – und das, obwohl er nicht einmal eine E-Gitarre besaß. Mit seinen blonden Locken und blauen Augen wirkt er wie die Charaktervorlage aus einem Alexander-Payne-Film, wie der attraktive Typ, dem immer nur Gutes zu passieren scheint. Hollywood – etwas Traumjägerfabrik, umso mehr schöne Fassade…
Die Realität ist jedoch zum Glück ungleich interessanter. Bevor er zu Bridgers‘ kreativem Zirkel stieß, der sich im Grunde mal hier, mal da immer wieder gegenseitig bei neuen Sachen unterstützt, und 2020 mit seinem dritten Album „Beginners„, seinem ersten bei ANTI Records, den Quasi-Durchbruch schaffte, trat Hutson als Teil der Roots-Alt.Country-Band The Driftwood Singers in Erscheinung und spielte jahrelang in Weinbars vor einem Publikum von „zwei Leuten, die höflich sein wollten“. Davor verbrachte der 31-jährige Musiker zudem eine gefühlte Ewigkeit als gescheiterter Americana-Sänger, komplett mit falschem Akzent und entbehrungsreicher Hintergrundgeschichte, um dem zu entkommen, was er seine „beschissene kalifornische Stimme“ nennt. Mit anderen Worten: Hutson scheint mit jener Art von echtem Selbsthass „gesegnet“, dem nur die größten Singer/Songwriter anheim fallen, und er verbrachte Jahre damit, sich mühsam einen Weg durch die innere kreative Ödnis zu bahnen, um seine wahre Stimme zu finden. Kaum verwunderlich also, dass er die Songs von „Beginners“ gemeinsam mit Phoebe Bridgers und Conor Oberst bis zu fünf oder sechs Mal in verschiedenen Stilen und Arrangements aufnahm, bis er wusste, dass er ihre Essenz getroffen hatte.
„Phoebe ist meine beste Freundin, und die Aufnahmen von ‚Beginners‘ mit ihr waren so angenehm und einfach, deshalb wollte ich wieder mit ihr arbeiten. Conor dabei zu haben, diente dem Zweck, jemanden zu haben, den ich als Texter wirklich respektiere und der meine Ängste lindern konnte.“ (Christian Lee Hutson)
Was das kreative Trio eint, ist die gemeinsame Verehrung des großen, fraglos zu früh verstorbenen Elliott Smith – und vor allem im Fall von Christian Lee Hutson braucht es nur wenige Sekunden eines beliebigen Songs, um das zu erkennen. Sowohl auf „Beginners“ als auch auf „Quitters“ singt er in (s)einem ganz ähnlichen intim-nahebaren Flüsterton und nimmt die Saiten seiner Akustikgitarre mit der gleichen Intensität auf wie ein Naturdokumentarist, der jeden einzelnen Grashalm aus jeder erdenklichen Perspektive zu filmen scheint. Zudem scheint sich auch Hutson zu den kalifornisch hell tönenden, oberflächlich hübsch anmutenden Klängen und Harmonien hingezogen zu fühlen, die Elliott Smith anno dazumal aus dem Ärmel schüttelte, als er zu DreamWorks wechselte, um „XO“ und „Figure 8„, seine letzten Alben zu Lebzeiten, aufzunehmen, und sich all die Beatle’esk anmutenden zusätzlichen Gitarrenparts und Streicherarrangements zunutze machte, die er sich nach dem plötzlichen Major-Erfolg von „Miss Misery“ leisten konnte. Und ähnlich wie Smith scheint sich auch Hutson unterhalb der in Schönklang sterbenden Oberfläche seiner Stücke zu winden und ein ums andere Mal mit der Gehaltlosigkeit des zwischenmenschlichen Umgangs im Künstler-Molloch Los Angeles zu fremdeln. A singular ode to melancholy.
Dass „Quitters“ deutlich kohärenter ums Eck kommt, hat den einfachen Grund, dass „Beginners“ noch eine Sammlung an Stücken bot, die sich über einen Zeitraum von zehn Jahren angesammelt hatten (schließlich erschien der Vorgänger „Yeah Okay, I Know“ bereits 2014). Für das ganz good old fashioned analog und auf Band aufgenommene neue Album startete Hutson also vor einem weißen Blatt Papier – und mit allerlei Inspirationen durch Scott McClanahans 2017 erschienenen Roman „Sarah.„, welcher seinerseits bereits mit ein paar denkwürdigen Sätzen beginnt: „Ich weiß nur eine Sache übers Leben. Wenn du lang genug lebst, fängst du an, Dinge zu verlieren. Alles wird dir weggenommen: Zuerst verlierst du deine Jugend, dann deine Eltern, dann verlierst du deine Freunde, und am Ende verlierst du dich selbst.“ (Interessierten sei der Roman mit seiner wunderbar schnoddrigen Übersetzung von Clemens Setz wärmstens empfohlen.)
Vereinte „Beginners“ noch zehn Kleinode und Abgesänge am Rand des Erwachsenwerdens, konzentriert sich Christian Lee Hutson bei den dreizehn Songs des aktuellen Langspielers, den nicht nur die titelgebende Klammer mit seinem Vorgänger eint, vermehrt auf die Ängste und Komplikationen des Älterwerdens. So ist das unter Verschluss gehaltene Lachen, das „Quitters“ ankündigt, ein Lachen, wie man es am Ende von John Huston-Filmen findet, ein Lachen der Resignation, aber auch des Loslassens – und irgendwie, irgendwie ein kosmisches Lachen, das unausgesprochen „Kalifornien“ zu implizieren scheint, seit eh und je ja ein Ort, an dem sich einsame Menschen wie desillusionierte Vögel versammeln.
Eröffnen darf „Strawberry Lemonade“, eine anekdotische, traumverhangene Aneinanderreihung des Schmerz-Erlebens, die sich nach anfänglicher, zu gezupfter Akustikgitarre vorgetragener Zurückhaltung erst behutsam, dann immer windiger auftürmt. Meg Duffy alias Hand Habits steuert ein brauchbares Solo bei, Conor Oberst schreit im Hintergrund, Hutson liefert zudem eine der vielen gleichsam wahren wie tollen Textzeilen: „Pain is a way you can move through time / Visit people that are gone in your mind„. Das folgende „Endangered Birds“ fängt diese Aufruhr wieder ein und stellt Fingerpicking neben weiträumige Streicherläufe, während „Rubberneckers“ zwar nicht weniger träumerisch, dafür pickepackevoll gepackt mit feinen Melodien tönt und Hutson gemeinsam mit Phoebe Bridgers im nahezu kraftvollen Refrain gegen Schlagzeug und Herzschmerz ansingt. Ein heimlicher Hit.
Die erste Strophe von „Age Difference“ verbringt er damit, sich in die Gedankenwelt eines unglücklichen, möglicherweise recht widerwärtigen Mannes in seinen Dreißigern hineinzuversetzen, der sich zwar mit einer viel jüngeren Frau vergnügt, die eigene Mißmutigkeit dabei jedoch nicht ad acta legen kann: “I think I was suicidal before you were even born”. Es ist die mikroskopische Charakterisierung einer präzisen Art von Widerling, aber Hutson verkompliziert die Skizze sogar noch und macht ihn mithilfe weniger weiterer Worte zu einem fast schon sympathischen Beobachter: “You watch your family drink the Kool-Aid / Powerless to stop them / First time as an adult that you wish you had been adopted”. Der Song endet mit einem schwermütigen Bild des Fieslings, der versucht, die jüngere Wegbegleiterin aufzumuntern: “Do my impression of John Malkovich critiquing food in prison / At first it isn’t funny, then it is, and then it isn’t”. Nur wenige Folk-Lyriker können auf so engem Raum so klare Porträts zeichnen; noch weniger können sie so natürlich mit so langatmigen Melodien unterlegen – vieles hier lässt, neben dem natürlich unvermeidlichen Elliott Smith, an Große wie etwa Cat Stevens, Paul Simon oder The Nationals Matt Berninger denken. Ausgestattet mit (s)einer wahnsinnig guten Beobachtungsgabe, darf man sich Christian Lee Hutson gern auf einer Parkbank sitzend vorstellen, von der aus er dem Alltag um ihn herum folgt, den kleinen wie großen Dramen, die das Leben so schreibt. Oder wie er ein Mikroskop auf ein herbstlich gezeichnetes Blatt richtet, um all Linien, alle Feinheiten zu erkennen. Oder wie er, bewaffnet mit Notizbuch und Stift, vom Tisch eines kleinen Cafés aus die Leute an der Kasse eines nahen Lebensmittelladens beobachtet – und aus alledem Songs verfasst, die kurzgeschichtenhaft in medias res gehen, manches Mal zwar im ersten Moment wie eine recht lose Aneinanderreihung von Gesprächsfetzen erscheinen, sich dann jedoch wie ein cleveres Kreuzworträtsel voll gepfiffener Melodien zusammenfügen.
Das Beste: Hutson, der sich auch verdammt gut aufs Covern fremder Kompositionen versteht (wie die drei im vergangenen Jahr veröffentlichten „The Version Suicides„-Singles beweisen), weiß mit derlei Qualitäten immer wieder zu überzeugen. Fast scheint es, als könne man einen beliebigen Song von „Quitters“ wählen, um im Anschluss mit etwas geradezu schmerzhaft Präzisem belohnt zu werden. In „Sitting Up With A Sick Friend“ etwa legt er einmal mehr die Szenerie fest: der Erzähler liegt wach auf der Couch eines Freundes und wundert sich über dessen unerklärliche Vorliebe für ein schreckliches Wandgemälde. „I have to figure out how to get rid of this stuff“, singt er, und plötzlich ist man sich nicht mehr sicher, ob der kranke Freund noch lebt oder der Erzähler in Gedanken zu dem Moment vorspult, in dem er die Verantwortung für dieses schreckliche Gemälde übernehmen und über dessen Schicksal entscheiden wird.
Wie jeder, der fesselnde, in Songs gewandelte Geschichten in der Ich-Form erzählt, legt auch Hutson den Verdacht nahe, dass es sich bei all diesen traurigen Säcken, verlorenen Seelen, hoffnungslosen Säufern und nostalgischen Ex-Freunden – zum Teil – um eine Version seiner selbst handelt. Die stets vorhandene Lakonie in seiner Stimme macht ihn dabei zum undurchschaubaren Hütchenspieler – nie weiß man genau, ob er einen anprangert, seine unsterbliche Liebe beteuert oder sich entschuldigt. Was aus seinen Liedern am deutlichsten herauszuhören ist, ist der Überdruss – nahezu jede Figur auf diesem Album gesteht irgendeine Version davon, sei es der Freund, der sich manchmal wünschte, er würde einfach „zufällig sterben“ (in „Sitting Up With A Sick Friend“) oder die Figur, die einen handfesten Streit mit einem Partner unterbricht, um, wie in „State Bird“, anzumerken: “There’s an eyelash on your left cheek / I wanna tell you, but you’re yelling”. Im Grunde sind alle großen Schriftsteller Elstern und Diebe, die am Ende des Tages allein vor ihren Tastaturen, Schreibmaschinen und Notizbüchern enden. Hutson schlüpft semiautobiografisch in die Haut seiner Charaktere wie ein findiger Einbrecher, stiehlt jedem von ihnen etwas gefühlt Unersetzliches und bildet aus dem Diebesgut eine durch und durch gelungene Dreiviertelstunde voller melancholisch-nebelverhangener Alltagsfluchten, prall gefüllt mit halb erinnerten Momenten verlorenen geglaubter Leben.
Nach einigen kleinen Andeutungen hat die Funk-Rock-Institution Red Hot Chili Peppers ihre neue Single „Black Summer“ enthüllt – endlich, möchte man meinen, schließlich ist der Opener nicht nur die erste Auskopplung aus dem ebenfalls heute angekündigten neuen Album „Unlimited Love„, sondern auch der erste gemeinsame Song mit Gitarrist und Co-Sänger John Frusciante seit immerhin 16 Jahren.
Wie die Band auf ihrem zwölften Studioalbum von Frusciante, der nach mehrjähriger Pause, während derer er von Josh Klinghoffer ersetzt wurde, 2019 wieder zurück zu den Chili Peppers gefunden hatte, profitiert, deutet der neue Song bereits an: ordentlich Drive, Rhythmik, Laut-Leise-Dynamik und das ein oder andere komplexe Solo – auf „Black Summer“ erinnert die Band mit ihrem alten Gitarristen wieder an Erfolgsalben wie „Californication“ (1999) oder „By The Way“ (2002) – wenn auch etwas gediegener. Auf „Unlimited Love“ kehrt übrigens auch Rick Rubin (Beastie Boys, Slayer, Johnny Cash) zurück, der – ausgenommen „The Getaway“ (2016) – alle Alben seit dem 1991er Durchbruchswerk „Blood Sugar Sex Magik“ produzierte.
Mit dieser ersten – auch visuell – ausufernden Auskopplung unterstreicht die Band aus Los Angeles auch ihre eigenen Ambitionen für die dazugehörige kommende Platte: „Unser einziges Ziel ist es, uns in der Musik zu verlieren“, erklärten die Red Hot Chili Peppers in ihrem offiziellen Statement. „Wir (John, Anthony, Chad und Flea) haben gemeinsam und einzeln Tausende von Stunden damit verbracht, unser Handwerk zu verfeinern und füreinander da zu sein, um das beste Album zu machen, das wir machen konnten. Unsere Antennen waren auf den göttlichen Kosmos ausgerichtet, und wir waren einfach so verdammt dankbar für die Gelegenheit, zusammen in einem Raum zu sein und wieder einmal zu versuchen, besser zu werden. Tage, Wochen und Monate verbrachten wir damit, einander zuzuhören, zu komponieren, frei zu jammen und die Früchte dieser Jams mit großer Sorgfalt und Absicht zu arrangieren. Die Klänge, Rhythmen, Schwingungen, Worte und Melodien haben uns in ihren Bann gezogen.“
Weiterhin soll laut Rückkehrer Frusciante das Album von Leuten wie „Johnny ‚Guitar‘ Watson, The Kinks, The New York Dolls, Richard Barrett“ und weiteren inspiriert sein. „Das Gefühl des mühelosen Spaßes, den wir hatten, wenn wir Songs von anderen Leuten spielten, blieb uns die ganze Zeit über erhalten, als wir es schrieben. Für mich repräsentiert diese Platte unsere Liebe zueinander und unser Vertrauen ineinander“, führte der 51-jährige Saitenschwinger aus.
Der Nachfolger von „The Getaway“ wird ganze 17 Songs enthalten und am 1. April erscheinen. Im kommenden Sommer gehen die vier Kalifornier mit der neuen Platte dann – hoffentlich – auch auf Tour. Dafür kommen Anthony Kiedis, Flea, John Frusciante und Chad Smith für zwei Termine nach Deutschland.
Wie so viele andere auch hatten die Emo-Punk-Indierocker von Spanish Love Songs im nahezu konzertfreien Musikjahr 2021 ein deutliches Plus an Freizeit zu verzeichnen. Also wurde das Beste aus der ungewollten Lage gemacht und man ging zurück ins Studio.
Doch anstatt neue Songs zu schreiben, nahm die fünfköpfige Band sich der Stücke ihres formidablen, im Februar 2020 erschienenen dritten Albums „Brave Faces Everyone“ (welches damals einen völlig verdienten Silberplatz von ANEWFRIENDs „Alben des Jahres“ errang) ein zweites Mal an. Das Ergebnis: „Brave Faces Etc.„, welches die bekannten Nummern in neuem musikalischen Gewand präsentiert und im April erscheinen wird. Frontmann Dylan Slocum weiß Folgendes zu berichten:
„Kurz vor dem einjährigen Jubiläum des Albums haben wir beschlossen, die Songs auf die gleiche Art und Weise neu zu interpretieren, wie wir es mit unseren früheren Alben für unsere Patreon-Community getan haben. Ich weiß nicht, ob irgendjemand von uns jemals mit einem fertigen Album zufrieden war, das wir veröffentlicht haben, also war dies unsere Chance, einige Dinge auszuprobieren, die wir auf dem Original nicht machen konnten, sei es wegen des Budgets, aus Zeitmangel, etc. Gleichzeitig sahen wir es als Chance, uns musikalisch ein wenig herauszufordern und den Sound der Band zu erweitern, um besser widerzuspiegeln, wo wir alle in Sachen Songwriting und Produktion stehen.“
Bereits jetzt lässt die Band aus Los Angeles, Kalifornien zwei Kostproben hören: „Generation Loss„, welche sich in der Neuaufnahme als herzzerreißende Akustikballade präsentiert, sowie „Optimism (As A Radical Life Choice)“, das lediglich eine Akustikgitarre, Synthesizer und Dylan Slocums Stimme benötigt, um auch ein zweites Mal als Elektro-Emo-Slow-Burner zu überzeugen. Zu zweiterem meint Slocum:
„‚Optimism (As Radical Life Choice)‘ stach auf dem Originalalbum schon immer als ein Song mit einem etwas anderen Vibe hervor, und wir haben versucht, diese Energie auch in der überarbeiteten Version beizubehalten. Wir haben den schrillen Neunzigerjahre-Rock-Beat genommen und ihn in einen echten Downer von einem Dance-Song verwandelt, was bedeutete, dass wir mit all den Drum-Machines und Synthesizern spielen konnten, die wir schon immer benutzen wollen. Ich finde es toll, dass die Bridge hier irgendwie chaotischer ist als im Original und wirklich die Angst des Songs transportiert, während wir es irgendwie geschafft haben, den Dance-Vibe beizubehalten.“
Was für Musik braucht man in einem so eigenartigen Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf diese ganze verdammt verrückte und aus den Angeln geratene Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser, „normaler“, gewohnter werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie das Schlechte – für Momente vergessen lässt. Eine Zuflucht. Eine Ton und Wort gewordene zweite Heimat. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2021 einmal mehr recht wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!
2021, ein Jahr, welches rückblickend im Schatten dieser vermaledeiten Pandemie an einem vorbeizog. Januar… Corona… Dezember. War irgendwas? Habe ich irgendetwas verpasst? Nope? Okay, gut – ich leg’ mich mal wieder hin.
Trotzdem musste es auch in den zurückliegenden zwölf Monaten – und fern aller Kontakbeschränkungen, Li-La-Lockdown-Hin-und-hers, Impfdiskussionen und Wutbürgereien (alles so Begriffe, die kaum einer noch hören oder lesen mag, jedoch längst in unseren sprachlichen Alltag übergegangen sind) – ja irgendwie weitergehen. Während der große Musikfestival- und Konzerttross auch 2021 – allen Lösungs- und Anschubversuchen der Beteiligten zum Trotz – im Gros zum Stillstand verdonnert war, durfte der musikalische Veröffentlichungskalender das ein oder andere Highlight für sich verbuchen, welches es eventuell ohne Fledermaus, menschliche Dummheit und eben Corona nie gegeben hätte. Wäre, wäre, Fahrradkette – klar.
Ebenso auffällig ist, dass sich die ANEWFRIEND’sche Alben-Jahresbestenliste in 2021 wieder auffällig vom Konsens anderer Musikmagazine und -portale unterscheidet, nachdem ich 2020 noch – völlig berechtigt – in die Jubelfeier von Phoebe Bridgers’ großartigem Werk „Punisher“ einstimmen durfte. Denn während andernwebs gefühlte Konsens-Platten von Turnstile oder Little Simz abgefeiert, hochjubiliert und über den grünen Kritikerklee gelobt werden, finden diese hier so gar nicht statt. Hab’s versucht, habe reingehört – just not my cup o’tea. (Dass jedoch weder die neue Platte von The War On Drugs, noch die von etwa The Notwist oder Mogwai – um nur eben die paar Beispiele zu nennen, welche mir gerade einfallen – Erwähnung finden, ist wohl vielmehr dem simplen Fakt geschuldet, dass ich bei all den tollen neuen Tönen des Musikjahres noch nicht zum Hören dieser Alben gekommen bin.) Andererseits findet mein persönliches Album des Jahres andernwebs (beinahe schon erschreckend) wenig Erwähnung. Verehrte Kritiker-Kolleg*innen – was’n da los?
An Luke Gruntz und Ian Fraser alias Cleopatrick kann’s keinesfalls liegen, denn die beiden Kanadier zerlegen mit ihrem Langspiel-Debüt „BUMMER“ in weniger als einer halben Stunde in bester Duo-Manier mal eben alles, was gerade noch unbehelligt im eigenen verranzten Proberaum in Coburg, Ontario im Weg stand. The Black Keys sind euch zu bluesmuckig? Royal Blood sind mittlerweile – und spätestens mit ihrem diesjährigen dritten Album „Typhoons“ – zu sehr in Richtung Indiedisco gehüpft? Bei den White Stripes hat die so schrecklich eintönig neben dem Beat trommelnde Meg White eh schon immer genervt? Dann sind diese zehn Stücke euer persönlicher Hauptgewinn! Im Grunde gibt’s über diese Platte im tiefen Dezember auch gar nicht mehr zu berichten als das, was ich knapp sechs Monate zuvor in meiner Review zum Ausdruck gebracht habe (oder zum Ausdruck bringen wollte). Das Ding rockt wie die im Lockdown ganz fuchsteufelswild gewordene Sau! Mehr juvenile, am Zeitgeist zwischen Blues’n’Indierock- und Hippe-di-Hopp-Gestus gewachsene Pommesgabel brauchte es 2021 nicht. Hat leider kaum ein grunzendes Nutztier mitbekommen, macht’s für mich selbst aber keineswegs schlechter. Geil, geiler, Cleopatrick on fuckin’ repeat.
Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 1: Brandon Flowers und seine Killers durfte man eigentlich – nach immerhin vier im Großen und Ganzen (n)irgendwohin musizierenden Alben zwischen 2008 und 2020 (also alle nach „Sam’s Town“) – schon ad acta legen. Umso überraschender, dass dem Bandkopf der Las-Vegas-Alternative-Poprocker ein solches qualitativ dichtes, tatsächlich zu Herzen rührendes Werk wie „Pressure Machine“ in den kreativen Schoß fiel, während Flowers – wie viele seiner Kolleg*innen auch – dazu verdonnert war, konzertfrei zu Hause herumzusitzen. Er machte das Beste daraus und zog sich gedanklich nach Nephi zurück, einem 5.000-Seelen-Örtchen im Nirgendwo von Utah, Vereinigte Staaten, wo er als zehn- bis 17-Jähriger lebte, bevor es ihn wieder in seine Geburtsstadt Las Vegas verschlug. Die daraus resultierenden Tagträumereien sind jedoch keineswegs biografisch verklärter Hurra-US-Patriotismus, sondern ein ehrlicher, scheuklappenfreier Tribut an die oft von der Gesellschaft vergessenen „einfachen Leute“, an ihre Leben, Lieben und persönlichen Geschichten. Dass diese irgendwo zwischen auf Balladeskes im Heartland Rock und – ja klar, gänzlich können es Flowers und seine drei Bandkumpane auch hier nicht lassen – schillernde Festivalhauptbühnendiscokugel pendelnden elf Songs ebenjene „einfachen Leute“ zwischendrin auch selbst zu Wort kommen lassen, macht das Gesamtergebnis eben nur noch dichter, tiefer und zu einem Konzeptwerk-Erlebnis, welches selbst die größten, wohlwollendsten Killers-Freunde anno 2021 kaum mehr erwartet haben dürften. Großes Breitwandformatkino für die Ohren.
Man einem Künstler, manch einer Künstlerin verleiht das Glück der Liebe ja keine kreativen Hemmschuhe, sondern vielmehr tönende Flügel – das beste aktuelle Beispiel dürfte Mackenzie Ruth „Torres“ Scott sein. Deren fünfte Platte bestätigt zudem, dass die im wuseligen Big Apple beheimatete US-Musikerin längst aus der Indie-Singer/Songwriterinnen-Sadcore-Nummer früherer Tage heraus gewachsen ist. Für die zehn Stücke von „Thirstier“ setzt sie auf raumgreifende Rock-Hymnen, welche selbst kleine Alltäglichkeiten immer etwas glänzender darstellen, als man sich das zunächst denken würde. „Before my wild happiness, who was I if not yours?“ konstatiert Torres beispielsweise in „Hug From A Dinosaur“. Oft genug stellt man sich beim Hören der Songs selbst die Frage: Wie schön – zum Himmel, zur Hölle – kann man bitte über die Liebe singen?!? Exemplarisch etwa das sanft startende und in einem fulminanten Feuerwerk endende fantastische Titelstück: „The more of you I drink / The thirstier I get“ – Zeilen fürs von Herzen umrahmte Poesiealbum, ebenso das Zitat aus dem manischen Finale des Albumabschlusses „Keep The Devil Out“, welches passenderweise die Auslaufenrillen der A- und B-Seiten der Vinylversion ziert: „Everybody wants to go to heaven / But Nobody wants to die to get there“. Bei Torres sind diese gefühligen Momente anno 2021 meist mit donner-dröhnenden Gitarrenteppichen unterlegt, die sich so mit ihrer mahnend bis sehnsüchtig-zerrenden Stimme verbinden, dass man nur jubilieren möchte: Endlich mehr Liebe, endlich mehr Epos! Ihr bisher gelungendstes Werk, ohne Zweifel.
Moritz Krämer macht mit „Die traurigen Hummer“ ein nahezu lupenreines „Moritz-Krämer-Album“ und beweist, dass er noch immer der besten bundesdeutschen Liedermacher ist. Dass dieses irgendwie ja vor dem zweiten Album „Ich hab’ einen Vertrag unterschrieben“ entstand? Dass der Berliner Musiker, den man sonst als ein Viertel von Die höchste Eisenbahn kenn kann, hier einmal mehr den Blick auf die abseitigen kleinen Alltagsmomente legt und für jene Sätze findet, auf die man selbst in abertausend Leben nicht gekommen wäre, die aber nun plötzlich ebenso richtig wie wichtig scheinen? Dass Krämer sich in den zehn Songs einmal mehr als wohlmöglich größter Kauz des deutschen Indie Pops erweist? Alles erfreulich, alles ebenso unterhaltsam wie kurzweilig, genau wie dieses Album.
Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 2: Gisbert zu Knyphausen, seines Zeichens – neben dem gerade erwähnten Moritz Krämer – ein anderer großer deutscher Liedermacher, und Kai Schumacher, mit Talent gesegneter Pianist und hier der andere kongeniale Part, kommen mit Neuvertonungen von Franz Schubert-Stücken ums Eck. Was im ersten Moment – und ohne einen der Töne von „Lass irre Hunde heulen“ im Gehörgang zu haben – anmuten könnte wie die nervtötende siebente Stunde im Deutsch- oder Musik-Leistungskurs, gerät überraschenderweise derart faszinierend, dass es eine wahre Schau ist. Gisbert zu Knyphausen und Kai Schumacher transportieren etwa 200 Jahre alte Stücke ins 21. Jahrhundert als wäre dieses Kunststück das kleinste der Welt. Romantik meets Moderne, und man selbst hört fasziniert träumend zu.
Mal Butter bei die Fische: Jene Band, die einst mit „Infinity Land“ und „Puzzle“ auch meinen eigenen musikalischen Kosmos im Sturm eroberte, gibt es längst nicht mehr. Sie wird wohl auch kaum mehr wiederkommen, da brauchen sich selbst innigst Hoffende wenig vormachen. Zu breit ist die Fanbasis geworden, die sich Biffy Clyro mit den darauffolgenden Alben in den vergangenen zehn Jahren erschlossen haben, zu mainstreamig fällt das Festival-Publikum aus, das die Headlines-Auftritte der drei Schotten mittlerweile besucht. Und doch gibt „The Myth Of The Happily Ever After“ endlich wieder berechtigten Grund zur Hoffnung – und all jenen die Hand, die einst Songs wie „Wave Upon Wave Upon Wave“ erlagen. Wenngleich Biffy Clyro recht wenig Interesse daran haben, die Uhren so weit zurückzudrehen. In Ansätzen gab bereits der letztjährige Vorgänger „A Celebration Of Endings“ den neuen Glauben an die Band zurück, allen voran durch den ruppigen Schlusstrack „Cop Syrup“. Aber erst sein in Lockdown-Eigenregie entstandenes Geschwister-Album, mit Fleisch gewordenem Alternative Rock in „A Hunger In Your Haunt“, einer Gänsehaut erzeugenden Verneigung vor einem zu früh verstobenem Freund in „Unknown Human 01“, der aufbäumenden Ehrerbietung für ein unterentwickeltes japanisches Rennpferd namens „Haru Urara“ und einem erneut aggressiv schäumendem Finale, lässt das 2016er Werk „Ellipsis“ endgültig als elektropoppigen Solitär in der Vita einer der größten und sympathischsten Stadionbands der Gegenwart erscheinen. Mon the Biff!
„Seventeen Going Under“, das Nachfolgewerk zu Sam Fenders bockstarkem Debütalbum „Hypersonic Missiles“ (welches seinerzeit, 2019, den Spitzenplatz der ANEWFRIEND’schen Jahrescharts erobern konnte), ist eine klassische Coming-Of-Age-LP. Der Musiker aus North Shields, einer kleinen Stadt im Nordosten Englands, berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Teenager, die oft genug von Angst, Wut und Problemen handeln – „See, I spent my teens enraged / Spiralling in silence“ wie es im eröffnenden Titelstück heißt. Trotz der sehr persönlichen Geschichten schafft es Fender, die Themen – schwierige Beziehungen mit Familie und Freunden, Umgang mit Erwartungshaltungen, Erfahrungen mit Alkohol und Gewalt, Gefahren toxischer Männlichkeit – universell zugänglich und nachfühlbar für alle Hörer*innen zu machen. So handelt „Get You Down“ davon, wie eigene Unsicherheiten Partnerschaften beeinflussen, oder „Spit Of You“ von der schwierigen Beziehung von Vätern und Söhnen. Aber auch seine politische Seite zeigt der Engländer wieder, wenn er etwa in „Aye“ seinem Ärger über die gegenwärtigen Zustände Luft macht und zu dem Schluss kommt: „I’m not a fucking patriot anymore, […] I’m not a fucking liberal anymore“. In eine ähnliche Richtung geht „Long Way Off“, in dem es heißt: „The hungry and divided play into the hands of the men who put them there“. Beim Sound wird Fender seinem Ruf als „Geordie Springsteen“ oder als einer Art „britischer Antwort auf The War On Drugs“ weitgehend gerecht. Klassischer, hymnisch orientierter Rock-Sound trifft in den elf Songs (in der Deluxe Edition sind’s sogar fünf mehr) auf treibende Gitarrenriffs und Saxofon-Einlagen, der jedoch wegen seiner kraftvollen Produktion und dem pumpenden Schlagzeug dennoch alles andere als gestrig tönt. Und: Der 27-Jährige und seine Band variieren und spielen auch – etwa, wie bei „Spit Of You“, mit Country-Einflüssen oder Piano-Balladen-Interpretationen („Last To Make It Home“ und „The Dying Light“). Fast ein bisschen experimentell klingt „The Leveller“ an, wenn sich hämmernde Drums mit Streichern auf Speed verbinden. Alles in allem mag „Seventeen Going Under“ zwar im ersten Hördurchgang nicht dieselbe Sogwirkung entwickeln wie der Erstling, geht jedoch dennoch als würdiger Nachfolger von „Hypersonic Missiles“ durch, der einen trotz der ernsten, gesellschaftskritischen Themen mit einem zwar melancholischen, jedoch durchaus guten Gefühl entlässt. Oder, wie Sam Fender es selbst recht passend zusammenfasst: „It’s a celebration of life after hardship, and it’s a celebration of surviving.“
Dass Manchester Orchestra, bei genauerem Hinhören seit einiger Zeit eine der faszinierendsten Bands im Alternative-Rock-Kosmos, kein Album zweimal schreiben, macht den Sound des US-Quartetts aus Atlanta, Georgia irgendwie aus und lässt ihre Werke bestenfalls zu von Hördurchgang zu Hördurchgang stetig wachsenden Klang-Kaleidoskopen werden wie das 2017er Album „A Black Mile To The Surface“. Auf „The Million Masks Of God“, seines Zeichens Langspieler Nummer sieben, entfernt sich die Band um Frontmann Andy Hull noch weiter von ihren frühen Emo-Rock-Einflüssen zugunsten eines poppigen, noch weiter aufgefächerten Indie-Sounds, der hier vor allem um Einflüsse aus Americana, Alt. Country und sogar Gospel erweitert wird. Wer’s böse meint, der könnte behaupten, dass es wohlmöglich das „amerikanischste Album“ sei, dass Manchester Orchestra je (oder zumindest bisher) geschrieben haben. So versetzt etwa „Keel Timing“ alle Hörer*innen direkt in eine Midwest-Szenerie, die einem einen Güterzug vors innere Auge pinselt. Wer noch mehr zu kriteln haben mag, der darf gern behaupten, dass dem Album in Gänze – zumindest im ersten Moment – jener „Pop-Approach“ fehlen mag, welchen einzig „Bed Head“, ein nahezu perfekt geschriebener Popsong mit hohem Suchtfaktor, liefert. Stattdessen verlagern Andy Hull und Co. das Faszinosum hier weiter ins Detail und hinein in die stilleren Töne, wenngleich es mit „The Internet“ auch einen kleinen Rückblick auf den Vorgänger „A Black Mile To The Surface“ gibt. Mit dem hat „The Million Masks Of God“ dann noch etwas anderes gemein: Einmal mehr benötigt ein Manchester Orchestra-Langspieler mehr Zeit, mehr Hördurchgänge, um zu wachsen, um in Tiefe wirklich erfasst werden zu können. Freunde der Band aus Zeiten vor dem ähnlich einnehmenden „Simple Math“ wird es jedoch wohl nur schwerlich begeistern können.
Spätestens seit ihrer Rückkehr nehmen Thrice verlässlich Platten von großmeisterlicher Souveränität auf – „Horizons / East“ bildet da erfreulicherweise keine Ausnahme. Dass Frontmann Dustin Kensrue dieses Mal eindringlich von bröckelnden Gewissheiten singt, darf dennoch als Hinweis an alle durchgehen, die sich vor der Altersmilde einer ehemaligen Sturm-und-Drang-Band fürchten. Klar, behagliche Gitarren-Ströme beherrscht das US-Quartett genauso mühelos wie aufbrandende Refrains, das macht Songs wie das erst anmutig torkelnde und schließlich explodierende „Dandelion Wine“ oder die knackige Deftones-Hommage „Scavengers“ jedoch nicht weniger beeindruckend. Schuld daran sind Details in den Texturen – die verdrehten Riffs in „Scavengers“ etwa – oder rhythmische Haken, die den umliegenden Wohlklang bestenfalls schaumig schlagen. Andere Songs experimentieren stilistisch, „Northern Lights“ mischt zum Gefrickel unruhigen Bar-Jazz, „Robot Soft Exorcism“ wiederum integriert thematisch passend synthetische Sounds. Im Finale „Unitive / East“ lösen sich Thrice gar spektakulär in einer fluoreszierenden Soundpfütze auf, in welche ein klimperndes Piano tröpfelt – mit dem Versprechen, bald mit den Nachfolger „Horizons / West“ zurückzukehren.
„Everything I get, I deserve / You whisper to me ‚Don’t you like when it hurts?’…“ Niemand leidet so schön wie Julien Baker. Die Musik der Singer/Songwriterin aus Tennessee ist ein offenes Buch, das in wunderschönen Worten von Depressionen, Alkoholismus, Zweifeln an der eigenen Spiritualität und zerbrochenen Beziehungen erzählt. Schon auf ihrem 2015er Debüt kümmerte sich Baker herzlich wenig darum, geneigten Hörer*innen Oden von der Freude vorzuträllern – ist schließlich ihr Album, sind ihre Probleme, also ist all das ihre Therapie. Und all jene, die den Werdegang der mittlerweile 26-jährigen US-Musikerin genauer verfolgen, wissen: daran hat sich über die Jahre nichts – und wenn, dann lediglich in Detailfragen – geändert. Auch „Little Oblivions“, ihr nunmehr drittes Album, erzählt von recht ähnlichen Problemen in ebenso schönen Worten – und trifft einen damit erneut mitten ins Herz. Was sich allerdings geändert hat, ist die Art, wie Baker das Lecken ihrer Wunden musikalisch aufbereitet. Wo „Sprained Ankle“ und „Turn Out The Lights“ in ihrer Spärlichkeit und desolaten Klanglandschaften fast schon nihilistisch wirkten (was umso ironischer gerät, wenn man weiß, wie offen Julien Baker ihren Glauben zur Schau stellt), erklingen in „Little Oblivions“ erstmals detaillierte, organische Orchestrationen, die den tröstenden Silberstreifen verbildlichen, der sich im Laufe der Platte immer wieder flüchtig manifestiert. „Little Oblivions“ beschreibt diesen Moment, sucht danach – und macht darin am Ende doch vieles wieder kaputt. Man lausche nur dem fulminanten Finale von „Hardline“! Baker findet immer wieder kurz Halt, nur um erneut vom destruktiven Strudel aus Selbstzweifeln und der schlichten Unfähigkeit, glücklich zu sein, hinabgerissen zu werden. „It doesn’t feel too bad / But it doesn’t feel too good either“ – Ihre Songs sind bittersüße Umarmungen, ein wohltuendes Bad in den eigenen Tränen, das auf „Little Oblivions“ mehr denn je dazu einlädt, kopfüber einzutauchen, während Julien Baker einem klammheimlich das Herz aus der Brust reißt. Katharsis und Destruktion, Erlösung und Zweifel lagen 2021 selten näher beieinander.
„Girl Problems“ zeigt, was für eine musikalische wie persönliche Entwicklung The Bots aus Los Angeles (nicht zu verwechseln mit einer niederländischen Agit-Prop-Band selben Namens) in den letzten sieben Jahren durchlebt haben. Waren die bisher veröffentlichten Alben stark vom schepperndem Garage Rock mit Punk-Schlagseite geprägt, zeigen Mikaiah Lei und Alex Vincent hier vor allem ihre neu gewonnene Pop- und Melodie-Sensibilität – Talking Heads, Cocteau Twins und Best Coast statt Minor Threat, Black Flag und Bad Brains, quasi.
Da wirkt es umso erstaunlicher, dass die Songs des im September erschienenen Albums „2 Seater“ allesamt schon etwas älter sind. Sie stammen aus den Jahren 2012 bis 2015, als The Bots der Szene im heimischen Orange County entwuchsen und schnell bei großen Festivals wie Coachella und Bonnaroo spielten. Von Blur über Refused bis hin zu Tenacious D waren selbst gestandene Profimusiker hellauf begeistert und prophezeiten dem Brüderpaar Mikaiah und Anaiah Lei, die The Bots schon als kaum zehnjährige Dreikäsehochs gründeten, eine strahlende Rockmusik-Zukunft. Doch das Leben hatte – zunächst zumindest – andere Pläne. Schlagzeuger Anaiah zog es in Richtung Hardcore, Mikaiah nahm als Eskimo Kisses unzählige Solo-Songs auf, die er bewaffnet mit Music-Pad und Effekt-Boards auch gerne mal vom heimischen Badezimmer aus über Soundcloud oder Instagram jagte. Bis ihn schlussendlich die alte Liebe wieder überkam: Aus dem Nachfolger des 2014 erschienenen The Bots-Zweitlings „Pink Palms“ war nie etwas geworden, aber die Ideen von damals konnten nicht länger ungenutzt herumliegen. Mit neuen Erfahrungen ausgestattet, überarbeitete Mikaiah Lei nun, als Endzwanziger, jene nie zu Ende gebrachten/gedachten Songs, um auszudrücken, was ihm damals noch schwer fiel. Etwa die Höhen und Tiefen junger Liebe, die Notwendigkeit, Freundschaften zu pflegen, oder die eigene Gefühlsarbeit.
Einer der besten Songs von „2 Seater„, welches von Adrian Quesada, einer Hälfte der Grammy-prämierten Psych-Soul-Senkrechtstarter Black Pumas, produziert wurde, ist zweifellos das eingangs erwähnte „Girl Problems“, eine powerpoppige Ewiger-Sommer-Fuzz-Hymne gegen Rollenerwartungen und für Selbstbestimmung, welche auch beim hundertsten Durchgang nicht schlechter wird. „‚Girl Problems‘ wurde durch Geschichten inspiriert, die mir Freundinnen erzählt haben“, so Lei. „Es ist im Wesentlichen die Geschichte von ‚gemeinen Mädchen‘ und den Problemen, durch die junge Frauen durch müssen: gehässiges Verhalten, hinter dem Rücken reden und so weiter. Es bleibt alles an der Oberfläche, aber es ist etwas, das alle erleben oder auf sich beziehen können.“
Den rundum gelungenen Teenie-Sommer-Vibe von „Girl Problems“ um warme Nullerjahre-Indie-Gitarren und harmonischen Gesang fängt auch das dazugehörige Musikvideo ein. Zwischen Teenager-Zimmer, Swimming Pool, magischem 8-Ball, Tagebuch und Katzen folgen das Video und das Duo aus Lei und Vincent als Backing-Band den amüsanten Versuchen der Protagonistin, einfach nur sie selbst zu sein. Mit solchen Tönen im Gehörgang meldet sich der Sommer selbst im tiefsten Dezember für etwa vier Minuten zurück…