
2020 wäre wohlmöglich sein Jahr geworden: Rio Reiser hätte im Januar seinen 70. Geburtstag gefeiert und Ton Steine Scherben ihr 50. Jubiläum. Man hätte ihn – freilich stets social-distancing-konform – hofiert, gewürdigt und sich vom „Junimond“ bis rauf ins nordfriesische Fresenhagen tief vor dem „König von Deutschland“ verneigt. Und dabei wäre sicherlich noch einmal klar geworden, wie stark und nachhaltig gerade er den linken, nimmermüde protestierenden Rock’n’Roll in Deutschland geprägt hat…
Doch Ralph Christian „Rio Reiser“ Möbius starb 1996 imi Alter von 46 Jahren. Und mit ihm ging etwas verloren, das sich in keiner anderen Musikerpersönlichkeit hierzulande – da kann sich Selig-Frontmann Jan Plewka mit seinem ehrführchtig-launigen Rio-Tribut-Programm noch so große Mühe geben – seither so intensiv gezeigt hat: Reiser war Romantiker und Kämpfer, Aufklärer und Utopist, Hippie und Punker, strahlendes Rebellenidol und verhasste linke Pop-Zecke. Streitbar? Ja! Polarisierend? Klar! Charismatisch? Jawollo! Gemeinsam mit seinen Agitrock-Jungs von den „Scherben“ konnte er aus Worten Waffen formen und aus Emotionen Tatsachen. Wohl auch deshalb ist die Strahlkraft des deutschen Pendants zu einem wie John Lennon bis heute ungebrochen. Das zeigt auch die nun erschienene Compilation „Wir müssen hier raus – Eine Hommage an Ton Steine Scherben & Rio Reiser“, auf der unter anderem Die Sterne, Bosse, Jan Delay, Fettes Brot, Fehlfarben, Die Höchste Eisenbahn, Wir sind Helden, Beatsteaks, Slime oder Gisbert zu Knyphausen vertreten sind. Die Beiträge sind nicht alle neu, sondern stammen teilweise aus bekannten Veröffentlichungen. Jan Delays „Für immer und dich“ zum Beispiel ist bereits seit „Mercedes Dance“-Tagen bekannt, und auch die Helden-Version des Scherben-Gassenhauers „Halt dich an deiner Liebe fest“ hat bereits stolze 15 Lenze auf dem musikalischen Buckel.
Wie bei einer Beitragscouleur von Künstler*innen und Bands aus Genres wie Indie, Punk, Singer/Songwriter oder Pop nicht anders zu erwarten, fallen die hier versammelten Interpretation von Scherben- und Rio-Songs denn auch recht unterschiedlich aus. Die Sterne etwa widmen sich „Wenn die Nacht am tiefsten“ und geben ihm trotz aller Bissigkeit eine Portion verquerem Pop-Appeal, welche dem Stück durchaus gut zu Gesicht steht. Positiv heraus stechen auch „Jenseits von Eden“ der Hamburger Newcomer Erregung Öffentlicher Erregung, deren Synth-Rock-Version den Druck und die Freshness des Originals ins Hier und Heute überträgt, sowie die Schrottgrenze-Variante von „Menschenfresser„, schließlich sind auch heute Themen wie Ungerechtigkeit, Krieg, Unterdrückung, Frustration oder Hass aktuell wie anno 1986 (eventuell – leider – sogar aktueller). Gelungen sind auch Neufundlands „Halt dich an deiner Liebe fest“ (ja, der Song ist gleich zwei Mal vertreten, im Jahr 2016 veröffentlichte die Kölner Band diesen bereits inklusive eines Gebärdenvideos), das druckvolle „S.N.A.F.T.“ der Beatsteaks sowie Slimes ungemein energetisch hingerotzter Punk-Brocken „Ich will nicht werden“. Wenig verwunderlich auch, dass Gisbert zu Knyphausen und Band ihre Sache mit dem exklusiv aufgenommenen „Straße“ ebenfalls routiniert auf hohem Niveau erledigen. Natürlich kommt auch er, seit gefühlten Ewigkeiten selbst einer der zweifellos besten deutschen Liedermacher, mit seiner gleichsam rotzigen wie nachdenklichen Imitation keineswegs an den „großen Rio“ heran, aber auch bei ihm hört man die Lust an der Imitation. Und ganz nebenbei dürfte Lina Malys mit Akustikgitarre und Kontrabass eingespielte Darbietung von „Zauberland“ für nicht wenige der heimliche kleine Star dieser Platte sein…
Bei sage und schreibe 19 Beiträgen, die von dem titelgebenden Scherben-Original sowie einem Rio-Piano-Song eingerahmt werden, überzeugt natürlich nicht alles auf ähnlich hohem Niveau. Axel „Aki“ Bosses Version von „Warum geht es mir so dreckig?“ etwa streckt sich zwar redlich gen Rock, mag in Gänze jedoch irgendwie nicht zünden. Auch „Schritt für Schritt ins Paradies“ von Die Höchste Eisenbahn ist im neuen Indiepop-Arrangement recht geschmeidig, verfehlt aber die Absicht des Originals. Doch um Wettbewerb geht es hier ja nicht. Es geht um die Würdigung eines Helden, dessen Musik bis heute zwar etwas Revoluzzer-Patina angesetzt haben mag (kein Wunder, immerhin ist etwa der Album-Meilenstein „Keine Macht für Niemand“ bereits amtliche 48 Jahre jung!), jedoch kein bißchen gealtert ist, dessen Relevanz in Ton wie Wort eher zu- denn abnimmt. Recht passend also, Rio Reiser selbst das Tribut-Album mit einer gänsehäutenen Piano-Version von „Der Krieg“ beschließen zu lassen. Was sollte danach auch noch kommen?
Rock and Roll.