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Das Album der Woche


Eddie Vedder – Earthling (2022)

-erschienen bei Republic/Universal-

Eine besondere Qualität Eddie Vedders liegt darin, sich als einer der größten, beständigsten Rockstars seiner Generation genau diesem Label immer wieder entziehen zu können. So finden sowohl er selbst als auch seine Stammband Pearl Jam ihren festen Platz in einer Genealogie, die einen Highway von den großen Vorbildern Neil Young und Tom Petty vorbei an kleinen Clubs und Motels bis zum nächsten Stadion baut. Gewaltige Arenen füllen zu können und bei aller Kredibilität dabei dennoch nie wirklich den Anschein des Ausverkaufs zu erwecken – ein Spagat, der nicht vielen gelingt und bei Vedder vielleicht (auch) auf die jahrelange Surf-Erfahrung zurückgeht. Und auch sein unbeugsamer politischer Aktivismus scheint seit jeher eher einer unverbrüchlichen Prinzipientreue zu entstammen und wenig mit der pflichtschuldigen Scheinheiligkeit mancher Kollegen ähnlichen Kalibers zu tun zu haben. „Earthling„, sein erstes echtes Soloalbum seit zehn Jahren – den schönen Soundtrack zu „Flag Day“ von 2021 nicht mitgerechnet – trägt also in vielerlei Hinsicht einen klugen Titel für eine Songsammlung, die munter und geerdet durch die Welt hüpft, sich aber dennoch des längst erworbenen Legendenstatus‘ bewusst ist. Ein kurzer Blick auf die Kollaborateure genügt: Stevie Wonder, Elton John, Ringo Starr – Vedder scheut sich zu Recht nicht mehr, als weiser alter Mann der Popgeschichte aufzutreten.

Seine Stammband setzt auf „Earthling“ ebenfalls auf Erfahrung. Neben dem Grammy-prämierten Starproduzenten Andrew Watt (Ozzy Osbourne, Justin Bieber, Miley Cyrus), für den sich mit der Arbeit mit Vedder ein Kindheitstraum erfüllt (schließlich trennen die beiden stolze 26 Lenze Altersunterschied) und der wohl auch für das kommende Pearl Jam-Album den Platz hinter den Reglern einnehmen wird, rekrutiert Vedder mit Chad Smith und Josh Klinghoffer seine Mitstreiter aus dem Dunstkreis von Red Hot Chili Peppers: zwei der Gründe, warum „Earthling“ die Ukulele dieses Mal im Jutesack lässt und deutlich rockiger und variabler als die bisher eher zurückhaltenden, lagerfeuerromantischen Soloausflüge Vedders gerät. Aber hören wir mal, Stück für Stück, genauer hinein…

Foto: Promo / Danny Clinch

„Invincible“: „Earthling“ beginnt auf recht ungewöhnliche Weise: mit Synthesizer-Tönen, durch welche sich alsbald eine Akustische und Eddie Vedders Stimme Bahn brechen. Er verwendet hier das phonetische Alphabet – eine durchaus hintersinnige Taktik, mithilfe derer er gleich zum Anfang ein paar ausgewählte popkulturelle Wortspiele in den Song einbringt:

„Can you hear? / Are we clear? / Cleared for lift off, takeoff / For making reverberations / Are we affirmative? / No negatory / Come in, come in / Radio, what’s your story? / Are you Oscar Kilo? / Will you Wilco? / Are you ready for a bit of, a bit of echo victor?“

Die erwähnten „Wilco“ sind eine weitere Band, die das phonetische Alphabet verwendete, als sie 2001 ihr wegweisendes viertes Album „Yankee Hotel Foxtrot“ benannten. Der „Oscar Kilo“-Verweis könnte auf verschiedene Weise betrachtet werden, etwa als Anspielung auf Radioheads monumentales drittes Album „OK Computer“ – oder Vedder könnte den Hörer einfach fragen, ob es ihm gut geht, während der „Echo Victor“-Verweis einfach seine Initialen darstellt. Alles in allem eine durchaus ungewöhnliche wie unterhaltsame Art, das Album zu eröffnen, die zudem eine Lockerheit signalisiert, welche bei den meisten von Vedders Soloarbeiten bisher fehlte. Musikalisch verzichtet „Invincible“ auf Pearl Jams oft geradlinigen Rock-Ansatz zugunsten eines Sounds, der auch auf Paul Simons „Graceland“, Peter Gabriels „So“ (zwei Platten, die 1986, fünf Jahre vor dem Pearl Jam-Debüt „Ten“, erschienen) oder den Alben der späten Talking Heads-Ära nicht groß aufgefallen wäre. Die Gesangsmelodie gerät in der Strophe manchmal etwas unbeholfen, da viele Worte auf engstem Raum untergebracht sind, kommt aber im Refrain mit dem in zwei verschiedenen Oktaven gesungenen „i-i-i-i-invincible, when we love“ voll zur Geltung. Die Produktion ist vor allem von den 1980er Jahren beeinflusst, mit Gated-Reverb-Schlagzeug, hallgetränktem Gesang und Keyboards, die durchweg die Richtung vorgeben. Akustik- und E-Gitarren wechseln sich ab und sorgen für subtile Texturen, wollen dem Rest jedoch nie die Show stehlen. Bei so viel Abwechslung hätte der Mix leicht zu einem Durcheinander werden können, aber jedem Instrument und jeder Stimme wird von Produzent Andrew Watt genug Raum zum Atmen gegeben – in vielerlei Hinsicht ein erstes Ausrufezeichen.

„Power Of Right“: War die Eröffnungsnummer noch recht weit vom gewohnten Pearl Jam-Sound entfernt, so ist schon das zweite Stück mit angezogenem Tempo wieder sehr nah am musikalischen Kosmos von Vedders Stammband angesiedelt. Elemente von Andrew Watts schlankem Produktionsstil (etwa Handclaps, anhaltende Gitarrenhooks oder leichte Gesangsbearbeitung) schimmern durch die Verzerrung hindurch und erinnern einen an die (für manchen Hörer eventuell zu) gut polierten klanglichen Qualitäten des Albums. Während sich Vedders vorherige Soloalben „Into The Wild“ (2007) und „Ukulele Songs“ (2011) oftmals wie isolierte One-Man-Show-Projekte anfühlten, die sich voll und ganz auf akustische Instrumente konzentrierten, ist „Earthling“ deutlich kollaborativer, vielfältiger – und repräsentiert in dieser Hinsicht wohl eher die wahre Essenz seines Schöpfers. Musikalisch reiht sich der Song neben Pearl Jam-Stücke wie „Superblood Wolf Moon“, „Never Destination“ oder „The Fixer“ ein. Nahe der Eineinhalb-Minuten-Marke gibt es einen Breakdown, bei dem Gitarren und Keyboard in den Hintergrund treten und nur eine brummende Basslinie sowie Chad Smiths beharrlicher Beat übrig bleiben, während Vedder „Knocking, knocking the door with his centrifugal force / Couldn’t take the first step / Rocking back and forth“ singt. Für eine Band, die im Grunde ad hoc im Studio zusammengestellt wurde, ist das Niveau der zu hörenden Musikalität durchaus beeindruckend – andererseits bekommt Vedder natürlich hier Unterstützung von gut eingespielten Vollprofis. Ab der Drei-Minuten-Marke bis zum Ende des Songs lässt Josh Klinghoffer ein Gitarrensolo vom Stapel, in welches Vedder „Heed the power, equal power / Share the power, feel the power / Fight the power, be the power / Feed the power, be the power of light“ singt. Die Punk-Rock-Stimmung der Strophe bildet einen angenehmen Kontrast zum traditionelleren Pop-Rock-Refrain, und das Gitarrenriff trägt dazu bei, dass sich der Song sicherlich in mehr als nur ein paar Köpfen festsetzen wird.

„Long Way“: Die erste Singleauskopplung von „Earthling“ ist deutlich hörbar eine Hommage an einen von Vedders größten wie langjährigsten Einflüssen, den 2017 verstorbenen Tom Petty, und wird passend dazu von dem langjährigen Heartbreakers-Mitglied Benmont Tench an der Hammond-B3-Orgel sowie Vedders Tochter Harper als Backgroundsängerin begleitet. „Long Way“ besitzt dabei durchaus luftig-leichte Qualitäten, die an einige der besten Stücke von Pettys „Full Moon Fever“ oder Bruce Springsteens „Tunnel Of Love“ denken lassen. Nach etwas mehr als zwei Minuten setzt Watt zu einem inspirierten Gitarrensolo an, das sauber beginnt und sich zu einem Höhepunkt des Songs entwickelt, sobald er ein Overdrive-Pedal einsetzt. Nach selbigem Solo bietet das Stück einen feinen Breakdown mitsamt Klavier, Bass und Gesang auf, der reichlich Platz für einen dramatischen Aufbau bis zum Refrain bietet, bei etwa dreieinhalb Minuten gibt es zudem eine Bridge mit geschmackvollen Drum-Fills und einer aufsteigenden Orgellinie. Überhaupt: Tenchs Orgel und die Rhythmusgruppe um Smith am Schlagzeug sowie Watt am Bass bilden ein starkes musikalisches Fundament, auf dem Vedder den Song aufbauen kann. Dem Frontmann wird von seinen Mitmusikern viel Spielraum gelassen, und glücklicherweise wird die eingängige, durchaus radiotaugliche Melodie nicht durch das Gewicht von tausend Worten erdrückt. Stattdessen funktioniert die Formel, es einfach zu halten, hier nahezu perfekt, vor allem während des Refrains, in dem Vedder Zeilen wie „She took the long way / On the freeway…“ singt. Keep it simple – hat schon beim großen, seligen Tom Petty oftmals recht gut funktioniert.

„Brother The Cloud“: Das vierte Stück ist mit seinem emotionalen Text und dem Bass von Chris Chaney von Jane’s Addiction, der unlängst mit Vedder und dem Rest seiner neu gegründeten Begleitband auf Tour war, eines der klaren Highlights auf „Earthling“. Der Song befasst sich eingehend mit dem Thema Verlust und Trauer, etwas, das Vedder nur zu gut kennt: Pearl Jam entstanden einst aus den Ruinen von Mother Love Bone, deren Frontmann Andy Wood 1990 an einer Überdosis Heroin starb. Zudem markiert das Jahr 2000 einen der zugleich tragischsten wie wichtigsten Punkte in der Geschichte von Pearl Jam, als sich beim Roskilde-Festival ein Unglück ereignete, bei welchem neun Fans während dem Auftritt der Band auf tragische Weise ums Leben kamen. Pearl Jam widmeten ihnen und der Trauer nachhingehend den Song „Love Boat Captain„, in welchem Vedder wortgewaltig feststellte dass sie “lost nine friends we’ll never know”. Zudem mussten sich die Musikwelt als Ganzes und Eddie Vedder persönlich bereits – und in nicht wenigen Fällen zu früh – von vielen Größen innerhalb wie außerhalb der Musikszene von Seattle verabschieden. Kurt Cobain. Layne Staley. Scott Weiland. Und natürlich: Chris Cornell. Bedeutete Cobains Tod im Jahr 1994 vor allem einen der ersten Sargnägel ins Erdmöbel der Grunge-Rock-Welle, so war der Tod des ehemaligen Soundgarden- und Audioslave-Frontmanns im Jahr 2017 ein besonders schwerer Schlag für Vedder, der bei seiner Ankunft in Seattle in den frühen Neunzigern von Cornell höchstselbst unterstützt und in die hiesige Musikszene eingeführt wurde und mit ihm ein Duett auf beim Temple Of The Dog-Evergreen „Hunger Strike“ singen durfte – ein Song, ohne den es Pearl Jam wohl nie gegeben hätte. Wie viele andere Songschreiber auch überlässt Vedder seine Texte oft der Interpretation des Hörers, dennoch ist es nur schwerlich vorstellbar, dass er Cornell nicht im Kopf hatte, als er Zeilen wie diese schrieb:

„There’s no previous reference / For this level of pain / I can’t feign indifference / Can’t look away / The years, they go by / The hurt, I still hide / If I look okay, it’s just the outside / There’s no previous reference/ For this level of pain / Oh, I can hear him sing…“

Zudem verlor Vedder auch seinen Halbbruder Chris vor einigen Jahren bei einem Kletterunfall. Wie so oft bei Songs aus der Feder von Vedder (sic!), welche Musik gewordene Nachrufe darstellen (und davon gibt es mittlerweile nicht eben wenige), kann man auch hier die recht unmittelbare emotionale Bandbreite aus Liebe, Schmerz und Wut in seiner Stimme hören. Musikalisch beginnt „Brother The Cloud“ mit einem sauberen Gitarrenriff und einer ruhigen Strophe, welche in einen großen Refrain ausbricht, der The Whos Pete Townshend stolz machen würde. Die Bridge führt eine kraftvolle Stakkato-Gitarrenlinie ins Feld, während der Bass die Gesangslinie nachahmt, was den Wechsel vom folgenden Instrumentallauf durch das Riff der Strophe und dann zurück in den Refrain noch intensiver macht. Während des Outros bleibt die Band auf dem Gaspedal. Chaney und Smith gehen voran, während Watt und Klinghoffer ihre Riffs über den knurrenden Bässen austauschen. Im besten Sinne Pearl Jam’eske Gänsehaut.

„Fallout Today“: Bei „Fallout Today“ übernimmt zunächst eine Akustikgitarre das Kommando des Mid-Tempo-Songs, was das Getöse des Vorgängers etwas reduziert und Vedders Gesang ’n‘ Text hervorhebt, ohne jedoch das Bandgefühl oder den mitgenommenen Schwung zu opfern. Kenner des musikalischen Schaffens des 57-jährigen wissen ja ohnehin längst: Leicht balladeskes Pathos liegt Vedder, schließlich ist auch der Pearl Jam’sche Katalog voll von Songs wie „Daughter“, „Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town“, „Around The Bend“, Low Light“ oder „Just Breathe“ (um nur mal ein paar zu nennen), und seine Fähigkeit, seine Emotionen durch Text und Melodie effektiv zu kommunizieren, wird typischerweise erhöht, wenn die Lautstärke der Band hinter ihm um ein paar Dezibel sinkt. Zudem weist „Fallout Today“ noch eine weitere Ähnlichkeit mit „Daughter“ und „Elderly Woman…“ auf, denn wie die beiden Pearl Jam’schen Live-und-Fan-Favoriten auch handelt dieser Song von einer weiblichen Figur, wie etwa jene Zeilen der ersten Strophe beweisen: „Oh, multiplied the questions in her mind / Oh, trying to subtract the great divide / Feeling drowned in her perceptions / Reaching out in all directions / No escape“. Musikalisch wird die Akustische alsbald von Klavier, Orgel, Bass und Schlagzeug sowie einem lebhaften E-Gitarren-Solo flankiert. Watt und Klinghoffer unterstützen den Gesang in den entscheidenden Momenten, einschließlich des Refrains, in dem ihre höheren Lagen und Harmonien die perfekte Ergänzung zu Vedders Bariton darstellen.

„For the fallout today was just a test of strength / Oh, don’t leave it alone, dare carry it on your own / Don’t make light of the weight, you’ll fortify thе chains / And don’t beg for forgiveness / Wе all need to share and shake the pain…“

„The Dark“: Klar, bislang wurden Beschreibungen wie „fröhlich“ oder „überschwänglich“ recht selten mit den Songs von Pearl Jam (oder eben Vedders Solowerk) in Verbindung gebracht, aber zu schreiben, dass „The Dark“ etwas anderes wäre als knapp vier Minuten unverfälschte musikalische Glückseligkeit, wäre tatsächlich eine glatte Lüge. May we call it Altersmilde. Der Song ist zu gleichen Teilen New Wave, Power Pop, Synth Pop und Classic Rock und zeigt Vedder in seiner melodischsten Form, feine Hooklines inklusive. Mag das Stück auch noch so ungewohnt tönen, so stellt es gerade bei einem Typen wie Eddie Vedder, dessen bisheriges musikalisches Oeuvre normalerweise eher ein Plus an heiligem Ernst aufweist, eine willkommene Abwechslung dar, wenn einer wie er einen Abstecher nach Fun Town unternimmt. So beginnt der Song mit einem tanzbaren Schlagzeugbeat von Smith, dem Watts Bass kurz darauf folgt, während Klinghoffers ansteckende Synthie-Linie und die Gitarren nur ein paar Sekunden später in den Mix einsteigen. Und auch der Text des Songs passt mit Zeilen wie „Let me lift you out of the dark“ zur aufmunternden Stimmung der Musik. Neuerungen hin oder her – auch hier setzt sich eine andere Tradition fort, schließlich bewiesen viele der besten Songs von Pearl Jam (man denke etwa an „Release“) und Vedder (zum Beispiel „Rise“) eine aufbauende, geradezu heilende Qualität.

„The Haves“: Die zweite nahezu waschechte Ballade von „Earthing“ kommt mitsamt einer Melodie daher, die seltsamerweise – zumindest im ersten Moment – wie eine verlangsamte Version des 1993er Crash Test Dummies-Hits „Mmm Mmm Mmm Mmm“ klingt. Glücklicherweise setzt kurz nach dem Intro Vedders Stimme ein, um weitere Ähnlichkeiten zwischen den beiden Songs schnell, schnell zu zerstreuen. „When you wake up / It might just be / The first of many blows that you’ll receive…“ – in „The Haves“ veranschaulicht Vedder, dass bedingungslose Liebe für andere und emotionale Werte wichtiger sind als aller materieller Reichtum. Er konzentriert sich darauf, dass diejenigen, die viel haben, oft dazu neigen, nur noch mehr zu wollen und nie wirklich zufrieden mit dem Staus Quo sind, während diejenigen, die zwar nur wenig besitzen, dafür jedoch Liebe im Herzen tragen und ihr Glück eher im immateriellen Miteinander finden, während jene Liebe sie selbst scheinbar unüberwindbare Hindernisse überwinden lässt. Mag sich hippie’esk lesen, aber auch ein anderer Großer sang schließlich einst: „You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one“. Die Instrumentierung zu diesem Musik gewordenen Marie Kondō-Vortrag beginnt – einfach genug – mit Akustikgitarre und Klavier, im Laufe des Songs füllen Bass, Schlagzeug, Cello und Geige das musikalische Kontor auf und lassen ein ums andere Mal an Beatle’eskes denken. Zudem erinnert auch die Akkordfolge in der Strophe an jene Beatles, sodass man beinahe meinen könnte, dass „The Haves“ nur drei Türen neben dem McCartney-Klassiker „Here, There, And Everywhere“ (von „Revolver“) residiert.

„Good And Evil“: Danach ist’s erst einmal genug mit der Heimeligkeit, das Tempo nimmt mit „Good And Evil“ dankenswerterweise wieder zu. Ein fast fernöstlich tönendes Intro führt kurz auf die falsche Fährte, muss jedoch schnell einem Punk-Rock-Angriff mit verzerrten Gitarren und düsterem Text weichen:

„Oh, when you look in the mirror / Oh, tell me, what do you see? / An older woman showering in victims‘ blood? Or have yourself you deceived? / Do your rich accommodations / Numb you to what you believe Oh, for the love of a gun / You’re like a bullet aimed to deceive…“

Der härtere Vibe von „Good And Evil“ fällt in die Kategorie derjenigen Songs, die all jene ansprechen dürften, die eine Verbindung zwischen „Earthling“ und Pearl Jams aggressiverem, härterem Material suchen – etwas, das Vedders bisherigem Solomaterial bisher merklich abging. Der Text erzählt die Geschichte einer reichen Frau, die Waffen liebt und auf einer Safari mit ihrer „armseligen Entschuldigung von einem Mann“ einen Elefanten erschießt – kaum verwunderlich, dass Vedder den beiden „Tod“ und „Hölle“ auf den Leib wünscht…

„Rose Of Jericho“: „Rose Of Jericho“ ist ein weiterer Punk-Rock-Kracher, der damit beginnt, dass Chad Smith „one, two!“ einzählend samt Schlagwerk los stampft, bevor sich ihm der Rest der Band anschließt. Die Gitarren schmettern in der Strophe ein selig-kantiges Powerchord-Riff, während zwischen den ersten beiden Strophen eine kurze, aber wirkungsvolle Leadlinie auftaucht. Klinghoffer fügt ein paar geschmackvolle Keyboard-Töne hinzu, um den Sound des Refrains aufzupeppen, in welchem Vedder singt:

„The winds, they blow / Spread the seeds, the rose of Jericho / Forests fall / By hands of man like dominoes / Touch and go / Two outta three, Rochambeau / The rock you throw / Can’t beat the rose of Jericho / Can’t beat the rose of Jericho / Can’t drown the rose of Jericho / Can’t beat the rose of Jericho / Can’t kill the rose of Jericho / The lesson here is Econo, yeah…“

Kurz vor der Zwei-Minuten-Marke gibt es einen Breakdown, bei dem nur das Schlagzeug und Vedders Gesang übrig bleiben, bevor Watt und Klinghoffer für den Outro-Jam wieder einsteigen. „Rose Of Jericho“ gießt etwas mehr Öl in das Feuer, das „Good And Evil“ entfacht hat – wäre das hier nicht Vedders neustes Soloalbum, sondern die aktuelle Pearl Jam-Platte, der Song wäre ein formidabler Opener gewesen. So findet er eben auf Platz neun von „Earthling“ seinen Platz – auch gut.

„Try“: Apropos Live-im-Studio-Take-Einzähler – „Try“ verbindet ein Riff im Stile von Social Distortion und ein euphorisches „one, two, three, four!”  mit dem bemerkenswerten Mundharmonika-Spiel des einzigartig-großen Stevie Wonder. Vedder nutzt das Stück als Gelegenheit, um erneut seine verspielte, unbeschwerte Seite zu zeigen. Als langjähriger Motown-Fan, der oft Bands wie die Jackson 5 als frühen Einfluss anführt (etwas, was man bislang eher selten heraushörte), lässt sich Vedder diese seltene Gelegenheit nicht entgehen, sowohl zu schunkeln als auch zu rocken. Der vielleicht verblüffendste Aspekt von „Try“ ist, dass selbst viele Hörer*innen feststellen werden, dass tatsächlich kaum jemand sonst die Mundharmonika so spielt (oder jemals gespielt hat) wie Stevie Wonder. Sein tonaler Anschlag ist sofort erkennbar und die Freude, die aus dem Instrument strömt, ist ebenso unbestreitbar wie unaufhaltsam. Sein Mundharmonikaspiel verleiht dem Song definitiv eine ganz neue Dimension und bringt ihn an Orte, an die er ohne seine Anwesenheit wohl kaum gelangt wäre. Eine kurze, luftige Nummer, die aber dennoch ausreichend Raum für ein Solo von Wonder und Smiths frenetisches Schlagzeugspiel bietet (zudem ist Vedders andere Tochter Olivia hier im Backgroundgesang zu hören).

„Picture“: Nach dem Dreifach-Punk-Rock-Hoch aus „Good And Evil“, „Rose Of Jericho“ und „Try“ holt sich „Earthling“ mit Elton John einen weiteren prominenten Gast ins Studio. Im Gegensatz zu den drei vorangegangenen Songs lässt „Picture“ jedoch eher an Johns recht unverkennbaren Pop-Rock-Stil denken als an den markdurchdringenden Haudrauf-Sound von Kapellen wie The Clash. Seltsamerweise passt das Duett zwischen Vedder und John jedoch dennoch in den größeren Kontext von „Earthling“ und seinen mal mehr, mal weniger einfühlsamen, wohlmöglich Pandemie-bedingten „Wir stecken da gemeinsam drin“-Lektionen. Einige altgediente Pearl Jam-Fans, die noch immer verzweifelt auf der Suche nach dem juvenilen, all pissed, all angered Eddie (etwa anno 1993) sein sollten, werden bei diesem Song (vermutlich bei einigen anderen dieses Albums ebenso) mehr als eine Augenbraue hochziehen. Dann jedoch haben sie vergessen, dass sowohl Pearl Jam als auch Vedder ihre Karrieren aufrechterhalten und am Leben erhalten haben, indem sie die Dinge auf ihre eigene Art und Weise gemacht haben – einschließlich der Tatsache, dass sie sich weder vom derzeitig vorherrschenden Massengeschmack noch von Trends oder Fans die Richtung ihrer Musik diktieren ließen und nie dem hinterherliefen, was eben trendy ist, um mehr Alben zu verkaufen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf erscheint es beinahe egal, ob „Picture“ ins eigene Gusto passt oder nicht, denn es lässt sich nicht leugnen, dass alle, die an der Entstehung des Songs beteiligt waren, eine Menge Spaß dabei hatten. Ein recht typisch in Elton Johns Honky-Tonk-Stil musizierendes Saloon-Klavier, eine Orgel, akustische Gitarren und die Rhythmusgruppe füllen den größten Teil des instrumentalen Raums (der auch Platz famos-ekstatisches Pianosolo lässt), während elektrische Gitarren an bestimmten Stellen kommen und gehen. Im Refrain singen John und Vedder universale Banalitäten wie „Picture of love, we were a picture of love / The measure of our years so deep and wide / Picture of hope, we were a picture of hope / Standing close together side-by-side, yeah“ (wohlmöglich war also Johns Textlieferant Bernie Taupin gerade im Urlaub), während die Band hilft, jenes Bild von Liebe und Hoffnung in Echtzeit zu malen. Alles in allem kein Meilenstein, macht hört jedoch den Spaß, den alle bei der Nummer hatten, deutlich heraus.

„Mrs. Mills“: Das vorletzte Stück von „Earthling“, „Mrs. Mills“, ist dem Klavier im Keller der altehrwürdigen Abbey Road Studios gewidmet, das nicht nur von Paul McCartney für den Beatles-Hit „Lady Madonna“, sondern auch danach, im Laufe der Jahre, von zahllosen anderen namhaften Musikern benutzt wurde (darunter übrigens von den beiden vorherigen Album-Gästen Elton John und Stevie Wonder). Überhaupt wird Eddie Vedder den von ihm verehrten Beatles wohl selten näher kommen als hier, besitzt der Song doch tatsächlich die Qualität der „Sgt. Pepper’s“-Ära. Das mag nicht nur an der Melodie liegen, sondern auch am Orchester, das Vedder und seine Bandkollegen begleitet – und am Schlagzeugspiel eines gewissen Ringo Starr, der schließlich bestens wissen sollte, wie man „wie die Beatles klingt“. Abgesehen von der Geschichte eines berühmten Abbey Road-Klaviers erzählt der Text auch die Geschichte von einer scheinbar fiktiven, recht promiskuitiven weiblichen Figur:

„Mrs. Mills waits in the dark for the red light to go on / And the curtains will be drawn so none could see / All the townsfolk, they don’t know what the men do down below / In the shadows of a disco neon glow…“

Die Orchestrierung und Ringos Schlagzeugspiel auf „Mrs. Mills“ fügen der ohnehin bereits durchaus vielseitigen, beeindruckenden Klanglandschaft von „Earthling“ ein weiteres einzigartiges musikalisches Element hinzu, während Vedder sein gesangliches und lyrisches Können zur Schau stellen darf. Ein ungewöhnlicher Song – und gerade deshalb ein umso erfreulicheres Highlight.

„On My Way“: Der Abschluss von „Earthling“ ist eine faszinierende Klangcollage, bei der sich auch für Eddie Vedder persönlich ein Kreis schleißt, schließlich stammt die aufgenommene Stimme, die da den Satz „I’ll be on my way…“ in einem Sinatra-ähnlichen Stil singt, von Vedders verstorbenem leiblichen Vater Edward Louis Serverson Jr. (richtig, der „real daddy“ aus „Alive„), während alsbald die Stimme des Sohns mit Fetzen aus den Refrains von „Long Way“, „The Haves“ und „Invincible“ einsetzt. Die Musik des Stücks ist eindringlich und etwas experimentell, stört aber nie das außergewöhnliche, halb dies-, halb jenseitige Familienduett. Und auch ein weiterer Kreis schließt sich mit diesem letzten Song, den Vedder als kurze Hommage an seinen Vater, den er zeitlebens stets als entfremdet wahrnahm, anlegt, nun, schließlich diente das angespannte, quasi nie wirklich vorhandene Verhältnis der beiden, damals, vor gut drei Jahrzehnten, auch als Inspiration für „Release“, das seinerzeit auch Pearl Jams wegweisendes Debütalbum „Ten“ beendete.

Eddie Vedders drittes Soloalbum ist eine Chronik der menschlichen Erfahrung und versucht, die Kluft der Unterschiede zu überbrücken, welche viele Menschen zwischen sich und anderen wahrnehmen. Keineswegs verwunderlich, schließlich wurden die Songs während der Corona-Pandemie und der großen sozialen und politischen Umwälzungen der letzten Jahre geschrieben und aufgenommen und sind in ihren besten Momenten eine aufrüttelnde Erfahrung, die genau zur richtigen Zeit kommt.

Ebenso erfreulich ist, dass Produzent Andrew Watt, über dessen Produktionsstil sich – so viel Ehrlichkeit sei erlaubt – sicherlich streiten lässt, hörbar neuen Enthusiasmus in Vedder geweckt. „Earthling“ ist auf lange Strecken kompromisslos, laut und optimistisch. Trotz des ein oder anderen kleineren Fehlgriffs stecken die Dynamik und Spielfreude von Edward Louis Severson III und seinen diversen All-Stars letztlich immer wieder an. Mit seiner astreinen Begleitband im Rücken hämmert Vedder uns allen noch mal in die Köpfe, was wir immer schon wissen sollten: Der Last Man Standing der alten Garde des Grunge-meets-Alternative-Rocks zeigt der nahenden 60 zum Trotz herzlich wenig Altersschwäche. Eine Statue muss man dieser lebenden Legende hingegen noch nicht bauen – sie würde wohl ohnehin davonlaufen.

Wer mehr über die Hintergründe zu „Earthling“ erfahren mag, dem sei das gut halbstündige Interview empfohlen, zu dem Eddie Vedder kürzlich von einer anderen lebenden Legende eingeladen wurde: Bruce Springsteen.

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Das Album der Woche


Tristan Brusch – Am Rest (2021)

-erschienen bei BDKA/Kontor-

Dass ich im Fall von Tristan Brusch etwas spät zur Jubelarienfeier stoße, hat sicherlich ein, zwei schnöde Gründe: Auch mein Tag hat nur 24 Stunden (von denen knapp zwei Drittel schonmal für den vermaledeiten Broterwerb und ein paar Stündchen Nachtschlaf draufgehen), von daher – ich geb’s offen zu, ist ja nunmal so – widme ich nicht jeder neuen kunstschaffenden Seele im ersten Moment die Zeit, die sie vielleicht verdient hätte. Oft reichen zwei Blicke auf Pressefotos und ins neuste Musikvideo, um eine erste Entscheidung hinsichtlich der Frage treffen zu können: „Isses was für den ANEWFRIEND oder eben nicht?“. Bei ebenjenem Tristan Brusch fällte ich das (vor)schnelle Urteil, dass es sich bei jenem – freilich im urbanen Berlin beheimateten – Künstler, der vor allem im vergangenen Jahr vom bundesdeutschen Feuilleton hochgejubelt wurde, um einen jener Gattung handelt, die vor nicht allzu langer Zeit von der von mir mit Inbrunst verhassten SPEX gefeiert und mit neongrellem Konfetti beworfen worden wären. Optisch eine Mischung aus Klaus Kinski und Lars Rudolph, tritt der 34-jährige Musiker in seinen aktuellen Musikvideos im weiß-gilbigen Wallekleid auf, haut sich mal eine Maskerade ins Antlitz, welche selbst den Einstürzenden Neubauten das Fürchten gelehrt hätte, trällert seine mit derbem Wortgut gespickten Liedchen auf einer Leiter in der Landschaft oder lässt sich in voller Kleidermontur im See treiben. L’art pour l’art. Kunstscheiße. In jedem Fall: nicht mein Fall. Ganz ähnlich wie Tocotronic: mag anderen die Freudentränen ins strahlende Gesicht treiben, während ich’s nicht kapiere. Nun jedoch habe ich dem Mann, der 1988 in Gelsenkirchen zur Welt kam und dem die Musikalität quasi in die Wiege gelegt wurde (der Vater ist berufsmäßiger klassischer Violinist, die Mutter nicht-professionelle Pianistin), noch einmal eine faire Chance gegeben: Und siehe da: Mea culpa und Asche auf mein Haupt – es hat sich gelohnt, denn vor allem sein neustes Album „Am Rest“ ist ein ebenso intensiver Seelenwärmer wie verdammt großartig.

Ein anderer erster Eindruck bestätigt sich jedoch auch bei genauerem Hinhören und -sehen: Tristan Brusch ist der Inbegriff des komischen Kauzes. Ein Sonderling, ein merkwürdiger Zeitgenosse, der mit seinen teils skurrilen Beobachtungen wahlweise Kopfschütteln oder amüsierte Bewunderung hervorruft. Auf seinen Alben beschäftigt er sich intensiv mit der Lächerlichkeit des Seins, seines eigenen und das seiner gehassliebten Mitmenschen, inklusive erkrankter Lebens- und Liebesbeziehungen. Doch wo der 2018 erschienene Vorgänger „Das Paradies“ (bei welchem man sich keineswegs vor dezent schlager’esken Coverartwork abschrecken lassen sollte) noch recht bunt, von Instrumentarium und Synthies vollgestopft und insgesamt irgendwo zwischen Kirmespop und Kleinkunst geriet, tönen die neuen Stücke verdammt „monochrom“. Dies mag einerseits an der nicht eben quietschvergnügten Thematik der Stücke liegen, andererseits an dem simplen Fakt, dass Brusch die Gunst der Corona-Pandemie nutzte, und alle Songs gemeinsam mit Produzent Tim Tautorat (AnnenMayKantereit, Turbostaat, Tocotronic, Faber) und Band live in den altehrwürdigen Berliner Hansa-Studios aufnahm, nachdem „eine sehr berühmte deutsche Band Corona-bedingt abgesprungen war“. Für den Sound dieses Albums gab es daher kein Nachbessern, keinen Wunsch nach Perfektion. Stattdessen bieten die Songs unverfälschte Momentaufnahmen, im Text ebenso wie im Ton.

„Zwei Wunder am Tag“ heißt der Einsteiger der Platte, der mit einer einsamen Gitarre beginnt und zunächst superduper entspannt wirkt – darauf ’nen Mate-Tee? Nee, besser nicht. Brusch besingt das Leben und die Tristesse des grauen Alltags, welche wiederum dazu führt, dass wir alle uns tagein, tagaus nach ein wenig mehr sehnen. Und kaum hat man sich so richtig an die heimelige Singer/Songwriter-Atmosphäre gewöhnt, bricht der Refrain herein: Schreiend, laut, wütend, verzerrt und vulgär – und dann eben noch mit den drastisch gewählten Worten „Herein, herein, herein, immer alles in die Fressfotze rein!“. Ein auf Konsumkritik getrimmter Ausbruch und so ziemlich all das, was man gerade nicht erwartet hat. Eine Minute und 52 Sekunden dauert es, bis Tristan Brusch zum ersten Mal beweist: Ihr habt keine Ahnung, was hier noch auf euch zukommt… Er wird recht behalten.

Fotos: Promo / Steffi Rettinger

Zwar nicht ganz so wechselhaft, jedoch ähnlich gut gerät auch das leicht verträumte „Der Abschaum“, welches das Außenseiterdasein behandelt und musikalisch an Marlene Dietrich, meinetwegen auch an Jaques Brel oder an eine Art deutschen Scott Walker erinnert. Isses noch Chanson? In jedem Fall piefiger kein deutscher Rock! Tatsächlich sieht sich der Wahl-Berliner als die männliche Version von Ikone Dietrich, wie man in seiner Insta-Bio nachlesen konnte. Und das Lied selbst könnte man im Kosmos des Albums fast als „leichtfüßig“ bezeichnen, folgen um es herum doch ziemlich schwere Brocken. Das bittersüße Titelstück „Am Rest“ etwa. Selbiges beschreibt anhand todtrauriger Bilder den Zerfall einer Beziehung, bei der sich die Gemeinsamkeit nur noch durch die vermeintlich glückliche Vergangenheit ausdrückt und darin, dass man weiß, wie der oder die andere seinen – oder eben ihren – Chai trinkt (zwei Zucker). Auch „Ein Wort“ behandelt die Sprachlosigkeit und Enttäuschung, wenn alles gesagt scheint, „So weit weg“ unser aller zwanghafte Suche nach dem Glück und das Scheitern dabei. In „Schönleinstraße“ – laut Aussage das einzige nicht autobiografische Stück der Platte – wählt Brusch einen Obdachlosen als Erzähler, heimlich verliebt in die morgendliche Pendlerin und verzweifelt auf der Suche nach dieser einen letzten Chance, denn: „Mit mir ist doch nichts falsch, was bisschen Geld nicht richten kann“. In „Krone der Schöpfung“ packt der Sänger seine ganze Abscheu gegen unsere Spezies in die Zeilen, die plötzlich aufflammende Wut und der an „Lost Highway“ erinnernde Free Jazz wirken in solch einem manischen Rollenspiel durchaus beängstigend. Überhaupt muss man bei Brusch manches Mal an den Rattenfänger von Hameln denken: Man weiß, dass es nicht gut ausgehen wird, aber man kann sich seinem Bann partout nicht entziehen und tappt nahezu blind ins Verderben. Er wählt für Gefühle die passenden Worte und wird dabei drastisch und ungemütlich, etwa wenn er in „SM Jugend“ eine kranke Teenager-Liebesbeziehung beschreibt: „Deine Haut konnt‘ manchmal jucken / Du hast gesagt, jetzt helfen deine Klingen / Und ich wollte ficken / Süße Energie“. Das Lied bildet den Auftakt einer schicksalhaften Begegnung. In „Einer liebt immer mehr“ geht es um den aufziehenden Kontrollverlust, und das ganze Unglück kumuliert in „2006“, der fast logischen Konsequenz einer selbstzerstörerischen Existenz. Am Ende geschieht nämlich recht selten ein Wunder: „2006 haben wir uns geküsst / Haben wir noch lange nicht gewusst, was wirklich wichtig ist / Und Du warst noch lange, lange, lange, lang nicht tot…“ Zwar melancholisch, aber dennoch entschlossen erzählt Brusch hier von einer Person, die er liebte und die ihn liebte – bis zu dem Tag, an dem sie sich das Leben nahm. Ein herzzerreißendes Lebewohl, ein dicker, Song gewordener Kloß im Hals, welcher glücklicherweise vom abschließenden „Das Leben ist so schön“ noch ein wenig gen Versöhnlichkeit aufgelockert wird. Mit Jahreszahlen versehen erzählt er im Abriss aus seinen ersten 13 Lebensjahren: 1988 in Gelsenkirchen via Kaiserschnitt geboren. 1991 in Dänemark im Wohnwagen gelebt, während die Eltern dort Konzerte spielten. 1995 zurück in Tübingen, wo man als Kind mal eine tote Ratte vergraben oder die Hausaufgaben nicht gemacht hat. 2001 wird dann die erste Zigarette geraucht. In seiner Einfachheit, mit dieser Breite an Identifikationsfläche (allem Persönlichen zum Trotz), mit dieser Nähe am Leben und Alltag erinnert Brusch da nicht zum ersten Mal an große deutsche Liedermacher-Namen wie Reinhard Mey, Sven Regener oder Rio Reiser – nur eben eher mit etwas Klarem, Hochprozentigem in der Tasse anstatt des Kaffees oder grünen Tees…

Am Rest“ ist eine Ode an die Vergänglichkeit der Dinge und die Akzeptanz des Verlusts. „Am Rest“ ist aber auch die Einsicht, dass all der Zerfall und die Probleme um uns herum zwar ernst sind, trotzdem aber nichts daran ändern, dass selbst aus Schlechtem und Monochrom-grauem Freude und Glück entstehen können. Ohne das Hässliche kann das Schöne kaum existieren – was nach banalem Kalenderspruch müffeln mag, wird hier mit neuer Bedeutung gefüttert. Es ist zum Heullachen. Wer also mag, darf Tristan Brusch ebenso als Bruder im Geiste eines Gisbert zu Knyphausen („Die Welt ist grässlich und wunderschön.“) sehen wie eines Faber, denn wer die beiden fulminanten Alben des Schweizer Musikers gehört hat und hier keine textlichen wie musikalischen Parallelen feststellen kann, der sollte bei beiden noch einmal genauer hinhören. Und ganz ähnlich wie jener Julian „Faber“ Pollina braucht auch Tristan Brusch weder starre Genre-Schubladen noch massentaugliche Texte, um vor allem mit diesem Album zu beweisen, dass er längst verstanden hat, wie man ein Publikum in seinen Bann zieht. Zugegeben, für so ein herbstliches, wohlmöglich sogar tiefwinterlich gefärbtes Album muss man offen und bereit sein, und wer auf pathetischen Weltschmerz per se keinen Bock hat, wird vermutlich auch höchstens mit einem Bruchteil der Songs glücklich. Wer sich hingegen auf ebendiese Welt einlässt, hat die Chance, mit „Am Rest“ eines der beeindruckendsten, ganz und gar nicht oberflächlichen Alben des Jahres des vergangenen Musikjahres zu entdecken. Und, wie bei mir: lieber etwas spät als nie.

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Shitney Beers – Welcome To Miami (2021)

-erschienen bei Zeitstrafe/Indigo-

Manchmal sollte man sich nicht zu sehr von einem Albumtitel täuschen lassen… Schaut man sich die Promotion-Fotos zu Welcome To Miami“ an, so sieht nicht nur die Künstlerin selbst, sondern auch die Umgebung keineswegs nach dem „Sunshine State“ im Südosten der US of A aus. Wer mit Adleraugen hinschaut, der wird zudem bemerken, dass die Autos, die links und rechts straßenseits stehen, Mannheimer Kennzeichen besitzen. Und in der Kurpfalz ist Maxi Haug, die als Shitney Beers seit 2018 ihre Songs veröffentlicht, tatsächlich zu Hause. Dort hat die Halbkanadierin – wie so einige vor ihr – ein Studium an der Popakademie geschmissen und lieber in Eigenregie vier EPs veröffentlicht – frei nach dem Motto: Fuck off Pop Bizz, let’s go indie! Die daraus bekannten Songs gaben einen ersten Vorgeschmack auf das Talent des Twentysomethings, sind nun jedoch nur zum Teil auf ihrem unlängst erschienenem Debütalbum enthalten, was vor allem im Falle des feinen „I Don’t Like Horses“ durchaus schade ist. Dennoch werden alle Freunde der EPs sofort „ihren“ Sound wiedererkennen, der meist nur aus Gitarre, Gesang und winzigen Klangtupfern weiterer Instrumente besteht. Und wem Shitney Beers bisher noch nicht über dem musikalischen Weg gelaufen ist, darf nun eine Künstlerin für sich entdecken, die auf sehr intelligente Weise mit dem Erwachsenwerden als Frau im 21. Jahrhundert kämpft.

Fotos: Promo / Sebastian Igel

Insofern ist „Welcome To Miami“ doch ein recht passender Titel für diese Platte. Er gemahnt an das schnöd-schöne Versprechen von Glamour, Sorglosigkeit, Gesundheit und Wohlstand, das uns allenthalben vorgegaukelt wird, schlussendlich jedoch für fast niemanden Realität wird – und wegen des damit verbundenen Schönheitsideals für Frauen noch ein gutes Stück schwerer zu erreichen ist. Der Kontrast zu Mannheim, er könnte größer kaum sein. So besingt Shitney Beers etwa in „Lucky“ ein Pärchen als die einzigen beiden glücklichen Personen in einer „dog-shit city“, eine Slide-Gitarre und eine zweite Stimme verstärken das Gefühl vom Schweben und der Gewissheit, sich fallen lassen zu können. Es bleibt unklar, welche Stadt gemeint sein mag, und doch ist offenkundig: Die Diskrepanz zwischen Schein und Sein ist riesig, und den Schlüssel zum Glück inmitten einer kaputten oder feindlichen Welt kann man am Ende einzig in sich selbst entdecken. (Da fragt man sich übrigens auch, ob der Gedankensprung zum gleichnamigen Song einer Britney Spears – sic!- hier in rein zufälliger ist…)

Auch ein weiteres Prinzip lässt sich auf „Welcome To Miami“ schnell erkennen: Der Herausforderung, eine Identität zu entwickeln, wird hier ebenso sehr über Abgrenzung begegnet wie über Zugehörigkeit. Zuerst erkennt man, was man hasst, vermeiden möchte oder beunruhigend findet. Das ist dann schon einmal eine gute Voraussetzung, um im nächsten Schritt vielleicht herauszufinden, was man gerne möchte, wo man hin will und wer auf dem Weg dorthin mitkommen sollte. Man höre etwa das heimliche Platten-Herzstück „Keys“, das von der weiblichen Angst vor nächtlichen Übergriffen erzählt („You rarely see us walking at night / Without our keys held tight“), was mit einer schockierend spürbaren Angespanntheit umgesetzt wird. Oder „Lourdes“, ein Bericht über eine stürmische Affäre, die mit Stalking und der Falle von „I’m even afraid to leave my house“ endet, wobei die augenscheinlich fragile, folkige Komposition diesen beklemmenden Stimmungsumschwung sehr gekonnt spiegelt. „Next time I’ll make it right“, heißt die erste Zeile im Opener „Time“, der von einer Beziehung erzählt, für die vielleicht einfach nicht der richtige Zeitpunkt erreicht war. „Inevitable“ stellt die Frage, ob da jemand nur guter Freund oder mehr ist. Klar, die Musikerin kennt – der Songtitel deutet es galant an – die Antwort längst selbst, will sie sich aber noch nicht eingestehen und lässt Instrumente und Takt zwischendurch kurz dahinzuschmelzen.

SoKo, Chan „Cat Power“ Marshall, Marika Hackman oder Suzanne Vega darf man gern als passende Bezugspunkte ins Vergleichsfeld führen, noch lieber gar die drei in den Mainstream aufstrebenden boygenius-Damen Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Darcus, mit ihren oft leise tretenden und dennoch kraftvoll am Herzzipfel zupackenden Songs. Im wunderbar reduzierten „Modern Love“ (mit den tollen Leben-trifft-Popkultur-Zeilen „Your life is not a movie / And it’s not a Bloc Party song“ ) mag man auch an Stella Donnelly denken. Der Song zeigt zudem, wie Shitney Beers es mit Talent und Geschick hinbekommt, in diese zehn meist sehr reduzierten Stücke die nötige Spannung und Abwechslung hinein zu werkeln. Hektisches Picking sorgt hier für ein gerüttelt Maß an Unruhe, am Ende tönt gar ein Mini-Chor. „La Mort Hereuse“, benannt nach dem Debütroman von Albert Camus, bleibt eher abstrakt und schwer zu fassen, „Nourie Hadig“, wiederum tituliert nach einen Märchen aus Armenien, das einige vage Ähnlichkeiten mit dem Plot von Schneewittchen aufweist, gerät hingegen heiter und dezent verspielt. „Parents“ erzählt zu Ukulelenbegleitung von dem nervenaufreibenden Moment, wenn man zum ersten Mal die Eltern des Partners treffen soll. Dabei klingt das Stück so lo-fi und verschüchtert, als würde die Künstlerin direkt aus dem Kleiderschrank spielen, in dem sie nach dem passenden Outfit für diesen Anlass sucht. Zudem nimmt der Song mit seiner Prise Selbstironie vielen der Themen, die während der knappen halben Stunde angeschnitten werden, ein wenig von jener bleiernen Schwere, die ohne die so erschaffene Distanz wohl einzig zurück bliebe. „Marcel“ schließt den Beers’schen Erstling zwar ab, ist dabei jedoch meilenweit von einem versöhnlichen Schlussstrich entfernt.

Auch wenn der Platte am Ende vielleicht ein Song fehlen mag, der aus dieser sehr charakteristischen Ästhetik noch ein wenig herausragt (aka. der offensichtliche Indie-Hit), liefert Maxi „Shitney Beers“ Haug mit „Welcome To Miami“ ein durchaus starkes, beachtenswertes Debütalbum ab, das von (s)einer einnehmenden Stimme, schönen Melodien, ausreichend Riot Grrrl’scher Punk-Kredibilität und schlauen Arrangements lebt. Keine auf Hochglanz geschliffene Platte, sondern eine herrliche Zusammenstellung absichtlich roh gehaltener Perlen. Vor allem aber hat Shitney Beers wirklich etwas zu erzählen – da können selbst der klamaukige Bühnenname und das bunte Cover nicht drüber hinweg täuschen. Miami ist eben auch nicht mehr das, was es mal war…

Rock and Roll.

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Auf dem Radar: Silent Attic


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Fotos: Promo / Reinhold Hansen

Schon von Silent Attic gehört? Nope? Dann solltet ihr diese Lücke schleunigst schließen! Mit ihren einprägsamen Melodien und dynamischen Songs gelingt es der seit 2018 bestehenden vierköpfigen Newcomer-Band aus dem norddeutschen Flensburg einen atmosphärischen Indie-Rock-Sound zu kreieren, der mit seinen fast schon klassischen Retro-Rock-Elementen und dem ein oder anderen Einfluss aus dem Post-Punk-Umfeld durchaus  spannungsgeladene und mitreißende Indieclub-Shows verspricht.

Erste Achtungserfolge feierten Silent Attic, bestehend aus Eros Atomus Isler (Gesang, Gitarre), Leon Paul Paulsen (Gitarre), Benjamin Bajramovic (Bass) und Maik Klink (Schlagzeug) im April 2019 mit ihrem selbstproduzierten Debütalbum „Late Night Talks“, welches – wenn freilich noch in kleinerem Rahmen – deutschlandweiten Anklang fand und überwiegend positiv aufgenommen wurde. Im selben Sommer folgten neben einem ausverkauften Konzert in ihrer Heimatstad

Eine EP für Herbst 2020 ist seitens der Band bereits angekündigt. Dabei sollen die vorab veröffentlichten Singles „Turn Him Over“ und „Hide Away“ einen ersten Vorgeschmack auf die EP und den nahezu unverwechselbar-juvenilen Sound der Band geben, bei dem wohl nicht nur ich fast schon unweigerlich an offensichtliche Garage-Rock-Referenzen wie etwa die Arctic Monkeys oder The Strokes, sondern auch an 

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Hier gibt’s die frische Single „Hide Away“ für Ohren und Augen:

 

 

Und um euch das Newcomer-Quartett noch ein wenig näher zu bringen, hat ANEWFRIEND – freilich Corona-freundlich via E-Mail – dieser Tage ein Interview mit Silent Attic geführt. Und das? Gibt’s nun hier…

Hallo. Damit die Leser von ANEWFRIEND euch näher kennen lernen: Bitte stellt euch und eure Band Silent Attic doch einmal kurz näher vor…

Moin! Wir sind Silent Attic, eine vierköpfige Indie-Rockband aus Flensburg. Vor ’n paar Jahren haben wir gemerkt, dass wir total auf die selbe Musik abfahren und dachten, wir machen einfach mal eine Band auf. Daraus ist relativ schnell Silent Attic entstanden und wir freuen uns riesig, dass wir nach nur circa zwei Jahren jetzt hier sitzen und mit euch ein Interview führen dürfen!

Ihr kommt aus Flensburg. Inwieweit hält eure norddeutsche Heimat besondere Reize parat, die einem größere Metropolen wie Berlin, Köln oder Hamburg nicht bieten können?

Flensburg ist einfach so eine Hammerstadt! Man ist in fünf Minuten am Meer, die Gegend ist allgemein total schön hier oben im Norden und obwohl die Stadt relativ übersichtlich ist, geht hier nachts trotzdem gut was ab! Gerade weil Flensburg nicht so riesig ist, kennt man relativ schnell die meisten Leute aus der Musikszene, was natürlich als Band total hilfreich ist. Ohne die ganzen guten Connections hätten wir es niemals so weit geschafft! Wenn man ganz ehrlich ist, gibt es aber letztendlich eine Sache, die den Flensburgern am wichtigsten ist und das ist unser Bier, das Flens!

Lasst uns über den Entstehungs- und Aufnahmeprozess eurer Single „Hide Away“ im Oktober erscheinenden EP „Escape“ sprechen (oder, in diesem Fall wohl eher: schreiben). Wie, wann und wo entstanden die Songs dazu? Gab es größere Unterschiede zu eurem im vergangenen Jahr veröffentlichten Album „Late Night Talks“?

Wir sind an die EP um einiges strukturierter rangegangen als an unser Debüt-Album. Wir haben im letzten Jahr viele Erfahrungen gemacht und gemerkt, was gut klappt und was nicht und das hat uns bei der EP jetzt echt geholfen. Diesmal waren wir in einem richtigen Studio und hatten die Ehre mit Steen Skrydstrup zu arbeiten, der uns für die Aufnahmen eine Menge Equipment zur Verfügung gestellt hat. Wenn man eine Blick hinter die Kulissen von den Aufnahme-Sessions machen will, kann man sich gerne das offizielle Musikvideo zu „Hide Away“ angucken.

Wo wir gerade bei „Entstehungsprozessen“ sind: Wie – und mit wem – ist das neue Musikvideo zum Song „Hide Away“ entstanden?

Während den Aufnahmen hat unser Bassist Ben immer mal wieder gefilmt, was so hinter den Kulissen abgeht. Aus dem Material, das in der Zeit entstanden ist, haben wir dann das Video zusammengeschnitten. Wir wollten etwas Persönliches machen, dass diesen DIY-Charakter der Band gut einfängt. Schaut gerne mal auf YouTube rein.

Wo findet ihr eure musikalischen Inspirationen? Habt ihr bestimmte Vorbilder, was das Klangbild eurer Songs sowie die Herangehensweise ans Komponieren betrifft?

Meistens bringt jeder von uns immer mal wieder ein paar einfache Ideen mit in den Proberaum, aus denen dann die neuen Songs entstehen. Die Lyrics schreibt unser Sänger Eros immer, nachdem die Musik schon steht. Was Sound und Songwriting betrifft wird es keine große Überraschung sein, dass wir viel Inspiration aus der Indie-/Alterative-Rock-Szene der 2000er bekommen haben. Den Sound von „Hide Away“ haben ganz konkret aber auch noch andere Künstler beeinflusst, die 60er-Rock-Legenden The Kinks und die Indie-Rockband Wallows zum Beispiel.

Wie seht ihr selbst als musikschaffende Indie-Künstler die derzeitige Lage der Musikindustrie? Kann man, insofern man Wert auf Integrität legt und nicht nur auf den „schnellen Euro“ anhand von ein, zwei „Hits“ schielt, aktuell überhaupt noch von seiner Musik leben?

Es ist unglaublich schwer, sich heutzutage mit Musik über Wasser zu halten. Die absolut wichtigste Einkommensquelle für uns (so wie auch für die meisten anderen Künstler) sind Konzerte, da die Leute da nicht nur Tickets kaufen, sondern auch viel Merch. Wenn man zu viert oder zu fünft auf Tour ist, deckt meist selbst die Konzertgage kaum die Kosten, die eben auf Tour so anfallen und deshalb ist es schön, wenn die Leute hier und da ein T-Shirt mitnehmen, da von dem Geld am Ende dann tatsächlich oft etwas über bleibt.

Was sind eure nächsten Pläne mit Silent Attic? Kann man in der aktuellen, sehr von Corona und Co. geprägten Situation überhaupt Band-Pläne schmieden?

Die Konzerte, die die wir jetzt im Frühjahr gespielt hätten, wurden natürlich alle abgesagt oder verschoben. Planen ist momentan so gut wie unmöglich, da wir ja auch noch nicht wirklich voraussehen können, wann wir endlich wieder auf die Bühne können. Die meisten Konzerte wurden jetzt vorerst auf Ende des Jahres verschoben und wir drücken die Daumen, dass wir die dann auch spielen können! Natürlich hatten wir durch die ganze Krise jetzt auch massig Zeit, andere wichtige Dinge zu planen, für die man sonst eher selten Zeit findet. Wir haben gedacht, wenn wir schon nicht live spielen können, können wir den Fans zumindest auf andere Art und Weise etwas zurückgeben. Deshalb haben wir fleißig Musikvideos und Live-Sessions geplant, die jetzt in Arbeit sind. In den letzten drei Monaten sind auch unglaublich viele neue Songs entstanden, da wir alle fast den ganzen Tag nur zu Hause saßen und uns voll und ganz aufs Songwriting konzentrieren konnten.

Zum Abschluss noch ein paar allgemeinere Fragen…

Was sind deine frühesten musikalischen Erinnerungen?

Wir haben fast alle unseren größten musikalischen Einfluss direkt aus unserem Elternhaus bekommen. Dass wir heutzutage unsere Mukke machen, ist tatsächlich auch vielen Videospielen zu verdanken, die wir im Laufe unser Kindheit fast alle gespielt haben. Gerade die FIFA-Reihe hat einen jedes Jahr mit unglaublich guten Soundtracks versorgt, über die wir auf die ein oder andere Band aufmerksam geworden sind, die heute immer noch ’n riesen Einfluss auf uns haben!

Welches sind eure – insofern es die gibt – größten „musikalischen Helden“?

Man kann’s sich wahrscheinlich denken, aber gerade in der Anfangsphase der Band hatten die Arctic Monkeys einen unglaublichen Einfluss auf unseren Sound. Gerade die älteren Sachen von denen haben wir aufgesogen wie ein Schwamm. Aber auch andere Bands wie The Strokes, Catfish And The Bottlemen oder die Libertines gehören absolut zu unseren großen Vorbildern.

Wenn ihr die Möglichkeit hättet, mit einem bestimmten Musiker auf Tour oder ins Studio gehen zu können – welcher wäre das?

Wenn wir uns entscheiden müssten, würden wir wahrscheinlich mit der Kieler Band Leoniden auf Tour gehen. Die gehen live unglaublich ab und jedes Konzert gleicht einer riesigen Party. Da mal auf Tour mit dabei zu sein, stellen wir uns ziemlich interessant vor!

Was wären eure 5 Platten als Soundtrack für die Großstadt… 

1. Arcade Fire – The Suburbs

2. The Strokes – Room On Fire

3. Arctic Monkeys – Whatever People Say I Am, That’s What I Am Not

4. Kings of Leon – Aha Shake Heartbreak

5. Oasis – Definitely Maybe

…und eure 5 Platten für die einsame Insel?

1. Babyshambles – Shotter’s Nation

2. David Bowie – The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars

3. Cage The Elephant – Tell Me I’m Pretty

4. Lou Reed – Coney Island Baby

5. Catfish and the Bottlemen – The Balcony

 

Rock and Roll.

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Zitat des Tages


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(gefunden bei Facebook / das komplette SPIEGEL-Interview gibt’s hier)

 

Felix Kummer und seine Band Kraftklub mögen nicht jedermanns Sache sein (meine zum Beispiel sind sie nicht, bin aber wohl auch leicht über Zielgruppen-Alter), die politische Haltung des Chemnitzer Musikers, Baujahr 1989, ist jedoch in jedem Fall unterstützenswert. Denn einerseits vertreten Kummer und seine Klaftklubber diese klar und deutlich, zum anderen engagiert sich das recht erfolgreiche Punk-Pop-Indie-Rap-Irgendwas-Quintett auch immer wieder: So initiierte die Band am 3. September 2018 als Protest gegen die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz ein Openair-Konzert unter dem Motto „Wir sind mehr“ vor schätzungsweise 65.000 (meist jungen) Besuchern und konnte auch andere musikalische Größen fürs Line-up gewinnen: neben ihnen spielten dort auch unter anderem Die Toten Hosen, Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z., Marteria und Casper. Props also für so viel ehrliche klare Kante von Felix Kummer, der kürzlich mit der Solo-Single „9010“ seiner sächsischen Heimatstadt einmal mehr die Ehre erwies.  👍

 

Rock and Roll.

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Auf dem Radar: isolate + Interview mit Bassist Paul Riemer


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Ich gebe es gern zu: Wenn’s um gute Musik aus meiner sächsischen Heimat geht, dann bin ich von vollstem Hörerherzen und nur allzu gern Lokalpatriot. Klar kennt man mittlerweile die Chemnitzer Buben von Kraftklub längst über die Grenzen des Freistaates hinaus (während Indie-Connaisseure auf Playfellow schwören). Natürlich entwickelt sich in Leipzig so langsam aber sicher eine florierende Indie-Szene, die unlängst auch die Flensburger Punkrock-Größen von Turbostaat dazu veranlasste, ihr neustes (und erstes) Live-Album „Nachtbrot“ ausgerechnet im renommiert-speckigen, in jedem Falle grundsympathischen Conne Island aufzunehmen.

Und auch Dresden hat mittlerweile weitaus mehr zu bieten als die am Anfang interessant aus dem Boden geschossenen, gen Ende (bis zur Auflösung vor etwa sechs Jahren) mit einem guten Teil Fremdscham „Allein, allein“ daher trällernden Polarkreis 18. isolate etwa.

Das zwar noch junge, aber bereits seit 2014 gemeinsam in den Proberäumen in der (und rund um die) sächsische(n) Landeshauptstadt gemeinsam an neuen Sounds tüftelnde Trio hat vor Kurzem, im vergangenen Dezember, ihre schlicht „A“ betitelte Debüt-EP via Bandcamp ins weltweite Netz gestellt, deren sechs Songs experimentellen Indiepop ebenso streifen wie ProgRock – Radiohead meets Sigur Rós meets Agent Fresco meets Interpol meets… Oder, wie’s die Band selbst tituliert: „Progressive Pop“. Sehr jung, sehr frisch, sehr interessant – sollte man in Auge und Ohr behalten, diese drei von isolate!

 

Hier kann man die Debüt-EP „A“ in Gänze hören…

 

…und sich gleich noch das – im Übrigen (und gerade für eine „kleine Band“) äußerst professionell gelungene – Musikvideo zum Song „Asleep“ anschauen (zu dessen Entstehungsprozess ihr weiter unten mehr Informationen bekommt):

 

Und da es immer gut ist, mehr über die Hintergrunde einer noch unbekannten, jungen Band zu erfahren, hat ANEWFRIEND dem Bassisten und Tastenmeister von isolate, Paul Riemer, einige Fragen zukommen lassen:

Hallo Paul. Damit die Leser von ANEWFRIEND euch näher kennen lernen: Bitte stelle dich und deine aktuelle Band isolate doch einmal kurz näher vor…

Hallo! Wir sind eine dreiköpfige Band aus Dresden, die es seit Ende 2014 gibt. Wir bezeichnen unser Genre als „Progressive Pop“ aber wir weichen genauso gern auch der Frage nach dem Genre aus. Niklas spielt Drums, Johan spielt Gitarre und singt und ich spiele die Synthies, das Klavier und den Bass.

Lass uns über den Entstehungs- und Aufnahmeprozess eurer im vergangenen Dezember veröffentlichten Debüt-EP „A“ sprechen (oder, in diesem Fall wohl eher: schreiben). Wie, wann und wo entstanden die Songs dazu?

Die Songs von „A“ entstanden innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre. Unser Songwriting ist dadurch geprägt, dass wir zwar gern miteinander spielen, uns aber nur schlecht Songs beim gemeinsamen Jammen ausdenken können. Daher haben wir die Tracks Stück für Stück am Computer vorproduziert und so lange daran rumgebastelt, bis wir zufrieden waren. Das war vor allem bei den „Maintracks“ (Asleep, Adri!, Aglow) so. Das Intro und Outro (Anew, Alight) haben wir uns dann gezielt überlegt, um den anderen Songs einen sinnigen Kontext zu geben. “Afar” ist eine große Ausnahme gegenüber den Anderen: die Wahrheit ist, dass ich mir letztes Jahr einen neuen Synthesizer gegönnt habe und ich dann beim Rumklimpern und Kennenlernen des Instruments diesen Track nebenbei mitgeschnitten habe. Die beiden anderen haben den Mitschnitt dann auf unserem Computer gefunden und fanden ihn so passend, dass er es schlussendlich auch auf die Platte geschafft hat.

Wir haben die EP überwiegend bei uns im Proberaum aufgenommen. Die Gitarre hat Johan bei unserem Audio-Good-Guy Philip (Ex-Copy Of A Golden Sketch) aufgenommen. Mit ihm haben wir auch die Drums eingespielt und er war es auch, der die EP dann gemischt und gemastert hat (übelst geiler Typ). Um jeweils den Sound zu erzielen, den wir uns vorgestellt hatten, haben wir ganze vier verschiedene Klaviere aufgenommen. Einmal unser Stage-Piano im Proberaum, mein akustisches Piano zuhause, sowie einen Flügel und ein DDR-Klavier in einer Musikschule in der Nähe von Dresden. Im Outro “Alight” stellen wir auch mal zwei der Klaviere im Song direkt gegenüber. Ein weiterer wichtiger Bestandteil unserer Produktion ist die Verwendung von selbst aufgenommenen Samples. Wir haben mit unseren Handys viele einzelne Geräusche aufgenommen und bearbeitet, zum Beispiel Klänge aus einem Antiquariat. Am Ende von “Adri!” ist ein Juni-Käfer zu hören, dessen Brummen wir am Computer stark verfremdet haben.

Wo wir gerade bei „Entstehungsprozessen“ sind: Wie – und mit wem – ist das (im Übrigen sehr sehenswerte) Musikvideo zum Song „Asleep“ entstanden?

Danke! Das Video entstand in Zusammenarbeit mit Javier Sobremazas, einem spanischen Filmemacher, der in Dresden lebt und hier bereits für einige lokale Bands ein paar fantastische Musikvideos gedreht hat. Wir haben mit ihm Kontakt aufgebaut und gemeinsam das Video geplant. Die Story, Locations und Darstellenden haben wir dann gemeinsam gesucht. Schauspieler haben wir glücklicherweise in unserem Freundeskreis gefunden und so war unser kleines Filmteam schon komplett. Javier hat einen tollen Sinn für Bilder und Atmosphäre. Er hat ohne jedes künstliche Licht gefilmt und dadurch eine starke, natürliche Stimmung erzeugt. Oft hat er an den Orten, an denen wir gefilmt haben, auch einfach kleine „zufällige“ Details gefilmt und mit in das Video geschnitten. Das hat das Ganze zusätzlich abgerundet.

Wo findet ihr eure musikalischen Inspirationen? Habt ihr bestimmte Vorbilder, was das Klangbild eurer Songs sowie die Herangehensweise ans Komponieren betrifft?

Das ist wohl schwer zu definieren. Ich denke, da hat jeder von uns einen anderen Weg. Ich kann nur für mich sprechen und sagen, dass ich am liebsten einfach am Klavier sitze und drauf los spiele – teilweise stundenlang. Immer dann, wenn ich in dieser Situation einen für mich interessanten, am liebsten ungewohnten Schnipsel entwickle, versuche ich mir diesen zu merken und Stück für Stück weiter zu verfolgen.

Unsere Vorbilder im Klangbild sind auch sehr verschieden. Wir mögen die Härte und Präzision von Bands wie Agent Fresco und Arcane Roots. Aber ebenso die zerbrechlichen, ruhigen Momente, die Nils Frahm und Ólafur Arnalds erzeugen. Wir alle haben einen sehr breiten Musikgeschmack. Eben alles, was gut gemacht ist und was interessant und schön zu hören ist. Das reicht dann von Jazz und Funk über experimentelle Musik und Ambientkram bis hin zu Progressive Metal – aber auch cooler Popmusik. Unsere gemeinsamen Wurzeln liegen schlussendlich aber bei Postrockbands wie Sigur Rós und pg.lost, zu welchen wir auch von Zeit zu Zeit zurückkehren – denn unter dieser Flagge haben wir gemeinsam begonnen Musik zu machen.
Der wohl wichtigste Punkt in unserem Songwriting-Prozess ist wohl, dass wir nur sehr schwer zufrieden zu stellen sind. Immer wieder werden Stellen, teilweise ganze Songs, in Frage gestellt. Immer wieder fragen wir uns, ob alle Songs zueinander passen, ob wir die Spannung über die Dauer eines Konzertes halten können und so weiter. Entsprechend sind unsere Vorbilder dahingehend eben Künstler, bei denen einfach alles zueinander passt, wie etwa bei Sigur Rós, Agent Fresco oder The Contortionist. Solche, stellenweise schon konzeptionellen, Herangehensweisen interessieren uns, weil man so noch mehr Tiefe zwischen den Songs erreichen kann und es als Hörer noch mehr zu entdecken gibt.

Wie siehst du selbst als musikschaffender Indie-Künstler die derzeitige Lage der Musikindustrie? Kann man, insofern man Wert auf Integrität legt und nicht nur auf den „schnellen Euro“ anhand von ein, zwei „Hits“ schielt, aktuell überhaupt noch von seiner Musik leben?

Ich denke, man kann schon von seiner Musik leben, ohne seine Seele zu verkaufen. Man muss eben ein bisschen wissen, wie der Markt tickt. Und damit meine ich nicht, welches Genre angesagt ist, sondern dahingehend, dass man sich in gewisser Weise schon verkaufen können muss. Aber das muss ja nichts Schlechtes sein, im Gegenteil. Networking, sowohl „offline“ als auch online, macht Spaß und wenn man sich Mühe gibt und Feedback von Leuten bekommt, die einen nicht aus dem direkten Freundeskreis kennen, kann das sehr motivierend sein!

Gleichzeitig sollte man immer das machen, auf was man Bock hat. Bock, Ausdauer, Pausen, viel Kaffee und eine Priese Kreativität, dann wird’s auch gut. Wenn man sich verstellt um erfolgreich zu sein, geht das schon irgendwie, aber man verliert seine Identität und es macht garantiert nach einiger Zeit nicht mehr so viel Spaß. Und Spaß ist das Wichtigste.
Man hat heutzutage die Freiheit, alles im Internet zu veröffentlichen. Diese Chance muss man nutzen und sein Glück selbst in die Hand nehmen. Zum Beispiel Labels und Veranstalter auf sich aufmerksam machen. Nur muss man sich auch bewusst darüber sein, dass man darin natürlich nicht der Einzige ist. Entsprechend braucht es ein Alleinstellungsmerkmal, etwas Originelles, das einen zwischen all den anderen Musikern sichtbar macht.

Was sind deine/eure nächsten Pläne mit isolate? Wird es in absehbarer Zeit ein erstes Album geben?

Ein Album ist vorerst nur sehr vage in weiterer Zukunft geplant. Wir wollen jetzt erstmal neue Songs schreiben um dann im Sommer und Herbst viel live zu spielen und unsere Musik präsentieren. Vor allem außerhalb von Dresden und im näheren Ausland. Wenn es dann genug neue Sachen gibt und diese auch live gut funktionieren, dann machen wir bestimmt ein Album.

Zum Abschluss noch ein paar allgemeinere Fragen…

Was sind deine frühesten musikalischen Erinnerungen?

Es gibt VHS-Kassetten, auf denen ich die Titelmelodie zur Trickfilmserie „Heidi“ zum Besten gebe. Ansonsten habe ich schon ab der 1. Klasse Instrumentalunterricht erhalten, Johan bekam seine erste Gitarre mit vier Jahren und hat damit versucht, die ABBA-Platten seiner Eltern zu ergänzen und Niklas hat schon in frühester Kindheit auf Töpfen rum getrommelt und Luftschlagzeug zu den Lieblingsbands seiner Eltern gespielt.

Welches sind deine – insofern es die gibt – größten „musikalischen Helden“?

Ich glaube konkrete, dauerhafte musikalische Helden habe ich gar nicht. Wir hören immer wieder neue Musik und entsprechend kommt auch immer mal wieder jemand dazu, während andere in Vergessenheit geraten (bzw. ihren Heldenstatus aberkannt bekommen :D).

Wenn du (oder ihr) die Möglichkeit hätte(s)t, mit einem bestimmten Musiker auf Tour oder ins Studio gehen zu können – welcher wäre das?

Ich denke ich spreche für uns alle, wenn ich sage, das ‘ne Tour mit Agent Fresco der Hammer wäre.

Was wären deine 5 Platten als Soundtrack für die Großstadt…

Ich glaube nicht, dass wir uns auf 5 einigen könnten, daher meine persönlichen:

Delta Sleep – Ghost City

Interpol – Turn On The Bright Lights

Erik Truffaz – Bending New Corners

Agent Fresco – A Long Time Listening

Golden Kanine – We Were Wrong, Right?

…und deine 5 Platten für die einsame Insel?

Totorro – Home Alone

Kings of Convenience – Riot On An Empty Street

Sigur Rós – Með suð í eyrum við spilum endalaust

Marker Starling – Anchors and Ampersands

Enemies – Embark, Embrace

Vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview mit ANEWFRIEND genommen hast!

 

Rock and Roll.

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