Schlagwort-Archive: Indie Pop

Das Album der Woche


ARXX – Ride Or Die (2023)

-erschienen bei Grand Hotel Van Cleef/The Orchard/Indigo- 

Dass in Brighton im Süden Englands zwischen Sehenswürdigkeiten wie dem Palace Pier oder dem Royal Pavillon irgendetwas ungemein Kreativförderndes zu wirken scheint, dürfte schon lange als offen zur Schau getragenes Geheimnis gelten. Gleichzeitig ist das beschauliche und bunte Städtchen in East Sussex auch als eine der europäischen Hochburgen für die LGBTQIA+-Szene bekannt. In Fällen wie dem des Duos ARXX kommen diese beiden Brighton-Trademarks zusammen: Hanni Pidduck und Clara Townsend kredenzen auf ihrem Langspiel-Debüt „Ride Or Die“ schnörkellosen, herzerwärmenden und queeren Wohlfühl-Indie-Pop, der ebenso in der Garage zuhause ist, wie er polternd durch die lokalen Indiediskos fegt. ARXX setzen dabei ganz auf simple und eindeutige Songs, die sich jedoch trotz ihres direkten Zugangs den absolut komplizierten Emotionen widmen. Sie besingen fiesen Herzschmerz, geistige Gesundheit, amouröse Anwandlungen, aber auch queeres Selbstverständnis, und verpacken das alles ohne nennenswerte Ausfälle in hinreißende kleine Hits.

Ob die vergangenen Liebhaber*innen nun wie in „Baby Uh Huh“ zu dezent HAIM’schen Harmonien in eine bessere Zukunft verabschiedet werden oder sich die chaotische Affäre auf ihrem herausfordernden Höhepunkt befindet, das Duo setzt immer wieder klare Akzente: So zieren ARXX sich beispielsweise nicht, den gepflegten Dance-Punk im Titelstück durch eine schon beinahe Queen’eske Choreinlage zu unterbrechen, der sie im „Outro“ eine Reprise spendieren. In „What Have You Done“ grätscht ein geradezu unverschämtes Schweinerock-Riff durch den fluffigen Indie-Pop, während Pidduck sich aus dem Staub macht und wiederholt das ein oder andere verzweifelte „Sorry“ zurücklasst. Stücke wie „Deep“ hingegen lassen mit Polyrhythmen im Handgepäck den Rock’n’Roll zugunsten einer ausgelassenen, elektronischen Tanzflursause absichtlich links liegen. Dennoch wirkt „Ride Or Die“ wie aus einem Guss und fühlt sich nur selten nach einem jener aus hunderten Singles zusammengepuzzelten Debütalben an, wie sie in den Zweitausendern für britische Hype-Acts noch gang und gäbe waren. Pidduck und Townsend spielen, Newcomer hin oder her, die noch recht junge Essenz ihres musikalischen Schaffens gekonnt nach außen.

„It’s a long, long dance till the end of the night“: ARXX sind immer auf der Suche, browsen mit grellen Cocktails in den Händen durch Brightons Nachtleben, auf dass die nächste Romanze weniger an die Substanz gehen möge und irgendetwas von ihr bleibt. Damit sie wie in „Stuck On You“ dann höchstmelancholische Balladen über die Begegnungen schreiben können und keine angepissten Breakup-Songs benötigen. „Iron Lung“ schaltet am Ende trotzdem in den Riot-Grrrl-Modus und zertrümmert zwischen Crossover und Royal Blood pogend den ganzen Laden, was als Erinnerung dafür sorgt, dass man es hier aller Niedlichkeit und allen pointierten Synth-Einsätzen zum Trotz immer noch mit Alternative Rrrrrrock zu tun hat. „Ride Or Die“ erinnert mit massig Ohrwurmtauglichkeit und Abwechslungsreichtum in petto mitunter daran, was Tegan And Sara mit mehr Krach anstellen würden, oder angenehm an „Box Of Secrets“, das Debüt von Blood Red Shoes (oder meinetwegen an die frühen Gossip). Tanzbarer Indie Rock mit lediglich Schlagzeug und Gitarre aus dem Küstenstädtchen funktioniert 2023 nämlich noch genauso gut wie 2008. Es gilt weiterhin: Brighton bleibt stabil!

 

 

 

Rock and Roll.

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Song des Tages: Bastille – „Come As You Are“ (MTV Unplugged)


Wenn man Bastille nach ihren Lieblingskonzerten der zurückliegenden gut zwölf gemeinsamen Bandjahre fragen würde, stände das „MTV Unplugged„-Konzert vom vergangenen Dezember vermutlich weit oben auf der Liste – und das nicht ganz zu Unrecht…

Wer den Beitrag der britischen Indie-Pop-Band für die prestigeträchtige MTV-Konzertreihe verpasst hat, kann das Versäumnis nun nachholen, denn ab sofort ist das daraus resultierende „MTV Unplugged“-Album – pünktlich zum Record Store Day vor einigen Tagen – nicht nur auf Vinyl-Platte, sondern auch auf allen Streaming-Plattformen verfügbar. Und lässt sich selbst für alle, die den Formatradio-Einheitsbrei sonst meiden wie der Beelzebub das geweihte Nass, recht gut hören, denn für diesen besonderen Anlass hat Bastilles Langzeitkollaborateur Charlie Barnes wunderschöne neue Arrangements vieler Bastille-Klassiker erarbeitet, die, ausgeschmückt mit souligem Backgroundgesang oder Streichern, einmalig an diesem Abend performt wurden: “It was a privilege to work with some insanely talented musicians to put together these really different, special arrangements of a cross-section of our tunes”, sagt Dan Smith, Leadsänger und Songwriter der Band, über das Show-Heimspiel in London. So vereint die Tracklist des konservierten Live-Konzerts 13 Highlights aus allen bisherigen vier Bastille-Alben und zwei recht exquisite Coversongs: „Killing Me Softly With His Song„, welches man wohl vor allem durch die Versionen von Roberta Flack (von 1973) sowie den Fugees (von 1996) sofort im Ohr haben dürfte, und „Come As You Are“ von Nirvana. Und bei zweiterem schließt sich ein Kreis, hatten Kurt Cobain und Co. selbigen Song, im Original vom 1991er Erfolgsalbum „Nevermind“, doch seinerzeit – vor genau dreißig Jahren war’s – selbst bei ihrer legendären „MTV Unplugged“-Show gespielt

 
 
 

Rock and Roll.

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Song des Tages: Danger Dan – „Ingloria Victoria“ (Live in Berlin)


Foto: picture alliance / dpa / Carsten Koall

Am 30. April 2021 erschien „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ von Danger Dan als erste Veröffentlichung des neu gegründeten Labels seiner Antilopen Gang noch in recht zurückhaltender in Kleinstauflage. Zwei Jahre später können er und alle Beteiligten gar nicht mehr sagen, wie oft sie vor allem die Vinylauflage des Albums inzwischen nachgepresst haben. „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ enterte Platz eins der deutschen Album-Charts, gewann drei „Preise für Popkultur“, einen „Deutschen Kleinkunstpreis“ und unzählige neue Fans. Danger Dan hat die Songs seines zweiten Solo-Langspielers – allen voran das durchaus skandalträchtige Titelstück – ebenso vor tausenden von Leuten in einigen der ehrwürdigsten klassischen Konzertsäle der Republik aufgeführt wie auf dem größten Punk-Festival Deutschlands, gemeinsam mit Igor Levit im „ZDF Magazin Royale“ von Jan Böhmermann und bei unzähligen anderen Gelegenheiten.

Nach dutzenden bis unzähligen umjubelten Konzerten, von den ganzen kleinen Clubs bis hoch in die prunkvollsten Säle und Paläste der Republik, ist es da nur folgerichtig, dass am 2. Juni 2023 „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ als 16 Songs umfassendes, Anfang November 2022 im Berliner Admiralspalast aufgenommenes Live-Album erscheint. Neben einem großen Teil der Songs des Klavieralbums enthält es auch einige ältere Danger Dan-Songs, die hier erstmals in neu arrangierten Versionen mit Klavier und Streichern wiederveröffentlicht werden.

Eines der Stücke, „Ingloria Victoria“, nach „Ölsardinenindustrie“ der zweite Vorgeschmack aufs kommende Live-Album, richtet sich auch auf ehrwürdigen hauptstädtischen Bühnenbrettern mit gewohnt bissigen Worten gegen das Gymnasium in Daniel Pongratz‘ (so Danger Dans bürgerlicher Name) Geburtsstadt Aachen und ist gleichzeitig als grundsätzliche Kritik am deutschen Schulsystem zu verstehen. Am Schluss des Songs zeigen seine beiden Mittelfinger unverhohlen, was er von seiner Schulzeit und jenem Aachener Victoria-Gymnasium hält.

„’Ingloria Victoria‘ ist eine zu Klaviermusik gewordene Abrechnung mit der Aachener Schule, von der der zum Chansonnier mutierte Rapper aus dem Hause Antilopen Gang vor über 20 Jahren geflogen ist“, heißt es in der Pressemitteilung. Und weiter: „Damals war für seine Lehrerinnen und Lehrer noch nicht abzusehen, welchen Weg dieser Störenfried einmal einschlagen und dass seine Musik eines Tages wie ein böser Fluch zurück auf den Schulhof und sogar in das Lehrerzimmer finden würde“.

Und der Erfolg, welchen ihm zu seiner Schulzeit wohl nur wenige Lehrer zugetraut hätten, gibt dem Musiker mittlerweile recht, denn ebendieser „Störenfried“ spielt sowohl am Tag seines Live-Album-Releases als auch am Tag darauf in der nicht eben kleinen Berliner Parkbühne Wuhlheide. Ein amtliches Statement, das jedoch auch einen guten Grund hat: Danger-Dan-Pongratz‘ 40. Geburtstag am 1. Juni. Dazu passt auch das Motto: „40 Jahre Danger Dan: Das schönste (und längste) Fest meines Lebens mit all meinen Freundinnen und Freunden“ -liest sich, als wäre auch mit einer Menge Gästen zu rechnen. Das Live-Album kann bereits in verschiedenen Ausführungen vorbestellt werden und auch für die erste der beiden Berlin-Shows gibt es noch Tickets.

 

 

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Das Album der Woche


Daughter – Stereo Mind Game (2023)

-erschienen bei 4AD/Beggars/Indigo-

„I’m tryna get out / Find a subtle way out / Not to cross myself out / Not to disappear…“ Gegen das Verschwinden, das Vergessen, die Selbstaufgabe stemmten sich Daughter auf „Not To Disappear“ – und wären in der Folge beinahe selbst zur Fußnote geworden. Mitte der 2010er-Jahre bildete das britische Trio einen Fixstern am Indie-Himmel, dessen Erblassen anno dazumal kaum vorstellbar war. Schließlich definierten sich sowohl das 2013er Debütalbum „If You Leave“ als auch sein drei Jahre darauf erschienener Nachfolger nicht durch Stilbrüche oder aufgeblasene Kunst-Konzepte, sondern durch ihre immanente grenzen- wie kitschlose Empathie. Sie wirkten wie Vertraute, mit denen man sich spätabends in hoffnungslosen Zeiten traf und gegenseitig Trost spendete – und deren nahezu siebenjährige Abwesenheit sich weder durch ein Videospiel-Soundtrack-Album noch durch Elena Tonras gleichwohl gelungene Solo-Platte als Ex:Re gänzlich kompensieren ließ. Dennoch: Daughter waren erstmal weg. Während die Frontfrau ihr Heil im Alleingang suchte, verschlug es Gitarrist Igor Haefeli über den Umweg San Diego nach Bristol, Drummer Remi Aguilella nach Portland, Oregon. Nun ist das Indiefolkrock-Dreiergespann wieder aufgetaucht. Und „Stereo Mind Game„, dessen Abschlusstitel „Wish I Could Cross The Sea“ jetzt für mehr steht als nur für einen Schlagzeuger, der seinen Anteil remote in Vancouver, Washington aufnehmen musste, kommt trotz seines kryptischen, nicht eben große emotionale Reaktionen auslösenden Titels dem Seelsorge-Abkommen von damals leidenschaftlich nach.

Fotos: Promo / Marika Kochiashvili

Denn auch Album Nummer drei (oder wahlweise Nummer vier, wenn man „Music from Before The Storm“ mit einbezieht) hat wieder einiges auf dem Herzen. Im Video zur ersten, fast schon indiepoppigen Single „Be On Your Way“ etwa überlagern sich die Bilder wie verschwommene Erinnerungen. „I will meet you on another planet if the plans change“, verspricht Tonra einer romantischen Bekanntschaft, die sie einst in Kalifornien machte, ganz im Wissen, dass das irdische Wiedersehen womöglich nie stattfinden wird. Ihr Gesicht wirkt abwechselnd ernüchtert und glücklich, der vertraute instrumentale Kokon aus Hall-Gitarren, drängelndem Schlagzeugspiel und seufzenden Streichern (welche vom 12 Ensemble beigesteuert wurden) fängt den bandtypischen Limbus zwischen Verzweiflung, melancholischem Innehalten und Aufbruch ein. Die Sehnsucht nach räumlich entfernten geliebten Menschen, das gleichzeitige Wunder ihrer Existenz wie auch der Schmerz der Distanz werden zur thematischen Klammer der gesamten Platte. Wie umgehen mit den großen Sehnsüchten, die da soeben das ohnehin schon schwere Herz fluten, während der Kopf (s)ein „Stereo Mind Game“ aufführt? Passend dazu beginnt etwa der bereits erwähnte Closer „Wish I Could Cross The Sea“, welcher von der unerfüllten Sehnsucht nach Freiheit erzählt, mit entfremdeten Sprachaufnahmen von Tonras Nichte und Neffen, die in Italien leben.

Doch manchmal gibt es auch nicht-geografische Gründe für die Isolation. Im ironisch betitelten „Party“ gehe es laut der mittlerweile 33-jährigen Musikerin, in deren glasklar-rauer Stimme ätherische Präsenz kein Widerspruch ist, um die Nacht, in der sie beschloss, dem Alkohol abschwören zu wollen: „I’ll burn right through / I’m scared I’ve lost my head / I’m tryna keep my cool / My friends are vanishing“. Auf einem post-punkigen Riff treibt der Song vorwärts, knarziges Feedback-Rauschen verklanglicht die geistige Umnebelung, durch welche die Protagonistin stößt. Es ist nicht das einzige Mal, dass Daughter hier aus ihrer Komfortzone brechen. „Dandelion“ nimmt den Schwung auf seiner Akustischen mit, ehe er in einer von Geräuschen durchdrungenen Klimax durch die Luft wirbelt – „We are the reckless, we are the wild youth“, hieß es ja nicht umsonst im bis heute wohlmöglich ikonischsten Stück der Band. In „Future Lover“ unterstützt Gitarrist Igor Haefeli indes seine Frontfrau auch gesanglich, während Tonra im zart hingetupften „Isolation“ ihre künstlerische Verspieltheit mit versöhnlicheren Grautönen sowie gesundem Pragmatismus verwebt und das klassischere, anfangs kreiselnde „Neptune“ in einem atemberaubenden Finale mit Chor und Bläsern abhebt.

Orchestrales Uplifting betreibt auch das fulminante „To Rage“ – und erschlägt damit keineswegs die Intimität, sondern erfasst den Moment, in dem nahezu alle Dämme brechen. Wer skeptisch war, ob Daughter während der langen Pause die Beihilfe zur Katharsis verlernt haben könnten, kann spätestens hier die aufs Melancholische abgerichteten Tränen fließen lassen. Auszeit hin oder her – die Band hat sich erfolgreich dagegen verweigert, selbst zu einer ihrer besungenen und visualisierten Erinnerungsfetzen zu werden, und erneut ein beruhigende Wärme ausstrahlendes, introspektiv reflektierendes Album geschaffen, das nach einer gewissen Zeit den Rhythmus des eigenen Herzschlags annimmt. „I’d just need to erase distance / Find a hole in the ocean“, singt Tonra in „Swim Back“ zwischen shoegazigen Synth-Wasserfällen und tief verzerrten Saiten. Dabei hat sie den direkten Kanal zu ihren Therapiepartner*innen am anderen Ende der Leitung schon längst gefunden. Wer Daughter hört, lässt deren Songs bis tief unter due Haut fahren – und ist deshalb nie allein.

 

 

Rock and Roll.

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Song des Tages: Talking To Turtles – „Grapefruit Knife“


Foto: Promo / Stella Weiss

Als Florian Sievers und Claudia Göhler 2008 ihre erste LP als Talking To Turtles in ihrer Leipziger Wohngemeinschaft einspielten, war die Welt noch eine andere. Damals konnte es sich das Pärchen noch leisten, unbekümmert in den Tag hineinzuleben, mit Keyboard und Gitarre im Schlepptau durch die Lande zu ziehen und auch mal auf fremden Sofas zu crashen um ihr Tour-Budget nicht allzu sehr zu strapazieren. Dass man so etwas natürlich nur mit jugendlichem Leichtsinn und einer gehörigen Portion Zuversicht durchziehen konnte, wurde spätestens dann deutlich, als die Omnipräsenz des Duos auf allen möglichen Bühnen nach der Veröffentlichung des dritten, 2014 erschienenen Albums „Split“ allmählich nachließ, um 2018 gänzlich zu versiegen. Was sich im ersten Moment wie künstlerisches Scheitern lesen mag, hatte vor allem etwas damit zu tun, dass sich Florian Sievers mit seinem deutschsprachigen Projekt Das Paradies, als Film- und Theaterkomponist und nicht zuletzt als Produzent (etwa für Hundreds, Lina Maly oder Albrecht Schrader) gleich mehrere neue Standbeine aufbaute. Für Talking To Turtles blieb da schlichtweg keine Zeit mehr.

Bis jetzt: Ziemlich überraschend – aber absolut überzeugend – kommt nun „And What’s On Your Mind„, das aktuelle Album des Duos, daher. Inzwischen sind Florian und Claudia zudem verheiratet und brauchen mit ihrer Musik weder sich noch anderen etwas beweisen, was die entspannte Selbstverständlichkeit erklärt, mit der Talking To Turtles musikalisch nahezu genau dort ansetzen, wo sie anno dazumal mit „Split“ aufgehört haben, dabei aber mithilfe von Produzent Sönke Torpus (und wohl auch der zwischenzeitlich kumulierten Contenance und songwriterischen Souveränität) noch mal ordentlich eins drauf setzen. Same same but different? Quasi. Im Prinzip sind sich beide treu geblieben und bieten auch auf Langspieler Nummer vier angenehm temperierten, zweistimmig vorgetragenen Folk Pop mit überschaubarer Instrumentierung, scheuen jedoch auch nicht davor zurück, sich mehr oder minder hemmungslos den Pop-Vibes ihres Materials hinzugeben. Es liegt eine freundliche Gelassenheit und melancholisch-sanfte Introspektion in dieser leise und unprätentiös gespielten Musik, die sich wiegt und langsam ausatmet.

I was tracing my believes / Now I’m facing the truth / The World Wide Web makes me feel lonely / And lonely you are too“ (aus „Answers Dot Com“)

Überhaupt: die Indie-Pop-Vibes. In den Songs von Talking To Turtles nach groß angelegten Botschaften, Bedeutungen und Geschichten zu suchen, macht keinen Sinn, denn das Musiker-Paar läuft mit weit aufgerissenen Augen staunend durch die Welt und findet dabei ebenso Trost im Absurden wie im oft genug seltsamen Humor des Schicksals. Wenn es hier um etwas geht, dann darum, einfach einmal inne zu halten und einen Schritt zur Seite zu treten, um die Welt aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Wie sonst wohl könnte man auf die Idee kommen, Songs aus der Sichtweise einer Plastikblume („I’m A Pretender“) oder über ein „Grapefruit Knife“ zu schreiben? Aber das mag ja auch spannender sein als auf das eigene, vielleicht profane alltägliche Leben zu schauen. Auf jeden Fall ist es viel charmanter – und das macht unterm Strich wohl den Reiz von „And What’s On Your Mind“ aus.

Zu Beginn ihrer Laufbahn mögen Talking To Turtles vielerorts noch als Folkies gegolten haben, hatten jedoch im Grunde schon immer ein richtig großes Herz für die Popmusik. Und das kann man nur zu gut in den zehn neuen Stücken hören. Zusammen mit Sönke Torpus (und Mixer Olaf Opal) erschufen Talking To Turtles in dessen Studio am nordfriesischen Deich ein mit Streichern und Bläsern angereichertes Setting, das nun wirklich nichts mehr mit dem Flair einer Wohngemeinschaft ihrer Anfangstage zu tun hat und sich angenehm ungezwungen an den Traditionen klassischer, handgemachter Pop-Musik orientiert. Mal klingt hier ein aufgeräumter Sufjan Stevens an, mal die Feinfühligkeit von Belle And Sebastian, mal könnte man glatt meinen, in eine sonntägliche Kleiner-Kreis-Jam-Session von Death Cab For Cutie hineingeschlurft zu sein. In einer besseren, sympathischeren Welt als etwa der in „Answers Dot Com“ besungenen, böte „And What’s On Your Mind“ sogar einen soliden Fundus veritabler, potentieller Indie-Radio-Hits.

Rock and Roll.

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Auf dem Radar: Tommy Lefroy


Foto: Promo / Claryn Chong

Empfehlung gefällig? Klar doch! Freunde von Tönen der Güteklasse Phoebe Bridgers, Mitski oder First Aid Kid dürfen sich das Duo Tessa Mouzourakis und Wynter Bethel – alias Tommy Lefroy – und ihre soeben erschienene zweite EP „Rivals“ gern auf ihre Ich-hör-mal-rein-Liste setzen.

„Diese EP ist um einiges selbstbewusster“, so die Band in einem Statement über den Nachfolger der 2021 veröffentlichten „Flight Risk EP„. „Die neuen Songs suchen keine Entschuldigungen. Wir haben unlängst den Scherz gemacht, dass ‚Flight Risk‘ die Flucht war und ‚Rivals‘ nun den Kampf aufnimmt, gar ein paar bösartige Gefühl in sich trägt. In vielerlei Hinsicht geht es um die Beziehung, die wir zueinander haben, wie wir uns gegenseitig herausfordern und beschützen.“

Benannt nach dem Fuckboy – wie’s die heutige Jugend wohl ausdrücken würde – des 19. Jahrhunderts – und der realen Inspiration für Mr. Darcy aus „Stolz und Vorurteil“ -, Thomas Langlois Lefroy, der Jane Austens Herz brach, fand das Newcomer-Zweiergespann trotz zeitweise stattlicher 5.000 Meilen zwischen ihnen zusammen (Mouzourakis stammt ursprünglich aus Vancouver, Bethel aus Michigan). Die beiden lernten sich 2018 in Nashville kennen und liefen sich dann öfter auf Partys über den Weg – an gemeinsame Songs dachte jedoch zunächst keine der beiden. Erst als Tessa Mouzourakis ein Konzert der aus Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus bestehenden All-Female-Supergroup boygenius im Commodore Ballroom in ihrer Heimatstadt besuchte, erwachte in ihr der Wunsch, etwas ganz Ähnliches auf die Beine stellen zu wollen. Bald darauf postete sie ein Cover des boygenius-Songs „Ketchum, ID“, woraufhin Bethel antwortete: „Können wir eine Band gründen?“ Konnten sie.

Und dass ebendas keine allzu schlechte Idee war, zeigen einmal mehr die sechs neuen Songs der „Rivals EP“. Einer von ihnen ist die bereits im Januar veröffentlichte Single „Worst Case Kid“, welche von einem dunklen Dunst aus schrillen Gitarren getragen wird und von psychischen Problemen und prämenstrueller Dysphorie (PMDD) handelt. „Dieser Song verkörpert dysphorische Gedanken als eine Art toxische Liebesgeschichte“, erklärt die Band, die unlängst im Vorprogramm bei einigen Kanada-Shows der ebenfalls aufstrebenden Indie-Pop-Newcomerin Samia in Erscheinung trat. „Es geht darum, dass Schwarzmalerei trotz besseren Wissens so ähnlich ist wie die Rückkehr zu jemandem, von dem man weiß, dass er einem nicht gut tut. Wenn man wirklich intensive Depressionsphasen durchmacht, kommt man wie nass geschwitzt aus ihnen heraus, und wenn es wieder besser wird, ist die Hexe sozusagen ‚tot‘. Wir haben beide mit Anfällen von Traurigkeit zu kämpfen, und der Song handelt davon, sie zu überwinden.“

Etwas optimistischer gibt sich da zum Bespiel der EP-Opener „Dog Eat Dog“, der als Ode an alle Heldinnen, die sich in einer immer noch oftmals von Männern dominierten (Musk)Welt behaupten, daherkommt und auf Konfrontationskurs mit männlichen Machtstrukturen und den von ihnen auferlegten engen Hierarchien geht. Mit seinem Garage-Rock-Grunge-Flair und den vielschichtigen Gesangsharmonien ist der Song außerdem ein Aufruf an alle, sich in ihrem Anderssein bestätigt zu fühlen. Das Stück schmückt all diese Gefühle durch mittelalterliche Bilder in Text und Video aus und beschwört Schilde, Rüstungen und Arenen herauf: „Looking around the arena / Thinking I’m just like you / But a girl’s gotta do what a girl’s gotta do.“

Klare Sache: Tommy Lefroy wollen’s wissen.

Rock and Roll.

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