Schlagwort-Archive: Ich vs. Wir

Song des Tages: Kettcar – „Landungsbrücken raus“ (live)


Untitled-design-16-1024x576

Die Band betritt die Bühne, die Menge tobt, hebt die Gläser (oder eben Bierbecher): Kettcar stoßen auf die vergangenen zwei Jahre an. „…und das geht so„, nach dem 2010 veröffentlichten „Fliegende Bauten“ das zweite Live-Album der fünfköpfigen Indierock-Band, setzt einen Schlussstrich hinter den erfolgreichsten Release-Zirkel der 18-jährigen Bandgeschichte und entlässt die Hamburger zunächst und demnächst wieder in eine wohlverdiente gemeinsame Kreativpause. „Wir haben schlicht und einfach gesehen, wie gut uns das letztes Mal getan hat“, wie die Band zu ihrem Entschluss schreibt. Vor dieser Auszeit touren Marcus Wiebusch und Mannen natürlich im kommenden Jahr noch ein vorerst letztes Mal durch Deutschland. Und das geht so…

Als „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ im warmen August 2017 erschien, füllten Kettcar nach fünf Jahren Pause einmal mehr, einmal öfter das große unpolitische Loch im deutschsprachigen Allen-gefallen-bloß-nirgendwo-anecken-Pop-Zyklus, das sich in der letzten Dekade nach und nach aufgetan hatte. Die klare Haltung des dazugehörigen (fünften) Albums „Ich vs. Wir“ und die nahezu cineastische Auseinandersetzung mit komplexen politischen Sachverhalten traf zielgenau den Zeitgeist zwischen Ost und West, zwischen Flüchtlingswelle und tumbem AfD-Proteslertum. Klare Sache: Für genau diesen Sound und diese Botschaften gab es eine Zielgruppe. Kein Wunder also, dass die Band in den folgenden Monaten ihre bislang größten Konzerte spielen durfte, die dann – erfreulicherweise – auch noch nahezu ausnahmslos Ausverkauf vermeldeten. Diese gelungene Wiedergeburt feiert man nun mit (s)einem fast zwei Banddekaden umspannendem Quasi-Best-Of-Live-Album. Ebenjenes hört auf den simplen Titel „…und das geht so“ – wie sollte es auch sonst sein, schließlich nutzt Frontmann Wiebusch diese vier Worte ein ums andere Mal, um die Songs zu starten – und folgt der simplen Formel, an der sich auch die Konzerte der Band seit eh und je orientieren: No Bullshit, Leute. Was zählt, ist die Musik.

717nbCc0ywL._SY355_Ohne Frage: Kettcar und deren Kunst, die bei der songschreiberischen Klasse beginnt und nie wichtige Botschaften außer Acht lässt, stehen auf „…und das geht so“ ganz klar im Vordergrund. Nur für wenige Passagen gibt Marcus Wiebusch den Gesangspart an die meist textsichere Menge weiter, die das neu entstandene Vakuum stets mit Freuden füllt. Ansonsten lauscht der Zuhörer 21 Songs und gut eineinhalb Stunden lang vorrangig der Band, die fantastisch klingt und jede ihrer kreativen Schaffensphasen abarbeitet. Die fetten Passagen – die Ausbrüche von „Money Left to Burn“, „Kein Außen mehr“, „Landungsbrücken raus“ oder das von Wiebuschs 2014 erschienenem Solo-Debüt „Konfetti“ stammende „Der Tag wird kommen“ – knallen so, wie es sich gehört, schließlich kommen gerade Marcus Wiebusch und Bassist Reimer Bustorff aus der deutschen Punk-Szene, spielten sich vor Kettcar in legendären Szene-Bands wie …But Alive oder Rantanplan die Ärsche in kleinen Indie-Schuppen wund. Und auch die ruhigen Momente wie beim Pärchen-Kuschel-Favoriten „Balu“ oder dem ruhigen Outro von „Den Revolver entsichern“ können sich voll entfalten. Das liegt gerade auch an einem dreiköpfigen Bläser-Ensemble (Philip Sindy an Trompete und Flügelhorn, Sebastian Borkowski an Tenor-Saxophon und Altflöte sowie Jason Liebert an der Posaune), das das Hamburger Quintett mit im Gepäck haben und das den Kettcar-Sound passend zur Feierlichkeit im Bombast aufgehen lässt.

30257

Punkten Kettcar bereits mit ihrem reinen Fokus auf das Wesentliche, so lassen natürlich seit jeher auch die vielen kleinen Ansagen und Anekdoten die Band in charismatisch-sympathischen Licht erscheinen. Die reichen von ernst gemeinten menschlichen Politik-Kampfansagen („Humanismus ist nicht verhandelbar“) über etwas durch den Wind wirkende Danksagungen Bustorffs bis hin zu Erzählungen von der Esso-Tankestelle an der heimatlichen Reeperbahn sowie vergangenen Auseinandersetzungen mit Major-Label-Angestellten („Wir machen, was wir wollen!“). Das bodenständige Image Kettcars, deren Veröffentlichung ihres Debütalbums „Du und wieviel von deinen Freunden“ anno 2002 auch den Startschluss zum bis heute erfolgreichen Indie-Label Grand Hotel Van Cleef gab, verfestigt sich dadurch nur weiter. Da darf man freilich auch mal ausgiebig auf die eigene Hochphase anstoßen und den vergangenen Jahren mit einem formidabel tönendem Live-Album die Krone aufsetzen. Dass die Platte vor allem als kleines Dankeschön an alle Fans der Band gedacht ist, die von den Studioalben des Indierock-Quintettes nicht genug bekommen (und wohl hier auf hohem Niveau bemängeln werden, dass eine Song-Großtat wie das Niels Frevert-Duett „Am Tisch“ hier fehlt), geht natürlich völlig in Ordnung, beweisen Kettcar hier doch einmal mehr eindrucksvoll, dass sich Humor und Ernsthaftigkeit, satte Akkorde und erhobene Zeigefinger keineswegs im Weg stehen müssen.

 

 

— Kettcar live 2020 —

25.01. – Braunschweig, Staatstheater
26.01. – Düsseldorf, Stahlwerk
27.01. – Nürnberg, Z-Bau
28.01. – München, Muffathalle
29.01. – Mannheim, Capitol
30.01. – Dresden, Schlachthof
31.01. – Bremen, Pier 2
01.02. – Lübeck, MuK

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Song des Tages: Kettcar – „Weit draußen“


kettcar_byandreashornoff_2017_4_small_2_1

Foto: Promo / Andreas Hornoff

Ich weiß sehr genau, dass ich mich mit solchen vollkommen wahren Thesen zum x-ten Mal wiederhole, aber: wenn es eine Band im deutschsprachigen Raum recht verlässlich beherrscht, teilweise schonungslos direkte Sozialkritik in tolle indierockende Musik und diese wiederum instant in einen Kloß im Hals zu verwandeln, dann sind es wohl Kettcar (und falls diese einmal verdient pausieren, wird’s wohl deren Frontmann Marcus Wiebusch gewesen sein).

50b774f7-KettcarEP2019Final.jpgDas war auf dem letzten, 2017 veröffentlichten Album „Ich vs. Wir“ (welches es unter ANEWFRIENDs „Alben des Jahres“ schaffte) so, und ist auch auf der im März (digital) beziehungsweise vor wenigen Tagen (physisch) nachgereichten EP „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)„, die an die gesellschaftskritischen Inhalte des Albums auf der Mikroebene anknüpft, kaum anders. Songs wie „Palo Alto“ oder „Scheine in den Graben“ (bei dem die illustre Gästeliste im Verlauf des Songs Schorsch Kamerun von Die Goldenen Zitronen, Jen Bender von den Electro-Trashern Großstadtgeflüster, Die Ärzte-Schlagzeuger Bela B., Jörkk Mechenbier von Love A, Rapperin Sookee, Kraftklub-Sänger Felix Brummer, Marie Curry von den Hamburger HipHoppern Neonschwarz, Gisbert zu Knyphausen, Safi und David Frings von Fjørt in Kurz-Features abarbeitet) mögen zwar (bewusst) mit dem ein oder anderen Klischee spielen, sind aber vor allem: wichtig. Ebenso wie die 2001 gegründete Hamburger Band, wenn man so mag das gute schlechte Gewissen des deutschen Indierocks (was wiederum auch schon für Wiebuschs etwas mehr Richtung Schrammel-Punk angesiedelte Vorgängertruppe …But Alive galt). Neustes – und wohl der EP bestes – Beispiel ist der Abschlusssong „Weit draußen“.

Musikalisch sowie von seiner Grundstimmung her bewegt sich das Stück  wohl irgendwo zwischen „Erinnert sich jemand an Kalle Del’Haye“ von …But Alive und „48 Stunden“ von Kettcar: Im Zentrum stehen eine Akustikgitarre und Marcus Wiebuschs eindringlicher (Sprech-)Gesang, drumherum strickt die fünfköpfige Band vorsichtig etwas reduziertes Beiwerk. Der Text ist dafür umso niederschmetternder: Der Erzähler besucht eine alte Freundin, die mit ihrem behinderten Sohn vor dem Mitleid ihrer Umgebung aufs Land geflohen ist und nun Sätze sagt wie „Ich schwör‘, ich liebe mein Kind / Aber ich hasse mein Leben“. Sätze, die einem die Kehle zuschnüren. Die nachwirken. All die Wut, die Scham, die Verzweiflung und Verlogenheit einer solchen Situation wird immanent spürbar. Kloß im Hals? Ad hoc.

Das nun an die Hand gegebene dazugehörige Musikvideo setzt seines Zeichens ganz auf Kontemplation: Der Clip zeigt einfach nur die Autofahrt der Hauptfigur (Marcus Wiebusch) zu besagter Freundin aufs Land – und automatisch macht sich der Zuschauer auch jene Gedanken des „Elendstouristen“, der daran verzweifelt, wie er mit der Situation umgehen soll – und als Außenstehender – glücklicherweise – nie so ganz dieses Leben eines Elternteils eines behinderten Kindes nachvollziehen können wird. Mit all seinen Entbehrungen, aber auch schönen Tagen voll kleiner Freuden. „Zeig‘ mir einen Helden / Und ich schreib dir ’ne Tragödie…“ Uff.

 

 

„Ich weiß, du meintest, es wäre sehr weit draußen
Aber so weit draußen? Ist doch völlig verrückt!
Hier zieht man hin, wenn man nie mehr gefunden werden will
Es ist so still…

Der Garten ein Urwald, das Haus eine Hütte
Fenster und Türen mit dem Mut zur Lücke
Du trittst raus, dezentes Makup, einfach schön
Eine lange Umarmung
Es tut so gut, dich zu seh’n!

Und dann sitzen wir mit unseren wiederkehrenden Gefühlen
Auf so etwas wie Gartenstühlen, aus dem letzten Jahrhundert
Aus der Zeit gefallen, und für immer verändert
Und du fragst mich: ‚Welcher Tag ist eigentlich heute?‘
Das Babyphone zwischen uns macht so friedliche Geräusche
Der Kleine schläft, so leise und friedlich

‚Ich konnt‘ dein Mitleid nicht mehr ertragen.‘
Der Satz von dir aus dem Nichts
‚Wie ihr mein Kind angesehen habt, und dann mich
Nicht zu ertragen.‘

Du sagst: ‚Manchmal ist es hart, doch meistens OK.‘
Und ich weiß, dass du dir das nicht vorstellen kannst
Mit wie wenig man lernt, auszukommen
Wenn man nichts mehr verlangt
Wir erkennen die Lügner, wenn wir sie sehen
Nicht an der Stimme, nur an den Augen
Im Sturm auf schwankendem Boden
Und fehlendem Glauben
Du bist keiner von ihnen
Du bist niemand von denen
Wenn du Sätze sagst, wie:
‚Ich schwör‘, ich liebe mein Kind
Aber ich hasse mein Leben!‘

Auf der Rückfahrt mitten in der Nacht rechts ran
Auf einer Landstraße im Niemandsland
In der Dunkelheit jeden einzelnen Gott verflucht
Und trotzdem fast zu beten versucht
Die Fäuste aufs Lenkrad, der Kopf hinterher
Wo kommen jetzt bitte die Scheißtränen her?
Nur ein Elendstourist, der nur ahnt wie es ist
Und das Ganze ganz schnell vergisst

Aber deine Sätze noch im Ohr
Deine Sätze, wie Handgranaten
Die Chance war halt Eins zu zwei Millionen
Dass der Kleine genau damit geboren wird
Die Chance war da und wir waren halt dran
Und nun durchhalten
Und tun, was man kann

Ja, jeder kann glücklich werden, ja ja
Aber nicht alle
Ja, jeder kann glücklich werden
Aber nie, nie, nie alle

Und beim Abschied dann der übliche Scheiß:
‚Wir sehen uns bald wieder!‘
Und ich weiß, dass du weißt, dass das nicht passieren wird
Nicht so bald
Der Elendstourist weiß, wie das ist
Wir erkennen die Lügen nicht an der Stimme
Nur an den Augen

Du sagst: ‚Manchmal ist es hart, doch meistens OK.‘
Und ich weiß, dass du dir das nicht vorstellen kannst
Mit wie wenig man lernt, auszukommen
Wenn man nichts mehr verlangt
Wir erkennen die Lügner, wenn wir sie sehen
Nicht an der Stimme, nur an den Augen
Im Sturm auf schwankendem Boden
Und fehlendem Glauben
Du bist keiner von ihnen
Du bist niemand von denen
Wenn du Sätze sagst, wie:
‚Ich schwör‘, ich liebe mein Kind
Aber ich hasse mein Leben!‘

Zeig‘ mir einen Helden
Und ich schreib dir ’ne Tragödie…“

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Song des Tages: Kettcar – „Benzin und Kartoffelchips“


kettcar

Keine Frage – Kettcar dürften mit „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ eines der sowohl besten als auch ungewöhnlichsten und wichtigsten Stücke des vergangenen Musikjahres abgeliefert haben, während das dazugehörige Album „Ich vs. Wir“ die Band nach fünf Lenzen der Veröffentlichungsabstinenz genau da zurück verortete, wo Marcus Wiebusch, Reimer Bustorff, Erik Langer, Lars Wiebusch und Christian Hake für (Musik)Deutschland am wichtigsten sind: im kritischen Diskurspop. Denn Meinung und klare Kante  sind auch 2017/2018 rar gesät zwischen all den Gut-Findern, Ja-Sagern und Einweg-Pop-Hits-per-Formel-Schreibern. Umso schöner, dass Kettcar nun wieder Stellung beziehen…

Einer der wohl schönsten Songs auf „Ich vs. Wir“ dürfte „Benzin und Kartoffelchips“ sein,  dem mit seiner erzählten Roadtrip-Story von vier Freunden in der letzten Nacht vor dem vermeintlichen Gang hinter schwedische Gardinen auch ein sentimentales, an selige Neunziger-Jahre-Zeiten und Film-Großtaten wie „Absolute Giganten“ erinnerndes Gefühl anhängt (aber hey – von Sentimentalität konnte und wollte sich Marcus Wiebusch ja noch nie ganz freisprechen!).

Das nun veröffentlichte Musikvideo zur nunmehr vierten Album-Auskoppelung (nach „Sommer ’89“, „Wagenburg“ und „Ankunftshalle„) erzählt nicht die Geschichte aus Gerichtssaal und Auto, sondern die von einer eingeschworenen Gruppe von Teenagern auf einem Schulball, von denen einer aus Liebe zu einem Mädchen mit seinem Konkurrenten in einen handgreiflichen Konflikt gerät, welcher wiederum die Schulfeier aus dem Ruder laufen lässt, während die Band selbst auf der Veranstaltungsbühne steht und somit zu stillen Zeugen der Ereignisse wird. Und obwohl das Musikvideo quasi die Niedlich-Variante des Textes zu „Benzin und Kartoffelchips“ auf der Bildebene abgibt, so ist es jedoch noch immer: sentimental und schön. Kettcar eben.

 

 

500x500„Mama sagte: ‚Achte auf deine Gedanken
Denn sie, sie werden deine Worte‘
Und mit ein paar Worten fing das Ganze an…

Als der Richter sagte: ‚Erheben Sie sich!‘
Standen wir zu viert auf
Obwohl wir nicht alle angeklagt waren
Sondern nur einer, nur Ude

Zwölf Monate, nach sieben dann raus
Wegen einem einzigen Schlag mit der Faust
Der Anwalt meinte: ‚Mildes Urteil, Glück gehabt!‘

Der Haftantritt dann in zwei Tagen
Wir saßen abends zu viert in Friedrichs Wagen
Kein Wort fiel bis einer schrie: ‚Fahr los, verdammt, fahr los!‘

Und nicht eher schlafen bevor wir hier
Heute Nacht das Meer sehen
Spüren wie kalt es wirklich ist
Benzin und Kartoffelchips
Jede Scheiße mitsingen können
Irgendwann ist irgendwie
Ein anderes Wort für nie

Mama sagte: ‚Achte auf deine Worte
Denn sie, sie werden deine Taten‘
Wir waren nicht betrunken, nicht in der Unterzahl

Keiner wusste mehr, wie der Streit begann
Das Schicksal meinte nur: ‚Hey, ihr seid dran!‘
Es hätte jeden von uns, wirklich jeden treffen können

Und hier und jetzt, in Friedrichs Wagen
Das Wissen, ohne es gesagt zu haben
Obwohl wir Brüder, nichts wird mehr wie früher

Heute Nacht kein Film, keine geile Zeit
Kein Erinnerungskitsch, kein Facebook-Like
Wir waren einfach nur beschissen verzweifelt
Und wussten nicht mehr weiter

Und nicht eher schlafen bevor wir hier
Heute Nacht das Meer sehen
Spüren wie kalt es wirklich ist
Benzin und Kartoffelchips
Jede Scheiße mitsingen können
Irgendwann ist irgendwie
Ein anderes Wort für nie
(Ein anderes Wort für nie)

Nicht schlafen bevor wir hier
Heute Nacht das Meer sehen
Spüren wie kalt es wirklich ist
Dosenbier und Chio-Chips
Rauchen bis die Augen brennen
Die ganze Scheiße mitsingen können
Irgendwann ist Wohlfühlmist und graue Theorie
Irgendwann ist immer nur ein anderes Wort für nie“

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Der Jahresrückblick – Teil 1


-best-albums-2017

Was für Musik braucht man in einem Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf die Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie Schlechte – für Momente vergessen lässt. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2017 wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

 

 

faber1.  Faber – Sei ein Faber im Wind

Man kennt ja die Vorurteile gegenüber Schweizern: Reserviert seien sie, irgendwie meinungslos (oder mit selbiger stets hinterm Berg haltend), geheimniskrämerisch und außen vor. Nun, all das trifft auf Julian Pollina eben nicht zu.

Oder zumindest auf dessen alter ego Faber. Dessen Songs weisen den Mann als distinguierten Trinker, Raucher, Macker und Lebemann aus, der auch – wenn’s der Kontext denn erfordert – schon mal markige Worte wie „ficken“, „blasen“ oder „Nutte“ benutzt, sich die Häute seiner Landsleute überstreift und ihnen – ganz nonchalant, ganz un-schweizerisch – im Zerrspiegel ihre häßliche Fratze aus von Angst getriebenem Fremdenhass, oberflächlicher Geltungssucht oder gelangweilter Medien- und Konsumgeilheit vorhält. Dafür, dass das Ganze – in Form der Songs des Debütalbums „Sei ein Faber im Wind“ – nicht zur enervierend-hochgestochenen Gesellschaftsschelte gerät, sorgt die feine Liedermacher-Rock-Instrumentierung, die mal zu den Norddeutschen von Element Of Crime, mal zum Chanson á la Jaques Brel oder Leonard Cohen, mal auch gen Balkan schielt. Insgesamt stehen Fabers Stücke mit all ihrer unangenehmen Bissigkeit und Direktheit, mit ihrem Willen zur Kritik und dem unbedingten Wunsch, Salz in halb geschlossene Wunden zu streuen, in bester Tradition meines persönlichen Jahreshighlights von 2015, dem Debütwerk von Adam Angst. Dass all die unterhaltsame Zeitgeistigkeit aus der Feder eines Mittzwanzigers stammt, ist einerseits erstaunlich und lässt ebenso auf weitere Großtaten von Faber und Band hoffen…

mehr…

 

 

brand new2.  Brand New – Science Fiction

Brand New – absolute Herzensband, spätestens seit dem 2006 erschienenen und bis heute und wohl alle Ewigkeit nachwirkenden Album-Monolithen „The Devil And God Are Raging Inside Me“. Und hätten all das lange Warten auf ein neues Werk (das vormals letzte Album „Daisy“ stammt von 2009), all das Kokettieren mit der eigenen Bandauflösung (vor einigen Monaten boten Brand New T-Shirts mit dem Aufdruck „2000-2018“ zum Kauf an), all die mysteriös in weltweite Netz gestreuten (Falsch)Informationen und einzelnen Appetithappen in Form von neuen Songs wie „Mene“ oder „I Am A Nightmare“ die letzten Fan-Jahre nicht schon schwierig genug gestaltet, bekam die Euphorie um das am 17. August in einer erstaunlichen Nacht-und-Nebel-Aktion (digital) veröffentlichte neue Album „Science Fiction“ bereits kurz darauf einen erheblichen Dämpfer.

Es passt wohl zum Jahr 2017 und all den Enthüllungen rund um #meetoo (wozu ich ja bereits unlängst meinen „Senf“ abgelassen habe), dass ausgerechnet einer Band wie Brand New, die ja Zeit ihres Bestehens einerseits um die Wahrung ihrer Privatsphäre auf der einen Seite (was wiederum die mysteriöse Aura ihrer Songs noch verstärkte) und größtmöglicher Fannähe auf der anderen Seite bemüht war, nun die Verfehlungen ihres Frontmanns vorzeitig das Genick brechen (werden). Stand heute hat das Alternative-Rock-Quartett aus Long Island, New York seit Oktober alle für Ende 2017 und Anfang 2018 geplanten – und wohlmöglich letzten – Konzerttermine abgesagt. Und ob Jesse Lacey, Vinnie Accardi, Brian Lane und Garrett Tierney überhaupt je wieder gemeinsam auf einer Bühne stehen werden, darf angesichts der Begleitumstände bezweifelt werden…

Die zwölf Songs von „Science Fiction“, das der Band überraschenderweise ihr erstes Billboard-Nummer-eins-Album überhaupt bescherte, hätten diese unrühmliche Nebenschauplatz-Promo freilich nicht nötig gehabt, bilden sie doch in Gänze all das perfekt ab, was Fans der Band bislang so faszinierend und mitreißend fanden: Stücke, die sich mal Zeit bis zur nicht selten plötzlichen Eruption nehmen, während andere wiederum diese komplett verweigern. Eine enorme stilistische Bandbreite an Musikalität und Einflüssen, die kaum noch etwas mit jenen Pop-Punk-Anfangstagen des 2001 erschienenen Debütalbums „Your Favorite Weapon“ gemein hat, sondern sich – vor allem auf den letzten Alben – vielmehr auf Post-Hardcore- und Indie-Rock-Szene-Favoriten wie The Jesus Lizard oder Neutral Milk Hotel bezog. Und Jesse Laceys enigmatische Texte, welche den geneigten Genau-Hinhörer und Lyrik-Goldgräber geradezu dazu einladen, sich via Reddit und Co. tagelang in ihnen und ihren tausendfachen Deutungswegen zu verlieren. Dass die Songs zwar deutlich reduzierter als noch auf dem wütend und (ver)quer um sich beißenden Album-Brocken „Daisy“ daher kommen und all die düsteren, geradezu apokalyptischen Schauer und Vorahnungen auch mal zur Akustischen anbieten (während die Band anderswo, wie im grandiosen Song-Doppel aus „137“ und „Out Of Mana“, mit Gitarren-Soli-Ausbrüchen aufwartet), beweist, wie sehr Brand New über die Jahre als Band gewachsen sind. Dass Lacey im finalen „Batter Up“ noch wiederholt „It’s never going to stop“ verspricht, dürfte zwar für die nach wie vor ungebrochene Anziehungskraft der Brand New’schen Stücke gelten, nicht jedoch für die Zukunft der Band. „Science Fiction“ ist ein leider definitiver Schwanengesang. Und zum Glück einer, dessen Wirkung auch über Jahre nicht nachlassen wird…

 

 

gisbert zu knyphausen3.  Gisbert zu Knyphausen – Das Licht dieser Welt

Das am sehnlichsten erwartete Album des Jahres. Mein liebster deutschsprachiger Liedermacher. Die Erwartungshaltung an das neue, dritte Album von Gisbert zu Knyphausen hätte – auch durch das vorab veröffentlichte Titelstück – kaum höher sein können…

Vieles hat sich seit dem letzten, 2010 erschienenen Werk „Hurra! Hurra! So nicht.“ verändert. Und am meisten wohl Knyphausens Sichtweise auf das Leben selbst. Schuld daran dürften vor allem der plötzliche Tod seines Freundes Nils Koppruch im Jahr 2012 (kurz zuvor hatten beide noch als Kid Kopphausen noch ein gemeinsames Album in die Regale gestellt) sowie Knyphausens darauf folgendes, selbstgewähltes zeitweises Verschwinden in die musikalische Versenkung, welches er fürs Reisen und Gewinnen neuer Perspektiven und Eindrücke nutzte, gewesen sein.

Herausgekommen ist mit „Das Licht dieser Welt“ ein Album, das dem melancholischen Grau des Vorgängers nun vermehrt lichtdurchflutete Anstriche verpasst und mit „Teheran Smiles“ und „Cigarettes & Citylights“ sogar erstmals englischsprachige Songs aus der Feder des Liedermachers enthält. Für all jene wie mich, die sich über die Jahre so tief und fest in die Melancholie der Vorgängerwerke eingelebt haben, mag der 2017er Gisbert zwar Einiges an Gewöhnungsbreitschaft erfordern, wer jedoch, wie bei „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, dem großen Tribut an seinen Freund Nils Kopproch, nicht mindestens ein Tränenlächeln im Mundwinkel sitzen hat, dürfte aus Stein sein. Willkommen zurück, Gisbert!

 

 

brutus4.  BRUTUS – Burst

Besser, effektiver, überraschender und ungewöhnlicher durchgerockt als das Trio aus dem belgischen Leuven hat mich 2017 keine Band. Nuff said. Hörbefehl!

mehr…

 

 

father john misty5.  Father John Misty – Pure Comedy

Joshua Michael Tillman ist schon ein eigenartiger Kauz. Erst setzt sich der US-amerikanische Musiker jahrelang bei anderen hinters Schlagzeug (unter anderem in der Begleitband von Damien Jurado oder bei den Fleet Foxes), veröffentlicht nebenher etliche Alt.Country-Kleinode, die – trotz ihrer Großartigkeit – freilich unter dem Radar liefen, um dann ab 2012 als Father John Misty den groß angelegten Alleingang zu wagen. Das brachte ihm und den galant zwischen Seventies-California-Rock und Dandy-Chanson pendelnden Songs der ersten beiden Alben „Fear Fun“ (2012) und „I Love You, Honeybear“ (2015) zwar den Ruf des Kritikerlieblings ein, die breite Billboard-Masse fühlte sich von der Reichhaltigkeit seiner Werke jedoch – scheinbar – überfordert.

Ob sich das mit „Pure Comedy“ ändert? Darf bezweifelt werden. Besonders was die Texte betrifft – sind auch 2017 die ein- wie ausladenden Stücke des Fathers alles andere als leicht verdaulich. Denn Tillman geht es um nicht weniger als den Nukleus aus menschlich-philosophischer Existenz, apokalyptischen Vorahnungen und gesellschafts- wie konsumkritischer Revueschau, musikalisch versetzt mit Piano-Pop á la Billy Joel oder verschrobenem Songwriter-Folk wie einst bei Gram Parsons. Darf’s ab und zu noch eine Schippe Orchester-Pomp oder dicke Big Band-Soße sein? Aber gern doch! Und so tänzelt Josh „Father John Misty“ Tillman während der 75 Albumminuten scheinbar spielerisch zwischen tonnenschwer-kritisch und unterhaltsam-federleicht. Zum Entertainment-Gesamtpaket gehören auch die teils weirden Musikvideos zu „Total Entertainment Forever“ (in dem der einstige Kinderstar Macaulay Culkin als Kurt-Cobain-Verschnitt ans Kreuz genagelt wird, während Tillman seinerseits den Ronald McDonald gibt), zum Titelstück (eine Collage als bildhafte politische Gesellschaftskritik), zu „Things It Would Have Been Helpful To Know Before The Revolution“ (ein wunderbar geratenes Animationsvideo) oder „Leaving LA“ (ein passend intimer Clip zum mantraartigen 13-Minüter, welcher den Father im Studio zeigt). Und als wäre das noch nichts, hat der scheinbar um Dauerbeschäftigung bemühte Kreativling „Pure Comedy“ noch ein 25-minütigen Kurzfilm zur Seite gestellt, bevor im kommenden Jahr bereits das nächste Album erschienen soll… Der allumfassende Wahnsinn.

 

 

einar stray orchestra6.  Einar Stray Orchestra – Dear Bigotry

Wer ein Prise zuviel an reichhaltig instrumentiertem Indiepop, mehrstimmigen Chören und hippie’esk duftendem Pathos nicht scheut, für den war (und ist) „Dear Bigotry“, das dritte Werk der zur Band angewachsenen Norweger des Einar Stray Orchestra, ein gefundenes Fressen.

Und: Kaum ein Song bringt auch Ende 2017 die bedrohlich schiefe Weltlage besser zum Ausdruck als „As Far As I’m Concerned“. Isso.

mehr…

 

 

julien baker7.  Julien Baker – Turn Out The Lights

Mit den Songs ihres 2015 erschienenen Debütalbums „Sprained Ankle„, die die oft spröde aufleuchtende Intimität eines Jeff Buckley mit der teils bitteren Melancholie eines Elliott Smith vermengten, setzte eine aus Memphis, Tennessee stammende junge Newcomerin namens Julien Baker gleich mehrere Ausrufezeichen.

Mit dem zweiten Album „Turn Out The Lights“ setzt die 22-Jährige nun diesen Weg fort. Und während sich der Großteil der Stücke des Debüts noch musikalisch auf ihrer Fender Telecaster abspielte, entlädt die Musikerin all ihren juvenilen Herz- und Weltschmerz auf dem Nachfolger vornehmlich auf den weißen und schwarzen Tasten ihres Pianos. Anders, jedoch keineswegs schlechter. Und immer noch herzerweichend intim, herzzerreißend groß.

 

 

kettcar8.  Kettcar – Ich vs. Wir

Mittlerweile sieht auch die Band selbst es so ehrlich: Mit dem 2012 erschienenen Album „Zwischen den Runden“ war – zumindest vorerst – die Luft raus.

Also legten die fünf Hamburger eine Bandpause ein, während derer sich ihr Chef Marcus Wiebusch auf seine Solo-Karriere konzentrierte und als Ergebnis das formidable Album „Konfetti“ (Platz 4 in ANEWFRIENDs Bestenliste 2014) veröffentlichte, auf dem der ehemalige …But Alive-Punker einmal mehr verstärkt die Finger in gesellschaftliche Fleischwunden legte.

Selbiges tun nun auch Kettcar wieder. Und spätestens mit dem ebenso großartigen wie ungewöhnlichen und wichtigen Song „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ weiß man, wie sehr diese Band und ihr Pathos, ihr mahnender Zeigefinger, ihr Nicht-damit-anfinden der bundesdeutschen Indie-Szene gefehlt hat…

 

 

burkini beach9.  Burkini Beach – Supersadness Intl.

Verschrobener Singer/Songwriter-Pop made in Germany. Was bereits 2015 als vielversprechender Geheimtipp begann, findet in diesem Jahr – und mit den zehn Stücken des Debütalbums „Supersadness Intl.“ – seinen vorläufigen Höhepunkt.

Hinter dem eigenartigen Bandnamen steckt – ganz frei von Glamour – Rudi Maier, einst Teil des bayrischen Indie-Rock-Duos The Dope (welches ja seinerzeit selbst nie über den Status eines Geheimtipps hinaus kam). Und zaubert mal eben Songs wie das längst bekannte „Luxembourg“ oder die faszinierende Bonnie-und-Clyde-Lovesory „Bodyguards“ hervor…

Einen Extrapunkt heimsen Burkini Beach für die schönste Albumverpackung ein: Zwar wurde das Debüt (bislang) nur digital veröffentlicht. Wer jedoch via Bandcamp für verhältnismäßig schlanke 15 Euro zuschlägt, bekommt zum Download-Code noch ein fein aufgemachtes, 48-seitiges Hardcover-Buch mit dazu. Toppy!

 

 

love a10. Love A – Nichts ist neu

Die wütenden Punkpopper um Frontmann Jörkk Mechenbier lassen auch 2017 mit ihrem mittlerweile vierten Album „Nichts ist neu“ nicht nach und machen ebenso unnachgiebig wie unnachahmlich beinahe genau da weiter, wo Love A mit dem formidablen Vorgänger „Jagd & Hund“ anno 2015 aufgehört hatten.

Die zwölf neuen Stücke schlagen sich durchs Feld des „Wir schaffen das!“-Palavers von Mutti Merkel oder der selbstgerechten Wutbürgerei von Petry, Gauland, von Storch, Höcke und Konsorten und bieten all jenen eine Stimme, die viel zu oft durchs gesellschaftliche Raster fallen. Da poltert das linke Punkerherz freudig-fies gegen den Takt, während Mechenbier schon wieder Gift und Galle spuckt! Wichtig.

mehr…

 

 

…und auf den weiteren Plätzen:

Gang Of Youths – Go Farther In Lightness

Roger Waters – Is This The Life We Really Want?

Noah Gundersen – WHITE NOISE

Lorde – Melodrama

Judith Holofernes – Ich bin das Chaos

 

 

Persönliche Enttäuschungen 2017:

the nationalThe National – Sleep Well Beast

Es bleibt zwar dabei: Auch im 18. Bandjahr können Matt Berninger und Co. kein wirklich schlechtes Album veröffentlichen. Allerdings muss ich ebenso feststellen, dass ich auch nach mehreren Hördurchgängen – und trotz dem ein oder anderen tollen Einzelsong wie „Day I Die“ oder „Carin At The Liquor Store“ – nie so ganz warm mit dem im September erschienenen siebenten The National-Werk „Sleep Well Beast“ werde. Dafür verfranzt sich die fünfköpfige Band aus dem US-amerikanischen Cincinnati, Ohio auf ihrem neusten Album einfach zu oft im halbgaren Experiment, welches jedoch – und da liegt wohl der musikalische Hund begraben – viel zu oft ins Nirgendwo führt. Da kann auch eine Weltstimme wie die von Matt Berninger nix mehr rausreißen…

 

 

casperCasper – Lang lebe der Tod

Ähnliches gilt auf für Casper, dessen letzten beiden Alben „XOXO“ und „Hinterland“ ja 2001 beziehungsweise 2013 noch in meinen persönlichen Top 5 landeten.

Doch mit „Lang lebe der Tod“, welches bereits 2016 erscheinen sollte, bevor der Wahl-Berliner „Emo-Rapper“ die Veröffentlichung schlussendlich um ein komplettes Jahr verschob, werde ich nicht so richtig warm. Klar, die Trademarks des gebürtigen Bielefelders sind noch immer da: Benjamin „Casper“ Griffeys raue Stimme, die mal dicke Instrumentierung aus der Studiokonserve, mal via rockigem Bandsound nach vorn gepeitschten Songs. Und, wenn man so möchte, sind auch die Stücke selbst, in denen sich Casper auf Missstände im Jetzt, draußen in der Welt, aber auch im eigenen seelischen Milieu konzentriert, gut. Aber eben nur: gut. Das Gesamtbild von „Lang lebe der Tod“ wankt irgendwie unrund daher. Hat sich die verlängerte Wartezeit hierfür gelohnt. Leider nein. Leider gar nicht.

 

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Song des Tages: Kettcar – „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“


01kettcar_von_andreas_hornoff-992x560

Ist das jetzt ein Lied? Oder eine Kurzgeschichte? Vielleicht beides? Oder am Ende doch total egal?

Fakt ist: Kettcar melden sich fünf Jahre nach dem letzten Album „Zwischen den Runden“ und drei Jahre nach „Konfetti„, dem Solodebüt ihres Frontmanns Marcus Wiebusch, am 13. Oktober mit ihrem nunmehr fünften, elf Songs starken Studioalbum „Ich vs. Wir„, welches freilich wieder beim hauseigenen Label Grand Hotel Van Cleef erscheinen wird, sowie einer ausgedehnten Tour im kommenden Jahr zurück. Braucht es diese Rückkehr? Aber hallo!

Denn schon der erste Vorab-„Song“ beweist, dass es wohl kaum eine andere deutsche Band derart – und das ist an dieser Stelle auch alles andere als ein Widerspruch – so deutlich wie subtil versteht, in persönliche wie gesellschaftliche Wunden zu stechen (und wer’s nicht glauben mag, der höre sich durch Wiebuschs Diskografie – angefangen bei den Politpunkern von …But Alive über die Kettcar-Alben und bis hin zum noch immer großartigen „Konfetti“).

kettcar-ich-vs-wir-artwork-ghvcIn „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ erzählt Marcus Wiebusch die Geschichte eines jungen Hamburger Studenten mit Dead Kennedys-Shirt, der in seinem blauen Ford Granada von der Hansestadt bis an die österreichisch-ungarische Grenze reist und dort einigen Familien zur Flucht aus der DDR verhilft. Dabei gewinnt der Spoken-Word-Song, bei dem der Kettcar-Fronter lediglich im Refrain singt, vor allem durch Wiebuschs Auge fürs Detail, Textzeilen wie „In Mörbisch am See checkte er in die Pension Peterhof ein, kaufte sich einen Döner und wartete auf die Nacht“ sind nur ein Beispiel unter vielen.

Die Ungewissheit und Dringlichkeit der Aktion unterstreicht das angehobene Tempo, die Band ordnet die Begleitmusik ganz der Story unter. „Gesungene Geschichte, die deutlich macht, dass Fluchthelfer*innen damals wie heute gebraucht werden“, meint Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow, der das Lied bereits gehört hat, und auch Schriftsteller Benedict Wells („Spinner“) konstatiert: „Gut, dass es immer schon Menschen gab, die anderen Menschen einfach halfen – und erst danach darüber diskutierten. Das galt für damals, das gilt für heute und das gilt für diesen schönen Song.“

Denn nach der geglückten Aktion ist der Song nicht vorbei. Zurück in seiner WG kritisieren die Mitbewohner des Protagonisten seine Aktion: „Deutschland dürfe nie wieder ein Machtblock mitten in Europa werden. Und eine solche Hilfe zur Flucht der DDR-Bürger würde nur zur weiteren Destabilisierung der Verhältnisse beitragen. Die Aktion war menschlich verständlich, aber trotzdem falsch.“ Gelebte deutsche Geschichte, mit all ihren Ecken, Enden und Neuanfängen – und das Finale des Songs kann wohl keine(n) kalt lassen…

 

 

20637981_10154524950147315_5744927697357657971_n

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
%d Bloggern gefällt das: