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Der Jahresrückblick – Teil 1


Was für Musik braucht man in einem so eigenartigen Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf diese ganze verdammt verrückte und aus den Angeln geratene Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser, „normaler“, gewohnter werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie das Schlechte – für Momente vergessen lässt. Eine Zuflucht. Eine Ton und Wort gewordene zweite Heimat. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2021 einmal mehr recht wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

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Cleopatrick – BUMMER

2021, ein Jahr, welches rückblickend im Schatten dieser vermaledeiten Pandemie an einem vorbeizog. Januar… Corona… Dezember. War irgendwas? Habe ich irgendetwas verpasst? Nope? Okay, gut – ich leg’ mich mal wieder hin. 

Trotzdem musste es auch in den zurückliegenden zwölf Monaten – und fern aller Kontakbeschränkungen, Li-La-Lockdown-Hin-und-hers, Impfdiskussionen und Wutbürgereien (alles so Begriffe, die kaum einer noch hören oder lesen mag, jedoch längst in unseren sprachlichen Alltag übergegangen sind) – ja irgendwie weitergehen. Während der große Musikfestival- und Konzerttross auch 2021 – allen Lösungs- und Anschubversuchen der Beteiligten zum Trotz – im Gros zum Stillstand verdonnert war, durfte der musikalische Veröffentlichungskalender das ein oder andere Highlight für sich verbuchen, welches es eventuell ohne Fledermaus, menschliche Dummheit und eben Corona nie gegeben hätte. Wäre, wäre, Fahrradkette – klar.

Ebenso auffällig ist, dass sich die ANEWFRIEND’sche Alben-Jahresbestenliste in 2021 wieder auffällig vom Konsens anderer Musikmagazine und -portale unterscheidet, nachdem ich 2020 noch – völlig berechtigt – in die Jubelfeier von Phoebe Bridgers’ großartigem Werk „Punisher“ einstimmen durfte. Denn während andernwebs gefühlte Konsens-Platten von Turnstile oder Little Simz abgefeiert, hochjubiliert und über den grünen Kritikerklee gelobt werden, finden diese hier so gar nicht statt. Hab’s versucht, habe reingehört – just not my cup o’tea. (Dass jedoch weder die neue Platte von The War On Drugs, noch die von etwa The Notwist oder Mogwai – um nur eben die paar Beispiele zu nennen, welche mir gerade einfallen – Erwähnung finden, ist wohl vielmehr dem simplen Fakt geschuldet, dass ich bei all den tollen neuen Tönen des Musikjahres noch nicht zum Hören dieser Alben gekommen bin.) Andererseits findet mein persönliches Album des Jahres andernwebs (beinahe schon erschreckend) wenig Erwähnung. Verehrte Kritiker-Kolleg*innen – was’n da los?

An Luke Gruntz und Ian Fraser alias Cleopatrick kann’s keinesfalls liegen, denn die beiden Kanadier zerlegen mit ihrem Langspiel-Debüt „BUMMER“ in weniger als einer halben Stunde in bester Duo-Manier mal eben alles, was gerade noch unbehelligt im eigenen verranzten Proberaum in Coburg, Ontario im Weg stand. The Black Keys sind euch zu bluesmuckig? Royal Blood sind mittlerweile – und spätestens mit ihrem diesjährigen dritten Album „Typhoons“ – zu sehr in Richtung Indiedisco gehüpft? Bei den White Stripes hat die so schrecklich eintönig neben dem Beat trommelnde Meg White eh schon immer genervt? Dann sind diese zehn Stücke euer persönlicher Hauptgewinn! Im Grunde gibt’s über diese Platte im tiefen Dezember auch gar nicht mehr zu berichten als das, was ich knapp sechs Monate zuvor in meiner Review zum Ausdruck gebracht habe (oder zum Ausdruck bringen wollte). Das Ding rockt wie die im Lockdown ganz fuchsteufelswild gewordene Sau! Mehr juvenile, am Zeitgeist zwischen Blues’n’Indierock- und Hippe-di-Hopp-Gestus gewachsene Pommesgabel brauchte es 2021 nicht. Hat leider kaum ein grunzendes Nutztier mitbekommen, macht’s für mich selbst aber keineswegs schlechter. Geil, geiler, Cleopatrick on fuckin’ repeat.

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2. The Killers – Pressure Machine

Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 1: Brandon Flowers und seine Killers durfte man eigentlich – nach immerhin vier im Großen und Ganzen (n)irgendwohin musizierenden Alben zwischen 2008 und 2020 (also alle nach „Sam’s Town“) – schon ad acta legen. Umso überraschender, dass dem Bandkopf der Las-Vegas-Alternative-Poprocker ein solches qualitativ dichtes, tatsächlich zu Herzen rührendes Werk wie „Pressure Machine“ in den kreativen Schoß fiel, während Flowers – wie viele seiner Kolleg*innen auch – dazu verdonnert war, konzertfrei zu Hause herumzusitzen. Er machte das Beste daraus und zog sich gedanklich nach Nephi zurück, einem 5.000-Seelen-Örtchen im Nirgendwo von Utah, Vereinigte Staaten, wo er als zehn- bis 17-Jähriger lebte, bevor es ihn wieder in seine Geburtsstadt Las Vegas verschlug. Die daraus resultierenden Tagträumereien sind jedoch keineswegs biografisch verklärter Hurra-US-Patriotismus, sondern ein ehrlicher, scheuklappenfreier Tribut an die oft von der Gesellschaft vergessenen „einfachen Leute“, an ihre Leben, Lieben und persönlichen Geschichten. Dass diese irgendwo zwischen auf Balladeskes im Heartland Rock und – ja klar, gänzlich können es Flowers und seine drei Bandkumpane auch hier nicht lassen – schillernde Festivalhauptbühnendiscokugel pendelnden elf Songs ebenjene „einfachen Leute“ zwischendrin auch selbst zu Wort kommen lassen, macht das Gesamtergebnis eben nur noch dichter, tiefer und zu einem Konzeptwerk-Erlebnis, welches selbst die größten, wohlwollendsten Killers-Freunde anno 2021 kaum mehr erwartet haben dürften. Großes Breitwandformatkino für die Ohren.

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3.  Torres – Thirstier

Man einem Künstler, manch einer Künstlerin verleiht das Glück der Liebe ja keine kreativen Hemmschuhe, sondern vielmehr tönende Flügel – das beste aktuelle Beispiel dürfte Mackenzie Ruth „Torres“ Scott sein. Deren fünfte Platte bestätigt zudem, dass die im wuseligen Big Apple beheimatete US-Musikerin längst aus der Indie-Singer/Songwriterinnen-Sadcore-Nummer früherer Tage heraus gewachsen ist. Für die zehn Stücke von „Thirstier“ setzt sie auf raumgreifende Rock-Hymnen, welche selbst kleine Alltäglichkeiten immer etwas glänzender darstellen, als man sich das zunächst denken würde. „Before my wild happiness, who was I if not yours?“ konstatiert Torres beispielsweise in „Hug From A Dinosaur“. Oft genug stellt man sich beim Hören der Songs selbst die Frage: Wie schön – zum Himmel, zur Hölle – kann man bitte über die Liebe singen?!? Exemplarisch etwa das sanft startende und in einem fulminanten Feuerwerk endende fantastische Titelstück: „The more of you I drink / The thirstier I get“ – Zeilen fürs von Herzen umrahmte Poesiealbum, ebenso das Zitat aus dem manischen Finale des Albumabschlusses „Keep The Devil Out“, welches passenderweise die Auslaufenrillen der A- und B-Seiten der Vinylversion ziert: „Everybody wants to go to heaven / But Nobody wants to die to get there“. Bei Torres sind diese gefühligen Momente anno 2021 meist mit donner-dröhnenden Gitarrenteppichen unterlegt, die sich so mit ihrer mahnend bis sehnsüchtig-zerrenden Stimme verbinden, dass man nur jubilieren möchte: Endlich mehr Liebe, endlich mehr Epos! Ihr bisher gelungendstes Werk, ohne Zweifel.

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4.  Moritz Krämer – Die traurigen Hummer

Moritz Krämer macht mit „Die traurigen Hummer“ ein nahezu lupenreines „Moritz-Krämer-Album“ und beweist, dass er noch immer der besten bundesdeutschen Liedermacher ist. Dass dieses irgendwie ja vor dem zweiten Album „Ich hab’ einen Vertrag unterschrieben“ entstand? Dass der Berliner Musiker, den man sonst als ein Viertel von Die höchste Eisenbahn kenn kann, hier einmal mehr den Blick auf die abseitigen kleinen Alltagsmomente legt und für jene Sätze findet, auf die man selbst in abertausend Leben nicht gekommen wäre, die aber nun plötzlich ebenso richtig wie wichtig scheinen? Dass Krämer sich in den zehn Songs einmal mehr als wohlmöglich größter Kauz des deutschen Indie Pops erweist? Alles erfreulich, alles ebenso unterhaltsam wie kurzweilig, genau wie dieses Album.

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5.  Gisbert zu Knyphausen & Kai Schumacher – Lass irre Hunde heulen

Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 2: Gisbert zu Knyphausen, seines Zeichens – neben dem gerade erwähnten Moritz Krämer – ein anderer großer deutscher Liedermacher, und Kai Schumacher, mit Talent gesegneter Pianist und hier der andere kongeniale Part, kommen mit Neuvertonungen von Franz Schubert-Stücken ums Eck. Was im ersten Moment – und ohne einen der Töne von „Lass irre Hunde heulen“ im Gehörgang zu haben – anmuten könnte wie die nervtötende siebente Stunde im Deutsch- oder Musik-Leistungskurs, gerät überraschenderweise derart faszinierend, dass es eine wahre Schau ist. Gisbert zu Knyphausen und Kai Schumacher transportieren etwa 200 Jahre alte Stücke ins 21. Jahrhundert als wäre dieses Kunststück das kleinste der Welt. Romantik meets Moderne, und man selbst hört fasziniert träumend zu.

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6.  Biffy Clyro – The Myth Of The Happily Ever After

Mal Butter bei die Fische: Jene Band, die einst mit „Infinity Land“ und „Puzzle“ auch meinen eigenen musikalischen Kosmos im Sturm eroberte, gibt es längst nicht mehr. Sie wird wohl auch kaum mehr wiederkommen, da brauchen sich selbst innigst Hoffende wenig vormachen. Zu breit ist die Fanbasis geworden, die sich Biffy Clyro mit den darauffolgenden Alben in den vergangenen zehn Jahren erschlossen haben, zu mainstreamig fällt das Festival-Publikum aus, das die Headlines-Auftritte der drei Schotten mittlerweile besucht. Und doch gibt „The Myth Of The Happily Ever After“ endlich wieder berechtigten Grund zur Hoffnung – und all jenen die Hand, die einst Songs wie „Wave Upon Wave Upon Wave“ erlagen. Wenngleich Biffy Clyro recht wenig Interesse daran haben, die Uhren so weit zurückzudrehen. In Ansätzen gab bereits der letztjährige Vorgänger „A Celebration Of Endings“ den neuen Glauben an die Band zurück, allen voran durch den ruppigen Schlusstrack „Cop Syrup“. Aber erst sein in Lockdown-Eigenregie entstandenes Geschwister-Album, mit Fleisch gewordenem Alternative Rock in „A Hunger In Your Haunt“, einer Gänsehaut erzeugenden Verneigung vor einem zu früh verstobenem Freund in „Unknown Human 01“, der aufbäumenden Ehrerbietung für ein unterentwickeltes japanisches Rennpferd namens „Haru Urara“ und einem erneut aggressiv schäumendem Finale, lässt das 2016er Werk „Ellipsis“ endgültig als elektropoppigen Solitär in der Vita einer der größten und sympathischsten Stadionbands der Gegenwart erscheinen. Mon the Biff!

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7.  Sam Fender – Seventeen Going Under

Seventeen Going Under“, das Nachfolgewerk zu Sam Fenders bockstarkem Debütalbum „Hypersonic Missiles“ (welches seinerzeit, 2019, den Spitzenplatz der ANEWFRIEND’schen Jahrescharts erobern konnte), ist eine klassische Coming-Of-Age-LP. Der Musiker aus North Shields, einer kleinen Stadt im Nordosten Englands, berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Teenager, die oft genug von Angst, Wut und Problemen handeln – „See, I spent my teens enraged / Spiralling in silence“ wie es im eröffnenden Titelstück heißt. Trotz der sehr persönlichen Geschichten schafft es Fender, die Themen – schwierige Beziehungen mit Familie und Freunden, Umgang mit Erwartungshaltungen, Erfahrungen mit Alkohol und Gewalt, Gefahren toxischer Männlichkeit – universell zugänglich und nachfühlbar für alle Hörer*innen zu machen. So handelt „Get You Down“ davon, wie eigene Unsicherheiten Partnerschaften beeinflussen, oder „Spit Of You“ von der schwierigen Beziehung von Vätern und Söhnen. Aber auch seine politische Seite zeigt der Engländer wieder, wenn er etwa in „Aye“ seinem Ärger über die gegenwärtigen Zustände Luft macht und zu dem Schluss kommt: „I’m not a fucking patriot anymore, […] I’m not a fucking liberal anymore“. In eine ähnliche Richtung geht „Long Way Off“, in dem es heißt: „The hungry and divided play into the hands of the men who put them there“. Beim Sound wird Fender seinem Ruf als „Geordie Springsteen“ oder als einer Art „britischer Antwort auf The War On Drugs“ weitgehend gerecht. Klassischer, hymnisch orientierter Rock-Sound trifft in den elf Songs (in der Deluxe Edition sind’s sogar fünf mehr) auf treibende Gitarrenriffs und Saxofon-Einlagen, der jedoch wegen seiner kraftvollen Produktion und dem pumpenden Schlagzeug dennoch alles andere als gestrig tönt. Und: Der 27-Jährige und seine Band variieren und spielen auch – etwa, wie bei „Spit Of You“, mit Country-Einflüssen oder Piano-Balladen-Interpretationen („Last To Make It Home“ und „The Dying Light“). Fast ein bisschen experimentell klingt „The Leveller“ an, wenn sich hämmernde Drums mit Streichern auf Speed verbinden. Alles in allem mag „Seventeen Going Under“ zwar im ersten Hördurchgang nicht dieselbe Sogwirkung entwickeln wie der Erstling, geht jedoch dennoch als würdiger Nachfolger von „Hypersonic Missiles“ durch, der einen trotz der ernsten, gesellschaftskritischen Themen mit einem zwar melancholischen, jedoch durchaus guten Gefühl entlässt. Oder, wie Sam Fender es selbst recht passend zusammenfasst: „It’s a celebration of life after hardship, and it’s a celebration of surviving.“

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8.  Manchester Orchestra – The Million Masks Of God

Dass Manchester Orchestra, bei genauerem Hinhören seit einiger Zeit eine der faszinierendsten Bands im Alternative-Rock-Kosmos, kein Album zweimal schreiben, macht den Sound des US-Quartetts aus Atlanta, Georgia irgendwie aus und lässt ihre Werke bestenfalls zu von Hördurchgang zu Hördurchgang stetig wachsenden Klang-Kaleidoskopen werden wie das 2017er Album „A Black Mile To The Surface“. Auf „The Million Masks Of God“, seines Zeichens Langspieler Nummer sieben, entfernt sich die Band um Frontmann Andy Hull noch weiter von ihren frühen Emo-Rock-Einflüssen zugunsten eines poppigen, noch weiter aufgefächerten Indie-Sounds, der hier vor allem um Einflüsse aus Americana, Alt. Country und sogar Gospel erweitert wird. Wer’s böse meint, der könnte behaupten, dass es wohlmöglich das „amerikanischste Album“ sei, dass Manchester Orchestra je (oder zumindest bisher) geschrieben haben. So versetzt etwa „Keel Timing“ alle Hörer*innen direkt in eine Midwest-Szenerie, die einem einen Güterzug vors innere Auge pinselt. Wer noch mehr zu kriteln haben mag, der darf gern behaupten, dass dem Album in Gänze – zumindest im ersten Moment – jener „Pop-Approach“ fehlen mag, welchen einzig „Bed Head“, ein nahezu perfekt geschriebener Popsong mit hohem Suchtfaktor, liefert. Stattdessen verlagern Andy Hull und Co. das Faszinosum hier weiter ins Detail und hinein in die stilleren Töne, wenngleich es mit „The Internet“ auch einen kleinen Rückblick auf den Vorgänger „A Black Mile To The Surface“ gibt. Mit dem hat „The Million Masks Of God“ dann noch etwas anderes gemein: Einmal mehr benötigt ein Manchester Orchestra-Langspieler mehr Zeit, mehr Hördurchgänge, um zu wachsen, um in Tiefe wirklich erfasst werden zu können. Freunde der Band aus Zeiten vor dem ähnlich einnehmenden „Simple Math“ wird es jedoch wohl nur schwerlich begeistern können. 

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9.  Thrice – Horizons / East

Spätestens seit ihrer Rückkehr nehmen Thrice verlässlich Platten von großmeisterlicher Souveränität auf – „Horizons / East“ bildet da erfreulicherweise keine Ausnahme. Dass Frontmann Dustin Kensrue dieses Mal eindringlich von bröckelnden Gewissheiten singt, darf dennoch als Hinweis an alle durchgehen, die sich vor der Altersmilde einer ehemaligen Sturm-und-Drang-Band fürchten. Klar, behagliche Gitarren-Ströme beherrscht das US-Quartett genauso mühelos wie aufbrandende Refrains, das macht Songs wie das erst anmutig torkelnde und schließlich explodierende „Dandelion Wine“ oder die knackige Deftones-Hommage „Scavengers“ jedoch nicht weniger beeindruckend. Schuld daran sind Details in den Texturen – die verdrehten Riffs in „Scavengers“ etwa – oder rhythmische Haken, die den umliegenden Wohlklang bestenfalls schaumig schlagen. Andere Songs experimentieren stilistisch, „Northern Lights“ mischt zum Gefrickel unruhigen Bar-Jazz, „Robot Soft Exorcism“ wiederum integriert thematisch passend synthetische Sounds. Im Finale „Unitive / East“ lösen sich Thrice gar spektakulär in einer fluoreszierenden Soundpfütze auf, in welche ein klimperndes Piano tröpfelt – mit dem Versprechen, bald mit den Nachfolger „Horizons / West“ zurückzukehren.

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10. Julien Baker – Little Oblivions

„Everything I get, I deserve / You whisper to me ‚Don’t you like when it hurts?’…“ Niemand leidet so schön wie Julien Baker. Die Musik der Singer/Songwriterin aus Tennessee ist ein offenes Buch, das in wunderschönen Worten von Depressionen, Alkoholismus, Zweifeln an der eigenen Spiritualität und zerbrochenen Beziehungen erzählt. Schon auf ihrem 2015er Debüt kümmerte sich Baker herzlich wenig darum, geneigten Hörer*innen Oden von der Freude vorzuträllern – ist schließlich ihr Album, sind ihre Probleme, also ist all das ihre Therapie. Und all jene, die den Werdegang der mittlerweile 26-jährigen US-Musikerin genauer verfolgen, wissen: daran hat sich über die Jahre nichts – und wenn, dann lediglich in Detailfragen – geändert. Auch „Little Oblivions“, ihr nunmehr drittes Album, erzählt von recht ähnlichen Problemen in ebenso schönen Worten – und trifft einen damit erneut mitten ins Herz. Was sich allerdings geändert hat, ist die Art, wie Baker das Lecken ihrer Wunden musikalisch aufbereitet. Wo „Sprained Ankle“ und „Turn Out The Lights“ in ihrer Spärlichkeit und desolaten Klanglandschaften fast schon nihilistisch wirkten (was umso ironischer gerät, wenn man weiß, wie offen Julien Baker ihren Glauben zur Schau stellt), erklingen in „Little Oblivions“ erstmals detaillierte, organische Orchestrationen, die den tröstenden Silberstreifen verbildlichen, der sich im Laufe der Platte immer wieder flüchtig manifestiert. „Little Oblivions“ beschreibt diesen Moment, sucht danach – und macht darin am Ende doch vieles wieder kaputt. Man lausche nur dem fulminanten Finale von „Hardline“! Baker findet immer wieder kurz Halt, nur um erneut vom destruktiven Strudel aus Selbstzweifeln und der schlichten Unfähigkeit, glücklich zu sein, hinabgerissen zu werden. „It doesn’t feel too bad / But it doesn’t feel too good either“ – Ihre Songs sind bittersüße Umarmungen, ein wohltuendes Bad in den eigenen Tränen, das auf „Little Oblivions“ mehr denn je dazu einlädt, kopfüber einzutauchen, während Julien Baker einem klammheimlich das Herz aus der Brust reißt. Katharsis und Destruktion, Erlösung und Zweifel lagen 2021 selten näher beieinander. 

…auf den weiteren Plätzen:

Kevin Devine – Matter Of Time II mehr…

Jim Ward – Daggers mehr…

Slut – Talks Of Paradise

Danger Dan – Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt mehr…

Wolfgang Müller – Die Nacht ist vorbei mehr…

Rock and Roll.

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Song des Tages: Sam Fender – „Seventeen Going Under“


Foto: Promo / Jack Whitefield.

Fast zwei Jahre sind vergangen, seit Sam Fender aus dem beschaulichen North Shields, UK mit seinem Debüt-Album „Hypersonic Missiles“ die Spitze der UK-Charts (und auch der ANEWFRIEND’schen Jahrescharts) stürmte. Sein Leben ist seitdem ein anderes. Als Opener für große Namen wie Hozier oder Michael Kiwanaku sammelte der 27-jährige britische Musiker Bühnenerfahrung, reiste – so es denn möglich war – durch die Weltgeschichte und arbeitete an neuer Musik.

Mit seinem kommenden Album „Seventeen Going Under“ blickt Fender nun zurück auf seine Vergangenheit. Auf einen Lebensabschnitt, in dem die Welt gleichzeitig so offen und so verschlossen wirkt wie in kaum einem anderen. Auf eine endende Jugend in einer Stadt, in der er sich nicht selten gefangen gefühlt hat. In „Seventeen Going Under“ hält der Musiker, dessen Songs ANEWFRIEND seinerzeit als „die Frontmänner von The Gaslight Anthem und The Killers treffen sich im englischen Pub zum schwarzhumorigen Springsteen-Tribute-Abend“ beschrieb, sich radikal den Spiegel vor und zelebriert den Übergang von der Jugend ins Erwachsenenleben.

Nach einer durchaus interessanten Metallica-Coverversion gibt es bereits jetzt das Titelstück des zweiten Langspielers zu hören. Dass North Shields, Fenders im englischen Nordosten gelegener Heimatort, auch als Schauplatz für das Video des namensgebenden Albumtitels dient, verwundert dabei kaum, bildet die 10.000-Einwohner-Stadt doch einen ständigen Bezugspunkt für die Musik des jungen Songwriters. Hier verbrachte er seine eigene Jugend, sammelte seine eigenen Geschichten und Erfahrungen. Und um genau die geht es in „Seventeen Going Under“. Der Song handelt von verlorener Unschuld und gewonnener Freiheit, von Drogen und Faustkämpfen, von Liebe, Wut und Verzweiflung. Eine explosive Hymne auf die ambivalente Nostalgie der Adoleszenz.

„Seventeen Going Under“, das für den 8. Oktober 2021 angekündigte Album (dessen Coverartwork – ob nun gewollt oder nicht – optisch eine recht deutliche Reminiszenz an Springsteen’sche Großtaten darstellt), dürfte persönlicher ausfallen als der nicht selten unverhohlen gesellschaftskritische 2019er Vorgänger „Hypersonic Missiles“. Nicht zuletzt durch die Zeiten der Isolation während der Pandemie, sagt Fender im Interview mit „Radio X“, hinterfragte er, wo er steht, wo er herkommt, und wohin es weiter geht. Als „eine Coming-of-age-Story“ beschreibt er sein neues Album. Als einen „Lobgesang auf das Leben nach der Not, einen Lobgesang auf das Überleben“. Passend dazu hat hat er einen offenen Brief an sein 17-jähriges Selbst geschrieben, in dem es unter anderem heißt:

“Hey Sam, it’s Sam from the future. You’re probably wondering how I’ve mastered the art of time travel, and you’re definitely fantasizing about some neo-futuristic alternate universe that looks like a cross between Star Wars and Blade Runner. Don’t build your hopes up – phones get a bit better and the internet is an even bigger cesspit than it was then.

Und weiter schreibt Fender:

“17 is when all the challenges begin: you’re not a baby, but you’re definitely not an adult (turns out that bit takes a lot longer than you think). I’m not even sure it’ll happen at all for you, but growing up is for fools and the near dead, so stop being so serious all the time. Right now I’m imagining you on the back step of Mam’s flat on Verne Road in North Shields, smoking some shite baccy, blasting Revolver out of that sketchy CD player at such an obnoxious level that it reaches you in the backyard – and every neighbour in a square mile (if you look hard enough through your brother’s collection you’ll find a copy of Revolver where ‘She Said She Said’ doesn’t skip).”

Rock and Roll.

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Der Jahresrückblick – Teil 1


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Was für Musik braucht man in einem Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf die Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie Schlechte – für Momente vergessen lässt. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2019 einmal mehr wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

 

sam fender1.  Sam Fender – Hypersonic Missiles

Knapp zwei Jahre lang hätte Sam Fender auch gut als Spiegel für das musikalische Konsumverhalten der ADHS-geschädigten breiten Masse herhalten können. Wer braucht schon noch Alben, wenn der Künstler des Vertrauens reihenweise Songs raushaut, die sich via Spotify und Co. doch allzu hervorragend in die persönliche Playlist integrieren lassen? Anders hier: Die elf zwischen 2017 und dem Erscheinungstag von „Hypersonic Missiles“ im September diesen Jahres veröffentlichten Stücke (von denen sich schlussendlich nicht einmal alle auf dem Album wiederfinden) waren vielmehr ein wahres Appetizer-Festival und so etwas wie die Deluxe Edition eines erwartungsfreudigen Spannungsbogens. Parallel zur Release-Strategie ließ sich eine immens wachsende Fanschar ausmachen, die den Newcomer im Londoner Hyde Park auf dieselbe Bühne mit Größen wie Bob Dylan oder Neil Young spülte. Was summa summarum nach Hype müffelt, mag wohlmöglich auch einer sein. Aber wenn, dann ist es im doch recht schnelllebigen Pop-Rock-Bizz einer berechtigtsten der vergangenen Jahre. Potential? En masse vorhanden.

Oder reiten Sam Fender und seine Band doch vielmehr auf der Retro-Welle? Schließlich reichen schon ein paar Töne zu Beginn des Albums, um Fenders Vorliebe für Bruce Springsteen als fast schon schamlos direkte, ehrwürdig inszenierte Verbeugung im Soundbild zu identifizieren. Die Saxophon-Soli im eröffnenden Titelstück und in „You’re Not The Only One“ fungieren als unverhüllte Hommage an den großen Clarence „Big Man“ Clemons – bis zu seinem Tod 2011 jahrzehntelang Springsteens wohl wichtigstes Puzzle-Stück in der berühmt-berüchtigten E Street Band – und sind gerade im Dialog mit dem Glockenspiel und der leicht zeternden E-Gitarre ein untrügliches Zeichen für expliziten Boss-Content. Der straighte Beat mit Achtziger-Touch in „The Borders“ und die Geschichte über unglückliche, zerrüttete und zerrissene Familien lassen sich als eine klangliche Addition zu Evergreens wie „Dancing In The Dark“, „Bobby Jean“ oder „No Surrender“ hören, während die Gedanken spätestens im ausgedehnten Outro (und vor allem der stellenweise doch recht flächigen Produktion wegen) zu The War On Drugs‘ „A Deeper Understanding“ wandern. Der feine, dezent hibbelige Unter-drei-Minuten-Ohrwurm “Will We Talk?“ hingegen könnte auch unter den Bannern New Jersey meets Newcastle oder Springsteen meets The Strokes‘ „Last Nite“ stehen – eine Wiederaufführung des altbekannten Dramas der verlorenen Jugend, jedoch eine mit neuer Dringlichkeit.

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Fest steht, erfreulicherweise: Samuel Thomas Fender hält dem Erwartungsdruck über den ersten (Ohren-)Eindruck hinaus problemlos Stand. Er ist nicht nur ein (weiterer) bleichgesichtiger Justin-Bieber-Lookalike-Hansel mit Gitarre, dem von irgendwelchen findigen PR-Managern ein leidlich interessanter Lebenslauf samt veritablen Referenzpunkten angedichtet wurde. Live ohnehin nicht. Wie er mit seinen Band-Lads agiert, unachtsam-juvenil die eigenen Stimmbänder strapaziert und sich am Ende verdutzt fragt, warum sich plötzlich so viele Menschen für einen 25-Jährigen aus North Shields im Nordosten Englands interessieren, der sich – ganz englisches Klischee – bis vor Kurzem noch mit dem Zapfen von Pints hinter dem lokalen Pub-Tresen über Wasser hielt, das besitzt schon ein gewisses Maß an unaufgesetztem Charme. Die Live-Version von „Use“ (oder eben zig im reduzierten Ambiente aufgenommene Live Sessions bei YouTube und Co.) dient insofern als Beleg, dass Sam Fender, lediglich vom Keyboard oder seiner E-Gitarre begleitet, durchaus in der Lage ist, dem Hörer auf beeindruckende Weise Volumen und Bandbreite seiner Stimmbänder um die Ohren zu pfeffern.

Ebenso erfreulich: Bei genauerem Hinhören überzeugt der junge Brite auch textlich. So hält er schlagenden Vätern und tablettenabhängigen Müttern ebenso den trüben Alltagsgrau-Spiegel vor wie der Masse von traditionell zum nächstbesten Absturz wankenden Binge-Trinkern („Saturday“). Das sinistre „Play God“ zeichnet autokratische Allmachtsfantasien, und seine ungefilterten Wahrnehmungen im beatlosen „White Privilege“ reichen von einer zur Kleingeistigkeit verdammten Generation über digitales Meinungszerfleischen bis hin zu den “old cunts“, die gemeinsam mit ihrer Upper-Class-Mischpoke und einer Horde aus tumben „Yes!“-Brüllern den Brexit (und dessen Chaos) verbockt haben: „The patriarchy is real, the proof is here in my song / I’ll sit and mansplain every detail of the things it does wrong / ‚Cause I’m a white male, full of shame / My ancestry is evil and their evil is still not gone“. Als zackiger Hit verpackt, thematisiert Fender zu treibenden Gitarren in „Dead Boys“ (welches bereits der 2018er Debüt-EP ihren Titel gab) die Ignoranz gegenüber der hohen Selbstmordrate junger Männer in seiner Heimat. Er, der selbst Freunde durch Suizid verlor, führt in der Herleitung mit „toxic masculinity“ einen Begriff aus der Soziologie an, dem er bereits im vergangenen Jahr auf „Friday Fighting“ Beachtung schenkte: „We close our eyes, learn our pain / Nobody ever could explain / All the dead boys in our hometown“. Fazit? In Indierock eingelegte Gänsehaut.

Sam Fender ist weder Problemlöser noch Analytiker, sondern aufgewühlter Beobachter und Zeichner von Verzweiflung. Irgendwo zwischen Herz, Hirn, Seele und Arschtritt treffen zwischenmenschliche Geflechte und Pub-Talk auf geo-, sozio- und gesellschaftspolitische Themenkomplexe. So wohnt dem Namenspatron der Platte, „Hypersonic Missiles“, ein morbider Zauber inne. Während die Welt unter Raketenbeschuss zugrunde geht, blüht die Beziehung zweier Liebender auf. Fender selbst bezeichnet das Stück als eine verkappte Liebesgeschichte: „This world is gonna end but ‚til then I give you everything I have“ – ein Boss-Move galore (ebenso übrigens wie die augenzwinkernde Behauptung des 2019er Senkrechtstarters, mit seinem Langspiel-Debüt so etwas wie „eine Emo-Version von ‚Darkness On The Edge Of Town‘“ im Sinn gehabt zu haben). Nach den rauschhaften Rocknummern und einem dicken Paket an Hits versteckt der Mittzwanziger zum Ende des Debüts in „Leave Fast“ einmal mehr eine seiner springsteen’schen Fluchtpunktperspektiven. Hieß es anno dazumal beim US-Vorbild noch „We gotta get out while we’re young“ oder „It’s a death trap, it’s a suicide rap“, singt Sam Fender nun mit Blick auf seine politisch vernachlässigte Kleinstadt und Heimat „Leave fast or stay forever“. Entkontextualisiert bitte letzteres. Denn obgleich Sam Fender – zum Glück – kein Kaschemmen bespielender Geheimtipp mehr sein mag, so ist der Brite doch ein gern angenommenes Geschenk. File under: Die Frontmänner von The Gaslight Anthem und The Killers treffen sich im englischen Pub zum schwarzhumorigen Springsteen-Tribute-Abend. Rein zufällig würde man Sam Fender denn noch genau zwischen ebenjene Brian Fallon und Brandon Flowers ins Albumregal einsortieren… Aber an Zufälle glaube ich sowieso nicht. Von daher: (m)ein verdientes Album des Jahres.

 

 

thees uhlmann2.  Thees Uhlmann – Junkies und Scientologen

Die Schönheit der Chance: Thees Uhlmann musste erst seine Begleitband neu durchmischen, musste erst ein missglücktes Album in die Studiotonne werfen, damit ihm „Junkies und Scientologen“ gelingen konnte – und das ist mit seinem Töne gewordenen Lebenshunger und Optimismus, mit seinem Füllhorn an verschmitzten popkulturellen Anspielungen eine der zweifellos wichtigsten (deutschsprachigen) Platten des Jahres. Klingt 2019 sonst – und selbst beim Radiopop von Abwegig-Popsternchen Billie Eilish („bad guy“) – allzu oft hülsenreich bedeutungsgeschwängert, ernst und schwer, so geht „Uhlo“ auf seinem dritten Solo-Album, auf das seine Fans geschlagene sechs Jahre warten mussten, viele Dinge wieder etwas anders an, bringt – nach dem tollen Einstieg „Fünf Jahre nicht gesungen“ – schon in den ersten vier Stücken drei popkulturell gefärbte Liebeserklärungen – und sprechsingt in bekannt-unnachahmlicher Manier in „Danke für die Angst“, „Avicii“ und „Was wird aus Hannover“ nicht nur über den (ohnehin gerade oft Tribut gezollten) Horror-Kultautor Stephen King, den im vergangenen Jahr jung verstorbenen schwedischen Pop-DJ und die niedersächsische Landeshauptstadt (als Metapher für bundesdeutsche Verdienstrocker wie die Scorpions), sondern das Leben an sich als stetig buntes Wunder (der kaum weniger tolle, gleichsam sympathische Gisbert zu Knyphausen brachte es vor ein paar Monden mit der Zeile „Die Welt ist grässlich und wunderschön“ auf ebenso treffliche Weise auf den Punkt) Ob in Dur oder in Moll, in melancholischen Balladen oder enthusiastischem Indierock, ob in der Spingsteen’esken Musik-Lobpreisung „100.000 Songs“ oder dem stillen Nachruf „Menschen ohne Angst wissen nicht, wie man singt“: Überall blickt Uhlmann mit so viel Wärme und Mitgefühl auf das Leben, schüttelt locker, beschwingt, federleicht und selbstsicher die Hits und Punchlines aus den Ärmeln seines GHvC-Longsleeves, dass sich am Ende jede noch so gedehnte Silbe und jeder hemdsärmelig-ehrlich zurechtgebogene Reim absolut richtig, absolut gelungen anfühlt. Zumal „Junkies und Scientologen“ zwar von der erhabenen Alltagsphilosophie des Musikers, der 2015 mit „Sophia, der Tod und ich“ auch unter die Romanautoren ging, lebt, dazwischen aber immer wieder klare Haltung aufblitzt: die Leadsingle, das sechsminütige Titelstück oder das im Grunde doch recht alberne „Katy Grayson Perry“ lassen in nur wenigen Worten durchblicken, was von Nationalismus und Misogynie zu halten ist – ein Mittelfinger mit Herz(chen). So ist „Junkies und Scientologen“ nicht nur Uhlmanns bisher gelungenster Alleingang (der obendrein in der erweiterten Version noch mit feinen Coverversionen von Künstlerinnen wie Sophie Hunger oder Judith Holofernes punktet), sondern irgendwie auch wie ein Kneipenabend mit einem alten Freund: Danach mag zwar noch immer derselbe nasskalte Herbstregen auf einen hinab prasseln, aber die Welt, sie fühlt sich ein kitzekleines Stückchen sonniger und heiler an.

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better oblivion community center3.  Better Oblivion Community Center – Better Oblivion Community Center

Sollte heutzutage noch jemand Liebeskummer haben oder an gepflegten Selbstzweifeln laborieren, so sind Conor Obersts Bright-Eyes-Veröffentlichungen von „Letting off the Happiness“ bis mindestens „Cassadaga“ nach wie vor eine gute Soundtrack-Adresse. Doch die Zeiten sind komplizierter geworden, und auch Oberst selbst, mittlerweile eigentlich teenage angst-ferne 39 Lenze alt, strauchelte in den letzten Jahren mit mal feinen, mal jedoch auch mittelmäßigen Soloalben oder recht altbacken dadrockenden Americana-Projekten – auch wenn jüngst mit der zusammenhängenden Doppel-Veröffentlichung von „Ruminations“ und „Salutations“ die Alt.Country-meets-Indiefolk-Formkurve wieder nach oben zeigte (ersteres war anno 2016 gar ANEWFRIENDs „Album des Jahres“). 

Nun hat das „Wunderkind mit Reifegrad“ ausgerechnet in der 25-jährigen Songwriterin Phoebe Bridgers (s)eine gleichgesinnte Seele und Duettpartnerin gefunden – ebenjene Phoebe Bridgers, auf deren herausragendem Debüt-Longplayer „Stranger In The Alps“ er bereits bei der einsamen Nummer „Would You Rather“ zu hören war und die zuletzt mit dem boygenius-Projekt an der Seite von Lucy Dacus und Julien Baker überzeugen konnte. Gemeinsam stecken die beiden unter dem nebulös-vielsagenden Banner Better Oblivion Community Center das Feld zwischen Emo-Folk und Indierock neu ab, und anstatt wieder einmal die Mundharmonika hervor zu kramen, setzen sie bei „Exception To The Rule“ auch mal Synthies ein oder verschleppen bei „Sleepwalkin’“ die Gitarrenakkorde. Während Oberst hier an alte Glanzleistungen anknüpfen kann, ist es Bridgers, die mit einer ganz neuen Wandelbarkeit begeistert. In „Big Black Heart“ schreit sie sich das titelgebende schwarze Herz aus dem Leib. Im Kontrast dazu steht der Opener „Didn‘t Know What I Was In For“, in dem sie so einsam und verlassen wie der letzte Mensch auf der Welt klingt. Bei der durchaus fuzzig-hittigen Single „Dylan Thomas“ ist dann auch noch Yeah Yeah Yeahs-Saitenmann Nick Zinner an der Gitarre dabei, und selbst wenn die Ballade „Chesapeake“, welche Phoebe Bridgers als zarte Duett-Partnerin zeigt, die sich mit ätherischen Harmonien wie eine beruhigende Warmfläsche an Conor Obersts nervöse Stimme anschmiegt, nach dem ein oder anderen Tränchen verlangt und sich die Texte immer wieder in der Beschissenheit der Gegenwart verfangen, haben die beiden doch auch kleine Auszeiten eingebaut. Ganz zum Schluss heißt es in „Dominos“ sogar „If you’re not feeling ready, there’s always tomorrow“. Ergibt schon Sinn, dass Oberst und Bridgers ihr Bandprojekt Better Oblivion Community Center nennen und es zur Hauruck-Veröffentlichung im Januar gar mit mit einer fingierten Infobroschüre samt Hotlinenummer bewarben. Dieses Update schadet der alten Bright-Eyes-Sammlung auf keinen Fall, und der (beileibe nicht unkritische) olle Conor-Oberst-Ultra in mir jubiliert ohnehin einmal mehr.

 

 

steiner & madlaina4.  Steiner & Madlaina – Cheers

Schon bemerkenswert, was Nora Steiner und Madlaina Pollina, jüngere Schwester von Julian „Faber“ Pollina, da auf ihrem gemeinsamen Album „Cheers“ auf die Schweizer Beine stellen. Und selbst, wenn der scheinbar mühelos zwischen Stimmungen und Genres changierende Zehnerpack an Songs bereits 2018 erschien, so bleibt unterm Strich eines meiner liebsten (Herbst)Alben des Musikjahres. Hört, hört!

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greet death5.  Greet Death – New Hell

Wie ich vor einigen Wochen schrob: „Obwohl ‚New Hell‘, Great Deaths so unerwartet wie unverhofft grandios mit schwerem Herzen daher rockender zweiter Albumstreich, stellenweise recht introspektiv und keineswegs leichter Tobak ist, wurde schöner länger nicht mehr in aschfahl schimmernden Herbstdepressionsgewässern gebadet. Sollte man gehört haben!“

Stimmt natürlich immer noch. Dieses Ungeheuer von Album kam krachend durch die Tür, hat mich in seine Krallen genommen und bis jetzt nicht wirklich losgelassen. Greet Death, die Band dahinter, rückt aber auch jeden Knopf, der mich potentiell anmachen könnte: Emo, Indie Rock, Shoegaze, Post Rock – und dann alles einfach mal in einen Topf voll mit tiefstem Schwarz getaucht. Denn viel Sonne? Kommt hier nicht durch. Am meisten beeindruckt dabei die Wandlungsfähigkeit: Vom schweren Opener „Circles Of Hell“ (puh) zur leisen Folk-Ballade „Let It Die“ (uff) bis hin zum Fast-Popsong „Do You Feel Nothing?“ (verdammt) und dem übergroßen „You’re Gonna Hate What You’ve Done“ (jeez). Dauerschleife seit Release, mit Tendenz zum Grower über alle Maßen. Und belegt daher, als Album, in das man sich Hals über Kopfhörer fallen lassen kann, als überraschender Späteinsteiger einen verdienten vorderen Platz in den Langspieler-Bestenliste. Geheimtipp des Jahres.

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tool6.  Tool – Fear Inoculum

Die unmögliche Platte. Der BER würde früher fertiggestellt sein als dieses eine Album, hieß es. Axl Rose wäre bereits neidisch, hieß es. Dreizehn Jahre nach „10,000 Days“, als wirklich niemand mehr tatsächlich daran glaubte, gaben uns Tool: den Rest, das Maximum, die neuste, die eventuell endgültige Selbstverortung. Und das Album, das sich langfristig vielleicht nicht als ihr bestes, dafür jedoch als jenes mit dem größten Tool-Trademark-Faktor erweisen wird – ihre Visitenkarte ab sofort, wenn man so mag. 

Nach allem, was zum fünften Album der zweifellos wichtigsten Band des Alternative Metal geschrieben wurde – nicht zuletzt in all den Jahren bevor „Fear Inoculum“ tatsächlich erschien -, sucht man instinktiv nach einem der weniger ausgelatschten Pfade, um sich den fast 90 Minuten zu nähern. Zum einen holt einen das Album genau da ab, wo Tool 2006 den letzten Ton auf Band gespielt hatten. Ein klares Soundkonzept, so archaisch und selbstbestimmt wie in den ersten Momenten von „Sober“ oder den letzten von „Rosetta Stoned“, ohne aufgeblasene Production Values und übermäßige technische Kosmetik. Alles, wirklich alles auf „Fear Inoculum“ ist Handwerk, so bestechend, dass einem die kleinen Ungenauigkeiten, die diese Band nie durch Quantisierung glattbügeln würde, die Haare zu Berge stehen lassen. Das vielschichtige Schlagzeugspiel, die mittenlastige Gitarre, der wuchtige Bass: Das, was den Sound von Tool so ikonisch, so unverwechselbar macht, ist seine Konsequenz. Leicht haben es sich Danny Carey, Adam Jones und Justin Chancellor dabei nicht gemacht. Die sorgfältig gebauten Prog-Spannungsbögen, die sie ihrem Sänger zu Füßen legen, nimmt Maynard James Keenan mit bis dato ungehörter Disziplin und Eleganz auf (wenngleich sich der oberflächlich kreative Anteil des seit eh und je enigmatischen Frontmanns auf den neusten Stücken etwas geringer als noch auf früheren Werken gestaltet). 

Klar: Eine Band, die in 29 Jahren gerade einmal fünf Alben veröffentlicht, aber trotz alledem als eine der relevantesten Metal-Bands des Universums und als lebendes Gesamtkunstwerk gefeiert wird, sklavisch verehrt wird von (s)einer Heerschar von Die-Hard-Fans, die sich auch exorbitante Preise für die audiovisuellen Leckerbissen eines Tool-Artworks vom Munde absparen, konnte mit „Fear Inoculum“ musikalisch nicht wirklich etwas falsch machen. Allen Unkenrufen zum Trotz ist das Album trotzdem genau das monströse Meisterwerk geworden, das man sich gewünscht hat. Und ebenjenes wird wohl mindestens 10.000 Durchgänge benötigen, um es im Ansatz zu begreifen…

 

 

amanda palmer7.  Amanda Palmer – There Will Be No Intermission

Um gar nicht erst den Anschein von Mansplaining zu erwecken – niemand mit Y-Chromosom kann einschätzen, was sich wie für eine Frau ändert, wenn sie Mutter wird. Im Falle von Amanda Palmer ermöglicht ihr drittes Soloalbum (das erste seit 2012, obwohl die Ex-Dresden-Dolls-Frontfrau andererseits keine wirkliche Kreativpause kennt) aber zumindest eine vage Vermutung.

Dass Palmer auf „There Will Be No Intermission“ über Themen wie Fehlgeburten, Abtreibungen und den Verlust von Freunden an das alte Arschloch Krebs auch aus eigenen Erfahrungen berichtet, sollte die wenigsten Fans und treuen Patreon-Unterstützer schockieren. Schließlich gehört sie zu jenen Künstlerinnen, die aus ihrem Privatleben und ihren innersten Gedanken nie einen Hehl machten, wie Unmengen von Tweets, Blog-Einträgen und Video-Tagebüchern ebenso zeigen wie das reine Ausmaß der oft autobiographischen Geschichten, die auf diesem nicht eben einfach zu hörendem Werk erzählt werden: Mehrere dieser epischen Diskurs- und Klagelieder knacken (fast) die Zehn-Minuten-Marke, einige davon sind recht monoton und karg mit Ukulele instrumentiert, als könnte der Drang, zu erzählen, kein großes Brimborium und keine ausgefeilten Songwritingprozesse abwarten.

So ist „Drowning In The Sound“ einer ebenjener liebgewonnenen Amanda-Palmer-Standards mit Stakkatoklavier und dramatischer Phrasierung, „The Thing About Things“ wiederholt das gleiche Prinzip an der Ukulele, bevor sich der Song zur Hymne aufbäumt. Ihre teils fast schon zynische Leichtfüßigkeit kann Palmer dennoch nicht ganz einbüßen: In „A Mother’s Confession“ lässt sie einen ganzen Frauenchor schmettern, dass trotz aller Probleme und Fehlerchen immerhin das Baby noch nicht tot sei; die Angst vor der Unberechenbarkeit des Lebens mit einer Zeile wie „Suicide, homicide, genocide – that’s a fuckton of -cides to choose from“ auszudrücken, würde auch nicht jeder einfallen – doch auch deshalb wird die 43-jährige Herzblut-und-Herz-auf-der-Zunge-Indie-Musikerin von ihrer Hörerschaft mit Haut und Haar geliebt. Im Gegensatz zu (insbesondere) den frühen Dresden-Dolls-Werken geschieht dies jedoch immer öfter in einem gemächlichen Dreivierteltakt und – bis auf Zoe Keatings Cello in „Bigger On The Inside“ – mit Fokus auf dem Piano (oder eben der Ukulele).

Mit dem Stream-of-consciousness-Mammutwerk „There Will Be No Intermission“ festigt Amanda Palmer endgültig ihre Stellung als Grande Dame in ihrem Genre (welches das auch immer sein mag). Nur der Albumtitel „There Will Be No Intermission“ stimmt hinsichtlich der vielen kleinen filmsoundtrackhaften Interludes, die Melodiefragmente oder Textzeilen der Songs aufgreifen, wohl nicht ganz. Mit diesen reizt die Platte die klassisch-altmodischen 80 Minuten Speicherkapazität einer CD fast komplett aus – und das, ohne – fernab von Easy Listening – an irgendeiner Stelle je zu langweilen.

 

 

last train8.  Last Train – The Big Picture

Hört man die Songs von Last Trains zweitem Album „The Big Picture“, so würde man diese durchaus rauschhaft-wilde, im besten Sinne gleichsam jung wie befreit aufspielende Rock-Orgie leichtfertig irgendwo zwischen San Francisco, Seattle, Manchester, Chicago und Down Under verorten, jedoch kaum in einer 100.000-Einwohner-Stadt im Elsass. Auch (und gerade!) deshalb ist das erstaunlich junge Quartett Frankreichs formidabelste Rockband des Musikjahres. Pas de discussion, sans doute!

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faber9.  Faber – I Fucking Love My Life

Im Jahr 2017 veröffentlichte der Schweizer Faber mit „Sei ein Faber im Wind“ sein Debüt, das Polka und Blechbläser mit kontroversem, bissigem Songwriting verband (und absolut zurecht ANEWFRIENDs „Album des Jahres“ wurde). Die einen lobten Julian Pollina in den Himmel, andere sahen in ihm nur einen Provokateur, der es verstand, seine Musik ins Scheinwerferlicht zu rücken (und überhörten somit dessen kluges Zerrspiel mit anderen Identitäten).

Zwei Jahre später liefert Faber nun den mit Spannung erwarteten und in Gänze deutlich reiferen, experimentelleren Nachfolger „I Fucking Love My Life“. Dort wettert er zwar immer noch am liebsten gegen die Millennials, Social Media und den Abstieg ins Spießbürgertum, aber die musikalische Untermalung kommt um einiges vielseitiger ums Eck: teils nur mit Akustischer („Ihr habt meinen Segen„), dann wieder mit größenwahnsinnigem Nölen, Streichern und Piano erforscht Faber die eigene Bandbreite und die seiner Band. Lange im Kopf bleiben Zeilen wie „Ich hab‘ mehr Highlights im Gesicht als im Leben“ oder auch „Ich würd‘ gerne Immobilienhaie fischen aus dem Zürichsee mit dir“ (und freilich die Kontroverse um den Vorab-Song „Das Boot ist voll„). Das Albumcover zeigt ihn im Stile eines Paparazzi-Schnappschusses im Morgenmantel mit Goldkettchen und Kippenschachtel – Großkotzigkeit, Mummenschanz und Ironie gehen bei Julian „Faber“ Pollina auch 2019 Hand in Hand.

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future teens10.  Future Teens – Breakup Season

„Breakup Season“ macht in der Tat auch all jenen mächtig Laune, die ihren Alltag längst jenseits der herzschmerzenden Zwanziger verbringen. „Bummer Pop“ nennen Future Teens, das aus Boston, Massachusetts stammende Viergespann, das Ganze dann. Und liefern mit den zehn Songs ihres zweiten Albums den wohl schönsten, himmelhoch heulenden Herzensbrecher-Indierock in der Tradition von Klassikern wie etwa Weezers „Pinkerton“, den man in diesem Herbst finden konnte. It’s breakup season, y’all!

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…und auf den weiteren Plätzen:

Various Artists – Tiny Changes: A Celebration of Frightened Rabbit’s ‚The Midnight Organ Fight‘ mehr…

BRUTUS – Nest mehr…

La Dispute – Panorama

The National – I Am Easy To Find mehr…

Enno Bunger – Was berührt, das bleibt. mehr…

Noah Gundersen – Lover mehr…

Frank Turner – No Man’s Land mehr…

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
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