The Rolling Stones – Hyde Park Live (2013)
Es soll ja Bands geben, die – längst, überhaupt und sowieso – über jeglichen Zweifel erhaben sind. Die Beatles sind eine davon, die Rolling Stones eine andere. Natürlich mag manch scharfzügiger Kritiker nun notorisch die Hand des Einwands erheben und herumkritteln, dass auch diese Gruppen lediglich aus leidlich inspirierten Kopisten bestanden. Aber mal ehrlich: Wenn man hier schon Steine des Anstosses setzt und John and Paul (also: Lennon und McCartney) und Mick n’Keef (also: Jagger und Richards) als mäßig begabte Rhythm-and-Blues-Diebe tituliert, was bitteschön hält eben jene Nörgler dann noch davon ab, sich nach Sekunden des Lauschens von Beispielen der heutigen popmusikalischen Szene die Trommelfelle ein für alle Mal taub zu pusten? Nein, selbst bei Wahrung von größtmöglicher Objektivität (insofern so etwas in künstlerischen Gefilden je existiert haben sollte) muss man neidlos feststellen, dass – von allen Bands und Künstlern des 20. Jahrhunderts – wohl eben diese „Big Two“ die Zeit überdauern werden. Väter spielen Alben wie „Exile On Main Street“ oder „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band
“ vertrauensvoll ihren Kindern vor. Großväter lauschen mit ihren Enkel Klassikern wie den unvermeidlichen „(I Can’t Get No) Satisfaction“ oder „Yesterday“, und erzählen mit stolzgeschwellter Brust und einem Funkeln in den Augen von den fernen, großartigen Tagen ihrer Jugend. Bach? Beethoven? Beatles! Stones! Doch wo Erstere sich 1970 trennten und spätestens zehn Jahre darauf mit dem gewaltsamen Tod ihres – freilich inoffiziellen – kreativen Masterminds John Lennon alle Reunion-Pläne ad acta legten, spielen die Rolling Stones noch heute. Freilich nagt selbst an Mick Jagger, Keith Richards, Ronnie Wood und Charlie Watts der stete Zahl von Zeit und Alter, aber deshalb verstummen? Keinen Bock darauf, ehrlich!
Und wieder meldet sich der stete Kritiker: Was bitte haben die Stones denn noch zum musikalischen Kanon des 21. Jahrhunderts beizutragen? Ist es nicht so, dass dieser „Altherrenverein des Rock’n’Roll“ seit gefühlten drei Jahrzehnten alle paar Jahre eine Welttournee ankündigt, von der flux behauptet wird, dies sei „nun definitiv ihre allerletzte Abschiedstournee aller Zeiten“? Ist es nicht so, dass das rockende Greisenquartett mittlerweile in privater Dysharmonie ausschließlich getrennte Wege geht und nur noch für den großen Bühnenreibach, der ihnen das sündhaft teure Lotterleben finanzieren soll, zusammen findet? Ist es nicht so, dass „Mick’n’Keef“ seit dem letzten, 2005 erschienenen Studioalbum „A Bigger Bang“ kein einziges gemeinsames Werk mehr zustande gebracht haben, und sich nun wieder ausschließlich auf das Veröffentlichen von „Greatest-Hits“-Zusammenstellungen beschränkt haben? Ist es nicht so, dass man Songs wie „(I Can’t Get No) Satisfaction“, „Angie“ oder „Jumpin‘ Jack Flash“ aufgrund ihres möglicherweise belastenden „Heavy Rotation“-Status‘ mittlerweile in eine Reihe mit akustischen Folterwerkzeugen wie „We Will Rock You“, „We Are The Champions“ oder „Smoke On The Water“ stellen könnte? Nun, zunächst einmal mag hinter all diesen oberflächlichen Vorwürfen ein Fünkchen Wahrheit stecken… Doch um einfach Mick Jaggers Revoluzzer-Alter-Ego aus „Street Fighting Man“ zu zitieren: „Well, then what can a poor boy do / Except to sing for a rock ’n‘ roll band?“ – diese Herren spielen seit den frühen Sechzigern (Jagger, Richards und Watts) beziehungsweise Siebzigern (Wood) zusammen, sie können gar nicht(s) ander(e)s. Sex, drugs and Rock ’n‘ Roll? Sind sie, durch und durch. Nicht umsonst ranken sich um wohl keine andere Rockband so viele Mythen, Geschichten und Gerüchte (okay: fairerweise seien an dieser Stelle noch The Who und Led Zeppelin erwähnt). Nicht umsonst gilt Mick Jagger trotz keineswegs blendendem Aussehen – nebst Jim Morrison – bis heute als Personifizierung des männlichen Rockstars. Lässt Keith Richards‘ Rauschmittelkonsumhistorie zwar Romane wie Hunter S. Thompsons „Fear and Loathing in Las Vegas“ wie das Tagebuch einer Klosterschülerin erscheinen, doch bricht sich „Ol‘ Keef“ anderseits beim Klettern auf eine Südseepalme fast das Genick. Erkrankt 2004 ausgerechnet der – verhältnismäßig – am gesündesten lebende Charlie Watts an Kehlkopfkrebs. Sieht man den alten Schwerenöter Ronnie Wood nie ohne die obligatorische Kippe im Mundwinkel und die deutlich jüngere Begleitung im Arm (mittlerweile ist er in dritter Ehe mit der 31 Jahre jüngeren Theaterproduzentin Sally Humphreys verheiratet). Die Rolling Stones – die fleischgewordene Vier-Mann-Show aus Rock’n’Blues’n’Pop. Ein Orkan aus Mythen, Rhythmen und Erfolgen, der vor mehr als fünf Jahrzehnten – von England aus – begann, um die Welt zu kreiseln. Jahreszeiten, Regierungen und Trends kommen und gehen – die Stones spielen. Und so viel auch dran sein mag am seit jeher schwierigen Spannungsverhältnis von „Mick’n’Keef“, so sehr darf man vermuten, dass Jagger auch noch in den kommenden Jahren seine bekannte große Klappe über die Bühne tragen wird, während Richards in gewohnter Lässigkeit die Riffs raushaut und Watts und Wood bedächtig grinsend für’s musikalische Grundgerüst sorgen – neues Studioalbum hin oder her, Hits sind auf alle Zeit vorhanden. Und über allem strahlt dieser blutrote Mund mit ausgestreckter Zunge… Bis dass der Tod sie scheidet.
Wer nach der im vergangenen November anlässlich des fünfzigjährigen Bandjubiläums veröffentlichten „Greatest-Hits“-Zusammenstellung „Grrr!“ (eine Diskussion über die Sinnhaftig- wie Sinnlosigkeit würde speziell bei den Rolling Stones wohl den Rahmen sprengen) ein weiteres aktuelles Medium der Stones’schen Relevanz benötigt, dem sei das jüngste Live-Album „Hyde Park Live“ ans Herz gelegt. Dieses wurde während der beiden Konzerte der Band am 6. und 13. Juli diesen Jahres im – klar! – Londoner Hyde Park mitgeschnitten und nur wenige Tage darauf – am 22. Juli – exklusiv im iTunes Store zum digitalen Verkauf angeboten (bis zum 19. August!). Und obwohl vor allem Liveauftritte nach mehr oder minder fünfzig gemeinsamen Jahren für diese Band so routiniert ablaufen wie kaum etwas sonst, spricht allein die Tracklist, unter deren neunzehn Stücken sich übrigens lediglich sieben Überscheidungen zum 2008 veröffentlichten Livealbum „Shine A Light
“ finden, bereits für sich:
TRACKLISTING
1. Start Me Up
2. It’s Only Rock ‘N’ Roll
3. Tumbling Dice
4. Emotional Rescue
5. Street Fighting Man
6. Ruby Tuesday
7. Doom And Gloom
8. Paint It Black
9. Honky Tonk Women
10. You Got The Silver
11. Before They Make Me Run
12. Miss You
13. Midnight Rambler
14. Gimme Shelter
15. Jumpin‘ Jack Flash
16. Sympathy For The Devil
17. Brown Sugar
18. You Can’t Always Get What You Want
19. (I Can’t Get No) Satisfaction
Außerdem traten die Rolling Stones – man glaube es kaum – 44 Jahre nach ihrem ersten Auftritt im ehrwürdigen Londoner Hyde Park, als die Band am 5. Juli 1969 – und damit nur zwei Tage, nachdem der damalige Leadgitarrist Brian Jones in (s)einem Swimmingpool ertrank – ein kostenloses Konzert gab, wieder an gleicher Stätte auf. Natürlich weiß der kundige Stones-Hörer bereits im Voraus, was einen erwartet: Hits, Hits, Hits – garniert mit ein paar Blues-Mätzchen seitens Richards oder ein paar launigen Ansagen seitens Jagger. Anders als bei vielen anderen Auftritten der unlängst absolvierten, 18 Konzerte kurzen „50 & Counting“-Tournee durch Nordamerika und Europa hält sich der knapp zweistündige Zusammenschnitt der beiden London-Konzerte mit prominenten Gastauftritten zurück, lediglich das langjährige Bandmitglied Mick Taylor ist beim zwölfminütigen „Midnight Rambler“ zu hören. Bei anderen Auftritten begrüßten Jagger & Co. unter anderem Bruce Springsteen, Lady Gaga, Dave Grohl, die Black Keys, Gwen Stefani, Eric Clapton, Florence Welch (Florence and the Machine), Mary J. Blige, Tom Waits, Sheryl Crow oder Taylor Swift auf der Bühne – wer lässt sich bei einer Einladung zum Duett mit den „Dinosauriern des Rock’n’Roll“ schon zweimal bitten?
Alles in allem ist „Hyde Park Live“ ein launiger Streifzug durch die Bandhistorie der Rolling Stones, welche hier von 1965 („Satisfaction“) bis zum im vergangenen Jahr veröffentlichten „Doom and Gloom“ reicht. Einige werden gähnen, Kenner wie Fans freuen sich über dieses beinahe auf direktem digitalen Wege veröffentlichte Konzert, dem mit viel Glück vielleicht irgendwann – und zwischen drei neuen „Greatest-Hits“-Zusammenschmissen – noch ein Studioalbum folgen wird. Und Mick, Keef, Ronnie und Charlie? Die sind über jeden Zweifel erhaben – längst, für alle Zeit und sowieso. It’s only rock ’n‘ roll but I like it…
Wer also das Konzert als legalen digitalen Mitschnitt aufgreifen möchte, der sollte sich zeitnah in den iTunes Store begeben, denn das Konzert wird dort nur noch bis zum 19. August zu finden sein…
Hier gibt es eine kleine Einstimmung auf die geschichtsträchtige Rolling Stones-Show:
Rock and Roll.