„Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh’ ich wieder aus…“(aus „Winterreise“ von Franz Schubert & Wilhelm Müller)
Aljoscha Pauses kürzlich erschienene fünfteilige Dokuserie „Wie ein Fremder – Eine deutsche Popmusik-Geschichte“ beginnt mit einem Zitat aus Schuberts „Winterreise“. Und sie ist genau das: eine Reise. Eine tatsächliche, eine persönliche und eine kreative.
Der „Fremde“ im Zentrum der knapp vierstündigen Serie dürfte den meisten tatsächlich fremd sein: Roland Meyer de Voltaire. Der 1978 in Bonn geborene Musiker, der einen Teil seiner Kindheit in Moskau verbrachte, war der Kreativkopf hinter der 2011 aufgelösten Band Voltaire, die Mitte der Nuller-Jahre von der Kritik als aussichtsreiche deutsche Newcomer gefeiert wurden. Komplexe, herrlich verkopfte deutschsprachige Texte, ein Sound mit poppiger Attitüde, indierockigen Gitarrenriffs und Brüchen, dazwischen de Voltaires gerne auch in die Kopflagen lavierende Stimme. Dass der deutsche „Rolling Stone“ die Band als „schönste Aussicht auf das Jahr 2006“ neben die britischen Indie-Rocker der Arctic Monkeys stellte, half allerdings eben so wenig wie der unverhoffte große Plattenvertrag beim Major-Label Universal. Nach zwei Alben (von denen vor allem das Debüt „Heute ist jeder Tag
„, welches kürzlich sein Re-release mit Bonus Tracks erfuhr, auch heute noch wärmstens ans Hörerherz gelegt sei) erleidet der Kopf der Band finanziellen und mentalen Schiffbruch und steht nach jahrelangem Komplettfokus auf sein kreatives „Baby“ vor dem vollumfänglichen Nichts.
„Ich glaube, dass die meisten sich nicht vorstellen können, wie wenige Musiker eigentlich von ihrer Musik leben können“, fasst es SWR-Moderatorin Christiane Falk nüchtern zusammen. Sie ist, neben einigen Musikjournalisten und musikalischen Weggefährten wie Schiller, Madsen, Alina, Desiree Klaeukens, Megaloh oder Enno Bunger, eine der Stimmen dieser Dokuserie, für die Pause den Musiker sechs Jahre lang begleitete. Die beiden kennen sich schon länger, de Voltaire hat, neben anderen Projekten, die Soundtracks für Pauses Fußball-Dokus, zuletzt etwa für „Inside Borussia Dortmund„, beigesteuert. Der Bonner Regisseur hat zuvor mit seinen Langzeitstudien „Tom Meets Zizou – Kein Sommermärchen„, „Trainer!„ oder „Being Mario Götze – Eine deutsche Fußballgeschichte„ die Fußball-Szene durchleuchtet. Jetzt gewährt er einen Einblick in das Leben eines Musikers und in den deutschen Popmusikzirkus.
„Nach meinen jüngsten Doku-Serien für Amazon und DAZN geht es mit dieser Serie einerseits wieder back to the roots: diese Doku ist Independent von Kopf bis Fuß, wie einst mein Film ‚Tom meets Zizou’. Andererseits geht es auch zu neuen Ufern: Popmusik.“ (Aljoscha Pause)
Bei den ersten Begegnungen im Jahr 2014 wirkt Roland Meyer de Voltaire wie ein Gestrandeter, wie er da in seinem Kölner WG-Zimmer wohnt und am Existenzminimum herumkrebst. Die Miete muss er teils mit Instrumentenverkäufen zusammenkratzen, teils von Familie und Freunden leihen, teils vom Dispo aus besseren Zeiten finanzieren. „Da gibt es kein Mandat für einen tollen Musiker, dass er da irgend ’ne Berechtigung hätte“, erklärt Musikjournalist und Musikexpress-Redakteur Linus Volkmann. In Rückblicken zeigt Pause Musikvideos und Live-Auftritte aus den good old days und lässt Expertinnen und alte Bandmitglieder ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, dass der Mann nicht völlig durch die Decke gegangen ist.
Die Serie gibt sich gerade zu Beginn viel Mühe, ein wenig Mythenbildung zu betreiben: Roland Mayer de Voltaire, die zarte Künstler-Seele, das verkannte Genie! Das mag an mancher Stelle eine Spur zu dick aufgetragen sein und soll wohl der Dramaturgie dieser recht klassisch geratenen Doku-Serie dienen. Die kommt in manchen Momenten konsequenterweise, wie man ergänzen muss, selbst wie ein Popsong daher. Es braucht halt eine Prise Pathos, ein bisschen Drama…
Und doch folgt man de Voltaire gern bei seinem persönlichen und vor allem kreativen Wandel. Ist da anfangs noch ein Störgefühl, wenn der zunächst überidealistisch wirkende Mann, unterstützt noch von seinen Eltern, sich als für die Musik geboren betrachtet, kommt im Laufe der Serienminuten immer mehr die Erkenntnis: Das ist völlig ernst gemeint, das kommt aus tiefstem Künstlerherzen – und zwar mit aller Konsequenz!
Von Köln verschlägt es de Voltaire irgendwann nach Berlin, wo er sich ohne festen Wohnsitz und in einem nomadischen Dasein in verschiedenen Wohnungen von Freunden und Bekannten neu sortiert. Wir folgen ihm nicht nur bei Alltäglichkeiten, sondern auch zu Gesprächen mit Produzenten und Managern oder in den Proberaum der deutschen Rockband Madsen, die fast zeitgleich mit Voltaire bekannt wurde, sich allerdings bis heute gehalten hat. Wir sehen den Komponisten und Soundfrickler in seinem kleinen Heim-Studio vor neuen Produktionen, an denen er arbeitet, als Ideengeber für eine Bekannte, bei der er schließlich einzieht und auch im Studio von Rapper Uchenna van Capelleveen alias Megaloh, für den de Voltaire schon länger als Gastsänger arbeitet. Was fast schon als Sinnbild für den hart umkämpften deutschen Musikmarkt herhalten kann: Trotz musikalischer Erfolge muss sich auch der Rapper nebenbei im Lager eines großen Paketlieferanten verdingen, um sich „genug Zeit und Sicherheit für seine Musik“ zu verschaffen, wie er erklärt.
„Wie ein Fremder“, das visuell zwar nicht an vergleichbare Musik-Dokumentarfilme der jüngeren Vergangenheit wie „20.000 Days On Earth“ (2014), „Cobain: Montage Of Heck“ (2015) oder „Amy“ (2015) heranreichen mag, sich stattdessen jedoch auf seinen Protagonisten sowie dessen Auf und Ab und Hin und Her konzentriert (und dabei das nötige Quäntchen Glück hat, dieses Mal mit dem gleichsam ruhigen, mitfühlenden, bescheidenen wie talentierten – und auch oft genug phlegmatischen – Roland Meyer de Voltaire einen spannenderen Charakter als den vermeintlich aalglatten Medienprofi Mario Götze vor der Kamera zu haben) ist einerseits die in Serie gegossene Entromantisierung des (nicht nur bundesdeutschen) Popmusik-Traums. Eine zugespitzte Botschaft mag lauten: Für wirkliche Kreativität ist im auf Radiotauglichkeit und ökonomische Interessen gebürsteten Showbusiness wenig bis gar kein Platz und Geld verdienen am Ende die wenigsten. Andererseits hat es zugleich etwas Romantisches, wie Pause dem selbstkritischen, teils unschlüssig herumstochernden, aber doch zielstrebigen Soundperfektionisten de Voltaire dabei zuschaut, wie er alternativlos versucht, seinen Traum zu leben.
Die kreative Reise, auf der wir ihn begleiten, scheint eine vom Licht ins produktive Dunkel: von ehemals deutschen Texten hin zu englischen, von akustischen Sounds hin zu elektronischen. „SCHWARZ“ nennt sich das Projekt, das sich langsam – und auch begleitet vom ein oder anderen Rückschlag – aus der Serie herausschält. Inspiriert von der „Dunkelheit, bevor der Film losgeht“, so de Voltaire, vermischt er 80er-Jahre-Synthesizer mit Soundscapes, die Radio Head-Kreativmotor Thom Yorke in seinen Soloprojekten eingehend kartografiert hat. Mehr Kraft als auf Platte entwickelt SCHWARZ live. Es sind starke Momente der Serie, wenn de Voltaire ausgerechnet mit dem Stück „Home“ ein neues Erfolgshoch gelingt, oder der Musiker, gemeinsam mit einer Cellistin und einer Pianistin, erstmals seit Langem wieder auf der Bühne steht und vor kleinem Publikum ein Akustik-Arrangement des Songs „Shine“ zum Besten gibt. Auch davon erzählt die Serie: Musik gehört auf die Bühne.
Wie es ihm heute, im Angesicht der Coronakrise (welcher auch die für Anfang Juni in Berlin geplante Premierenfeier von „Wie ein Fremder“ zum Opfer fiel), vieler abgesagter Konzerte und geschlossener Veranstaltungshäuser geht, ist ungewiss. Man wünscht ihm, diesem großartigen Menschen und begnadeten Künstler, jedoch nur das Beste (und wer mag, der findet hier oder hier aktuelle Interviews mit Roland Meyer de Voltaire).
Rock and Roll.