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Das Album der Woche


Iggy Pop – Every Loser (2023)

-erschienen bei Atlantic/Warner-

„Sorry, geänderte Wagenreihung“, bekommt Nico Rosberg von einem oberkörperfreien Senioren mit breitem US-amerikanischem Akzent zu hören, der auf seinem ICE-Platz sitzt. James Newell „Jim“ Osterberg aka. Iggy Pop als Werbefigur für die Deutsche Bahn? Überraschte anno 2018 höchstens diejenigen, die sich Anfang der Siebziger haben einfrieren lassen. Die Jazz-Ausflüge konnte man zwar bereits auf „Fun House“ erahnen, aber auch sonst schlug der einstige Stooges-Frontmann in seiner fast fünf Dekaden umspannenden Karriere als Solo-Musiker, Schauspieler und sowieso dauerarschcoolsympathische Persona so manche unerwartete Richtung bis hin zu Chanson-Fingerübungen ein. Und weil ihn oberflächliche Sellout-Vorwürfe genauso wenig wie alles andere jucken, konnte er für sein 19. Solo-Album auch den vierzig Jahre jüngeren, mit Arbeiten für Justin Bieber, Ed Sheeran, Miley Cyrus oder unlängst Pearl Jam erfolgreichen Produzenten Andrew Watt engagieren, ohne auch nur im Geringsten mit der Punk-Rock-Wimper zu zucken. Doch Pop hat natürlich nicht plötzlich Bock auf Pop (sic!), sondern will nach den sedierten Vergänglichkeitsreflexionen von „Free„, 2019 erschienen und von Jazztrompeter Leron Thomas produziert, im Gegenteil mal wieder richtig losrocken – dass er selbigen Rock mit Leichtigkeit aus der ledrigen Westentaschen zu schütteln vermag hatte der 75-Jährige ja ohnehin bereits 2016 beim einerseits feinen, andererseits jedoch auch nach verwehter Abschiedsstimmung duftenden „Post Pop Depression„, für welches ihm unter anderem Josh Homme von den Queens Of The Stone Age sowie Mark Helders von den Artic Monkeys unter die nimmermüden Arme griffen, unter Beweis gestellt. Und benannter Andrew Watt hat schließlich auch Leute wie Ozzy Osbourne oder Eddie Vedder im Portfolio stehen und kuratiert für „Every Loser“ daher eine verdammt namhafte Truppe, welche mit Stone Gossard (Pearl Jam) oder Dave Navarro (Jane’s Addiction) an den Gitarren, die Bassisten Duff McKagan (Guns N‘ Roses) und Eric Avery (Jane’s Addiction) sowie Chad Smith (Red Hot Chili Peppers), Travis Barker (blink-182) und dem inzwischen verstorbenen Taylor Hawkins (Foo Fighters) am Schlagzeug nicht eben ins unterste Qualitätsregalfach greift, die dem „Godfather of Punk“ seinen Wunsch erfüllen.

So spuckt gleich das eröffnende „Frenzy“ über jaulenden Saiten und brachialem Rhythmus so mit verbaler Säure um sich, dass Idles und all die anderen Bands der aktuellsten Punk-Revival-Welle erst einmal durchs Familienbuch blättern müssen. Tatsache: Iggy Pop singt nicht nur von seinem Gemächt, sondern haut hier mal eben den wohl brachialsten eigenen Song der vergangenen zwei Jahrzehnte raus: „Got a dick and two balls / That’s more than you all“. Für „Strung Out Johnny“ packt das Punk-Rock-Urgestein im Anschluss seinen gravitätischsten Bariton aus, erinnert mal wieder an seinen alten Weggefährten David Bowie und kommt auch mit diesem eleganteren Stück Synth-Rock, diesem postmodernes “Gimme Danger”, geradlinig auf den Punkt. Auf „Every Loser“ werden keine Dylan-Thomas-Gedichte rezitiert oder Houellebecq-Romane als Inspirationsstoff verschreddert, das Mission Statement des Künstlers war ein ganz simples: „The music will beat the shit out of you. I’m the guy with no shirt who rocks.“ Und mit dieser Erkenntnis schlittert der passionierte Oben-ohne-Träger, der mit seiner Frau Nina Alu seit fast 25 Jahren in Coconut Grove, einem Vorort von Miami, lebt und auch ein bescheidenes Domizil in der Karibik sein Eigen nennt, hochmotiviert und kampflustig in den mindestens drölften Frühling einer Karriere, die zwar zig Haken und Wendungen, jedoch nie wirklich Herbstlaub gesehen hat.

„Ich war oben, ich war ganz tief unten in der Gosse, und ich habe bis heute diesen Alptraum, dass ich barfuß und mit nur einem einzigen zerknitterten Dollarschein in der Tasche durch eine mir fremde Stadt laufe. Was immer auch geschehen ist oder noch geschehen wird – ich werde niemals aufhören, mich als Underdog zu fühlen.“ (Iggy Pop)

Was nicht zuletzt daran liegt, dass die Platte, wie bereits im Eingangsdoppel zum Ausdruck gebracht, keinesfalls einseitig Backpfeifen verteilt. Stattdessen lässt der 75-jährige Hanspop in allen Gassen eine altersgemäß getragene Akustikballade wie „Morning Show“ am Hardcore-Kurzschluss „Neo Punk“, der blauhaarige Poppunks, die weder singen können noch ohne Viagra einen hochkriegen, in die imaginäre Tonne pfeffert, zerschellen, während er sich athletisch durch die Stimmlagen wieselt. Das wavige Highlight „Comments“ wartet nicht nur mit einem sich unmittelbar in den Gehörgang fräsenden Refrain auf, sondern auch mit einer rüden Attacke wider die vermeintlichen Segnungen des Internets sowie einer geexten Pulle Selbstironie, die das immer wieder mit Kommerz und Biedermeier flirtende Image aufs Korn nimmt: „Sell your face to Hollywood / They’re paying good, paying good / Sold my face to Hollywood / I’m feeling good, looking good.“ Ist das schon Grandad-Rock? Wenn dieser immer mit so viel Spielwitz, Augenzwinkern und Abwechslungsreichtum daherkommt: gerne mehr davon! Selbst wenn good ol‘ Iggy, der unter anderem an Skoliose, einer Wirbelsäulenerkrankung, leidet, es aufgrund altersbedingter Wehwehchen mittlerweile etwas ruhiger angehen lässt: „Ich habe mich vom Stagediving verabschiedet, mische mich zwar bei Shows immer noch gern unter die Leute, aber das mit dem Springen lasse ich sein. Ich bin ja nicht bescheuert. Es ist einfach zu gefährlich für meinen gebrechlicher werdenden Körper. Ich bin schon froh, dass ich überhaupt noch laufen kann.“ Wohl wahr, der „alte weiße Mann“ kann sich nach all den Drogenexzessen sowie (s)einem grundlegend ausufernden Lebenswandel in den Siebzigern glücklich schätzen, überhaupt noch unter den Diesseitigen zu weilen.

Foto: Promo / Vincent Guignet

Dass das Album seinem Ansatz geschuldet ein paar Tiefenschichten vermissen lässt und nicht ganz an Pops größte Meisterwerke herankommt, ist ein komplett zu vernachlässigender Nicht-Kritikpunkt, wenn Songs wie „Modern Day Rip Off“, quasi „Frenzy“ Teil 2, das auch den Asheton-Brüdern gefallen hätte, oder das vom ebenso verstorbenen Taylor Hawkins über die Serpentinen getrommelte „All The Way Down“ so viel Spaß machen. Das zwischen Spoken Word und Stadion-Melodiebogen changierende, Klimakrise mit L.A.-Swagger kombinierende „New Atlantis“, das ironisch zwischen Therapiesitzung und Tanzsaal swingende Minuten-Epos “The News For Andy” sowie der dezent proggige, gegen das korrupte Hollywood- und Musikbranchen-Babylon ätzende Closer „The Regency“, gegen den „Won’t Get Fooled Again” wie Kammermusik wirkt, schielen in Richtung Epik und untermauern endgültig den eigenen Schädel des dahinterstehenden Mannes. Ist es also verwunderlich, dass „Every Loser“ den musikalischen Blinker auf links legt und dermaßen auf die Überholspur zieht? Bei anderen 75-Jährigen wohlmöglich schon, aber Jim Osterberg, die olle Lederhose des Punk Rock, hatte ja schon immer zig Überraschungen in petto. So sitzt Iggy Pop, der untote Nihilist des Rock’n’Roll und neben Keith „Keef“ Richards der arschcoolste (noch lebende) Altvordere im Rock-Business, im Schnellzug der Rrrrrrockgeschichte da, wo er, Scheiße noch eins, eben will, und lässt sich höchstens von den eigenen Launen – oder seinem musikverrückten Kakadu Biggy Pop – von seinem Platz vertreiben. Da kann selbst ein ehemalige Formel-1-Weltmeister wie Nico Rosberg nur verdutzt auflachen.

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Everyone Everywhere – Everyone Everywhere (2012)

Everyone Everywhere 2012 (Cover)-erschienen bei Big Scary Monsters-

Wer heutzutage mit seiner Musik mehr als tiefrote Zahlen schreiben möchte, der muss sich schon etwas einfallen lassen und zumindest die Grundfesten des viralen Marketings – sprich: Facebook, Bandcamp, Web 2.0 – für sich zu nutzen wissen. Wenn man dazu noch einige einfallsreiche Gimmicks „on top“ zu setzen weiß, ist einem zumindest eine kurze digitale Aufmerksamkeit sicher…

Auch die aus Philadelphia, PA stammende Band Everyone Everywhere weiß die ihnen zur Verfügung stehenden multimedialen Kanäle gewinnbringend für sich zu nutzen. Im Zuge der Veröffentlichung ihres – erneut – unbetitelten/selbstbetitelten zweiten Albums im Herbst dieses Jahres bot das Vierergespann die Vinylversion plus einer DVD mit Musikvideos für die besonders Schnellen unter ihren Hörern via Bandcamp komplett „for free“ (!) an – die Aktion musste nach etwa 20 Minuten gestoppt werden, da der verfügbare Bestand an LPs bereits vergriffen war. Mehr noch: Gitarrist Tommy Manson, der sich hauptberuflich um die wirtschaftlichen Belange von größeren Hollywood-Produktionen kümmert (aktuell etwa M. Night Shyamalans neustes Projekt „After Earth“) und zur Abwicklung der Bandcamp-Verkäufe bisher seine Arbeits-Email-Adresse nutze, konnte sich vor weiteren Anfragen kaum retten, denn auch die digitalen Vorbestellungen des Albums preiste die Band mit unsagbar fanfreundlichen 50 Dollar-Cent aus. Und da Everyone Everywhere im vergangenen Jahr – nach eigenen Angaben – lediglich 43 Platten über die eigenen digitalen Vertriebswege absetzen konnten und bereits mit dem 2010 erschienen Vorgänger das von Künstlern wie Radiohead populär gemachte „Pay-What-You-Want“-Prinzip testeten, hatten zwar alle auf ein positives Feedback zum neusten Werk gehofft, jedoch nicht mit einem derartigen Ansturm gerechnet, welcher ihnen sogar eine Erwähnung auf der Internetausgabe des Forbes-Magazins einbrachte. Zusätzlich bot man das aktuelle Album bei Erscheinen im August 2012 auf höchst ungewöhnliche Weise als Stream an: die Band ließ das komplette, knapp 40 Minuten lange Album im Youtube-Video durchlaufen, während die Vier zu den eigenen Klängen auf zwei ausziehbaren Couches ein Nickerchen hielten.

Everyone Everywhere (PressPhoto)

Doch werden die neun neuen Songs all dem „Tam-Tam“ im Vorfeld gerecht? Nun – ohne es böse zu meinen: ohne all die innovative Selbstvermarktung hätten garantiert weniger Leute Wind von der Musik der Band bekommen, denn wie der ebenfalls unbetitelte/selbstbetitelte Vorgänger steckt auch das aktuelle Album von Everyone Everywhere knietief im DIY-Indierock der Neunziger, in einer Zeit, in der Jimmy Eat World noch nicht um ihr popgerechtes Stück vom Stadionrockkuchen baten und Sunny Day Real Estate traurigen Teenagern und Twentysomethings noch aus der Seele schrieen. Zwar kommt ein nicht unbeträchtlicher Teil der Songs hier auf wunderbar harmonisch-leichten Gitarrenfüßen daher („The Future“), doch der – im positiven Sinn – rückwärtsgewandte, ja fast traditionelle Indierock quillt den meisten Stücken aus jeder Klangpore. Die Schnelligkeit kratzt am Punk und gönnt sich eine angenehme Prise Pop, ebenso wie ein abwechslungsreiches Schlagzeugspiel à la Bloc Party und versponnene Gitarrenlinien, die sich auch schon mal ins dissonante Minisolo hineinwagen („Turn & Go & Turn“). Besonders toll gelingen die Spannungsbögen im Opener „I Feel Exhausted“: bedächtige Gitarren, in die sich nach und nach mehre Schlagzeug- und Feedbacklinien drängen und wickeln, um dann zum vollwertigen Indierocker auszuwachsen. Toll auch, dass vereinzelt die gewohnte „Gitarre-Bass-Schlagzeug-Gesang“-Mixtur durch Saxofon und Bläser („Queen Mary II“) oder ein Banjo (am Ende von „Fervor & Indifference In The Bicameral Brain“) aufgelockert wird.

Everyone Everywhere (PressPhoto 2)

Auch in den von Sänger/Frontmann Brendan McHugh vorgetragenen Texten bilden sich melancholische Einheiten: mal singt er von Wut und dem Hier und Jetzt („I’ve called off the search / I know exactly where you are / I’ll give you the time / If you at least call / … / I want to smash things / I want a coffee / I want to punch myself repeatedly / Let’s watch a movie / Expend no energy / And just be / Can we just be?“ – „I Feel Exhausted“), vom Wegdriften aus dem tristen Alltag („Queen Mary II“), vom Älterwerden („Big Hat“), von Zukunftsängsten („We’ve been right about things like evolution / But if the planet’s burning up and no one knows?“ – „Fervor & Indifference In The Bicameral Brain“), den Träumen vom Berühmtsein und von der erfüllenden Unbeschwertheit des „amerikanischen Traums“ („$1,000,000,000“), vom Sich-treiben-lassen („We can move around / Do nothing / Feel nothing / We can go around / See nothing / Say nothing / We can rewrite / Something“ – „No Future“) oder einfachen Alltagsgedanken („Wild Life“).

Everyone Everywhere erfinden während der 40 Minuten ihres zweiten Albums das Indierock-Rad keinesfalls neu, liefern jedoch eine gelungene potentielle Grundlage als musikalische Kopfhörer-Untermalung für den nächsten Herbst- oder Winterspaziergang, wenn die Tage und Wochen grau, düster und kaugummiellenlang erscheinen und man für einen Moment nicht an morgen denken, sondern einfach den eigenen Gedanken hinterher hängen möchte. Das 2012er Album der US-Indierocker besitzt Tiefe, setzt dem Hörer jedoch nicht mit übermäßiger Schwere zu. Freunde von Pale, Jimmy Eat World, Death Cab For Cutie oder den Weakerthans dürfen hier gern einmal mehr als ein Ohr riskieren…

Aktuell bieten Everyone Everywhere die digitale Albumversion über ihre Bandcamp-Seite für den Minimalbetrag gerade einmal einem (!) Dollar an, den Vorgänger von 2010 sowie die Debüt-EP „A Lot Of Weird People Standing Around“ haut das Quartett wahlweise sogar „für lau“ raus. – DIY mit Neunziger-Ethos, mit den Mitteln von heute. Aufgepasst: hier denkt eine Band mit!

 

Hier kann man sich das komplette Album anhören…

…und hier die Videos zum ungewöhnlichen Albumstream…

 

…sowie zu „Queen Mary II“, bei welchem die Band mit minimalen Mitteln und maximaler Selbstironie Bilder von hohem Unterhaltungswert schaffen, begutachten:

 

Rock and Roll.

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