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Song des Tages: Dota Kehr – „Kompliziertes Innenleben“


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Foto: Promo / Annika Weinthal

Klare Sache, eigentlich: Dorothea „Dota“ Kehr scheut das Risiko nicht. Für die Berliner Musikerin, die seit über zehn Jahren vor allem wegen ihrer oft genug brillanten, vielschichtigen und lebendigen Texte gefeiert wird (so auch vor einigen Monden auf ANEWFRIEND), hat es schon eine gewisse Fallhöhe, wenn man diesen Bereich – erstmalig – mit Fremdschöpfungen abdeckt. Und auch nicht mit irgendwelchen: Die Texte auf ihrer neuen Platte „Kaléko„, dem Nachfolger zum 2018er Album „Die Freiheit„, welches seinerzeit immerhin Platz 11 der deutschen Album-Charts erreichte, stammen von der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko – alle mit einer Hornbrille bestraften Schulstreber freuen sich nun sicherlich schon über Musik-, Deutsch- und Geschichtsstunden in einem, schließlich schuf die Schwester im Geiste eines Joachim Ringelnatz oder Erich Kästner in den 1920 und -30er Jahren in Berlin ihre innige, bisweilen ironische, oft herzblutig beseelte Großstadtlyrik, bevor sie als deutsche Jüdin in den Jahren vor Hitlers Machtergreifung nach New York emigrieren musste. Die verwendeten Texte, welche Kehr in einem Lyrik-Band, dem ihr vor einiger Zeit ein Konzertbesucher überließ, fand, sprühen tatsächlich vor Witz, sind manchmal nachdenklich, aber eigentlich immer eine Bejahung des Lebens und des jetzigen Moments. Dies packt die 40-jährige Liedermacherin mit ihrer Band dem damaligen Zeitgeist entsprechend in eine akustisch gewichtete Musik, die so tatsächlich oft einen Wink in Richtung Weimarer Republik und deren kulturellem Flair bietet. Ja, die schlichte Eleganz und zeitlose Strahlkraft von Kalékos Dichtkunst passt der Hauptstadt-Liedermacherin, welche einst als „Kleingeldprinzessin“ durch bundesdeutsche Fußgängerzonen tingelte, wie angegossen.

61gjjlNSfOL._SS500_Nur eines fällt dann doch auf: So charmant und beseelt Mascha Kalékos Texte auch sind – ein wenig eindimensional erscheinen sie – eventuell (auch) ihres Alters wegen – dann doch, wenn sie etwas platt und zu gewollt in Richtung Wortspiel schielen. Passagen wie „Eines Morgens wachst Du auf / Und bist nicht mehr am Leben“ oder „Die anderen sind das weite Meer / Du aber bist der Hafen“ mag zwar im ersten Moment eine gewisse Wucht innewohnen, doch sind sie auch eine Idee zu naheliegend und plakativ. Schlussendlich  ist „Kaléko“ jedoch ein Musikalbum, und so zählt auch die Kombination mit ebenjener (der Musik) – und da punktet die Platte in vielen Bereichen recht ordentlich. Denn Kehr hat eine Geheimwaffe im Köcher: ihre Gesangspartner, die eine Vielzahl der Songs mit Dota teilen. Der olle Bohemian Max Prosa gibt einen wunderbar beruhigenden Widerpart zu Dotas heller Stimme in „Für einen“ und vermittelt Gemütlichkeit, gar Geborgenheit auf wunderbar unaufgeregte Weise. Auch das fluffig dahin schunkelnde „Kein Kinderlied“ hat einen Schuss Extra-Witz, erhält aber auch dank der Kooperation mit Uta Koebernick gesangliche Harmonie.

Fest steht außerdem: Der kernig knisternde, von müder Lebenserfahrung geprägte Gesangspart Hannes Waders, der in diesem Jahr auch schon 78 Lenze jung wird, in „Auf eine Leierkastenmelodie“ ist ein emotionales Highlight. Die Gitarre tönt hier tatsächlich wie eine alte Drehorgel, Sehnsucht und die Vergeblichkeit derselben wachsen im Zusammenspiel der kontrastreichen Stimmen zu einer dicken Träne, die dem Hörer still die Wange hinunter kullert. „Kompliziertes Innenleben“ mit Konstantin Wecker, eher im abgedämpften Pathos unterwegs, verarztet mit seinem Text über Abschied, Nähe und die widersprüchliche Natur der Sehnsucht sowie durchaus angespannter Songstruktur erneut ein melancholisches Sehnen, das sich erstaunlich weich anschmiegt. Außerdem zu Duetten mit an Bord: Francesco Wilking (Die Höchste Eisenbahn), Karl die Große, Felix Meyer (wobei es ein weiterer Song mit ihm, das feine „Zum Trost„, eigenartigerweise nicht aufs Album geschafft hat) oder die befreundete Singer/Songwriterin Alin Coen (da gilt gleiches für „Gib mir deine kleine Hand„).

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Willkommene Einwürfe sind die zwei jazzig angehauchten Instrumentals, welche sich vom recht klassischen Aufbau der eigentlichen Songs entfernen. Hier findet man auch mal jene aus der Reihe tanzenden Verrücktheiten und Spleens, die dem Rest der Platte bei aller sorgsamen Behandlung ein wenig abhanden gekommen sind und bei Dota früher noch recht häufig anzutreffen waren. Ein weiterer Wermutstropfen von „Kaléko” ist auch die Kürze der einzelnen Stücke. Die meisten pendeln sich bei knapp zwei Minuten ein, wodurch der Fokus natürlich verstärkt auf den Texten liegt, obwohl bei einigen Nummern auch deutlich mehr Raum für instrumentale Ausflüge gewesen wäre, denn schließlich gibt es einige Songs auf dem Album, denen genau das gelingt: Gerade einmal sieben Zeilen braucht Kaléko in ihrem Gedicht „Für Chemjo zu Pessach 1944“, um ein Gefühl auf den Punkt zu bringen, über das andere ganze Bücher schreiben. Demnach braucht auch Dota Kehr nicht einmal eine Minute, um den Text, begleitet von zurückhaltender Gitarre und Tastenklängen mit ihrer unaufgeregten Stimme, zu vertonen. Was darauf folgt, sind fast zwei Minuten schönstes Blechbläser-Solo, dessen Melodiebögen und Phrasierungen denen Dotas in nichts nachstehen. Das Stück wirkt wie ein Dialog zwischen den beiden Liebenden, der sich nach dem Gedicht ereignen könnte, und geht erfreulicherweise einen Schritt weiter, als lediglich bloße Vertonung zu sein. Eine Ausnahme? Ja, aber eine gute! Schlussendlich ist „Kaléko“ ein liebevoll ausgearbeitetes Album, welches sich an mancher Stelle jedoch zu voreilig – und eventuell ein wenig zu ehrfürchtig – mit gängigen Strukturen zufrieden gibt. Und so manchmal eben doch das Risiko scheut.

 

„Es ist mir eine ganz besondere Freude, dass Konstantin Wecker bei diesem Lied mitsingt. Wir haben uns in Dresden getroffen und im Backstage-Raum aufgenommen. Das war sehr konzentriert.“ (Dorothea „Dota“ Kehr über die Entstehung des Songs „Kompliziertes Innenleben“)

 

 

(Übrigens: Ein recht gut zur aktuellen Weltlage passendes Reicht aus der Feder von Mascha Kaléko fand sich unlängst am „Gesuche“-Brett eines Leipziger Supermarktes wieder…)

 

Rock and Roll.

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Die Höchste Eisenbahn, Desiree Klaeukens & André Baldes im Musikbunker, Aachen, 11. Februar 2014: Ganz alltägliche Charmegranaten…


Die Höchste Eisenbahn

Die Tücken des Tourneealltags… Da kommt Francesco Wilking, die eine singende Frontmannhälfte der Höchsten Eisenbahn, einmal zu spät zum Soundcheck des Tourstopps im Aachener Musikbunker, und dann das! Weder ist ihm klar, wo zum Teufel sich denn der richtige Eingang befindet (ich kenne das Problem, ging es mir doch vor einigen Monaten als Besucher kaum anders), noch trifft er jemanden an, der ihn herein lässt. Auch die bereits wohl emsig probenden Bandkollegen Moritz Krämer, Felix Weigt und Max Schröder kann er telefonisch nicht erreichen (Handyempfang vs. Bunkerkatakomben – keine gute Paarung!). Nur durch Gevatter Zufall gewährt im ein Hausmeister Eintritt. Und der weiß darauf nicht einmal, wo im Gelände denn für gewöhnlich die Konzerte stattfinden (!). Um eines vorweg zu nehmen: Am Ende hat Wilking seine Band dann doch noch gefunden…

Wohlmöglich mag das der Grund für die leichte Verspätung gewesen sein? Und auch die Reihenfolge der drei angekündigten Bands scheint irgendwie durcheinander geraten zu sein. So betritt nicht der als „Lokalmatador“ agierende Aachener Musiker André Baldes als Erster die Konzertbühne, sondern Desiree Klaeukens. Am Ende ist dieser Tausch jedoch keine so schlechte Wahl, denn müsste man die Songs der Wahl-Berliner und gebürtigen Duisburger Liedermacherin mit wenigen Worten beschreiben, so würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit folgende Begriffe besonders oft fallen: zart, anschmiegsam, herzwarm und unaufdringlich. Und in der Tat benötigt die Endzwanzigerin einige der etwa dreißig Auftrittsminuten, um mit dem anwesenden Konzertpublikum – bis zum Ende des Abends ist der Raum gut gefüllt – warm zu werden. Bei den ersten Stücken ihres kürzlich erschienenen Debütalbums „Wenn die Nacht den Tag verdeckt“ blickt Klaeukens meist ein wenig verschüchtert zu Boden, sucht Orientierung beim mitgereisten Gitarristen (normalerweise hat sie deren zwei dabei, nur heute eben nicht, da der andere „arbeiten musste – mit Musik verdient man ja heutzutage kein Geld mehr“, wie sie nur halb scherzhaft zugibt) und taut er langsam auf. Dann jedoch erzählt sie kleine Anekdoten über die Songpräferenzen des älteren Teils ihres Konzertpublikums (die mögen das Stück „Züge“ wohl, weil es so „schön schunkelig“ sei), von der kürzlichen Heimat-Stippvisite bei ihren Eltern in Duisburg oder den unverschämten Wucherpreisen ihres Albums beim Onlinehandelsriesen mit dem „A“. So oder so – am Ende hat Desiree Klaeukens, zu deren Fans, den formidablen Reviews des „Spiegel“ oder „Musikexpress“ nach zu urteilen, nicht nur die bundesdeutsche Musikpresse, sondern auch bekannte Musikerkollegen wie Niels Frevert, Tom Liwa oder Gisbert zu Knyphausen zählen, die anwesenden Studenten und Pärchen, aber auch die grau melierten Besucherteile scheinbar von sich überzeugt. Selbstbewussteren Auftritten der gelernten KfZ-Mechanikerin (!) sollte also nicht im Wege stehen – schon gar nicht die Qualität ihrer Songs, in denen sie mit einer Menge sprödem Charme von den kleinen und großen Dingen im Leben, vom zähen Ringen mit der Liebe und von unausweichlichen Abschieden erzählt. Auch André Baldes macht nicht all zu viele Worte um seine Musik. Muss er auch nicht. Gemeinsam mit seinem Bassisten und Schlagzeuger lässt er, der sich auf seiner Homepage nicht eben unzutreffend als eine „Mischung aus Dave Matthews, Damien Rice und Clueso“ inklusive „einer markanten Stimme und intelligenten deutschsprachigen Texten“ beschreibt, die Stücke seines vor wenigen Monaten veröffentlichten Albumdebüts „Vorhang und Statisten“ für sich sprechen. Zwar fehlt da und dort noch der vielbeschriebene „zündende Funke“ zum Erfolg, insgesamt jedoch können sich Baldes und seine Musik durchaus hören lassen.

Gegen 22.30 Uhr ist es dann aber Zeit für die Hauptband des Abends, Die Höchste Eisenbahn. Wie Desiree Klaeukens und André Baldes veröffentlichte auch das Berliner Quartett vor wenigen Wochen sein Debütwerk „Schau in den Lauf Hase„. Dabei sind Francesco Wilking (als Frontmann der Indiepopper Tele und solo), Moritz Krämer (solo), Felix Weigt (als umtriebiger Multiinstrumentalmusiker für Kid Kopphausen oder Lena Meyer-Landrut) und Max Schröder (unter anderem bei Tomte, als „Olli Schulz & Der Hund Marie“, nur als „Der Hund Marie“ oder unter eigenem Namen und dem Zusatz „& Das Love“ musizierend) freilich alles andere als grünschnäblige Newcomerkücken. Gut, klar – das ließe sich bereits an ihrem Äußeren vermuten, das mal munter verschlurft im Norwegerpulli und RUN DMC-Shirt (Wilking), mal mit norddeutsch adretten Cardigan-Flair (Weigt), mal mit holzbehauenem Fünfeinhalb-Wochen-Bart (Schröder) oder als unscheinbare grau verhuschte-verspulte Pulli-Maus (Krämer) daher kommt. Doch schon nach dem Setlist-Einstieg mit dem Krämer-Song „Aliens“ wird klar: Die Vier muss man einfach mögen! Dabei zieht die Band gar keine große Show ab. Im Gegenteil: Die Höchste Eisenbahn wirkt auch auf der Bühne so herzlich normal und unaffektiert, dass man fast meint, man wäre Gast bei einer ihre Proberaum-Sessions. Dabei ziehen die vier Musiker ihre, neben dem kiloweise vorhandenen Charme, wohl größte Trumpfkarte, ihre Professionalität, aus dem Ärmel, würzen mit dieser jedes gespielte Stück nach, bis es um ein Vielfaches besser und homogener als auf Konserve klingt (und dabei war das, was man da hören konnte, schon nicht von schlechten Eltern!), wechseln munter zwischen den Instrumenten hin und her (bis auf Schröder, der fest hinterm Drumkit klemmt) und garnieren die Pausen zwischen den Songs mit amüsanten Unterhaltungen, bei denen jedoch jeder seinen festen Platz zu haben scheint: Weigt als Animateur aus dem Hintergrund, Wilking als Band-Regisseur, Krämer als stiller Kommentator und Schröder als lauschende Stimme aus dem Off. Auch das Publikum wird mit Refrain-Gesängen bei „Was machst du dann“ eingebunden, darf zum großen „Raus aufs Land“ träumend die Lippen bewegen, das tierische Ratespiel aus „Isi“ weiterspinnen, bei „Allen gefallen“ erleben, wie die Band die Synthesizerflächen der Albumvariante durch deutschpoppende Postrock-Wände á la Casper (of „XOXO“-Fame!) ersetzt oder den regulären Abschluss „Die Uhren am Hauptbahnhof“ – samt der auf Italienisch gesungenen Passagen von Francesco Wilking! – noch minutenlang nachklingen lässt. Nach 90 Minuten und „Der Himmel ist blau“ (von der 2012 erschienenen „Unzufrieden EP„) als letztem Zugabenstück ist Schluss. Bis dahin hatte die Höchste Eisenbahn freilich fast alle bislang gemeinsam geschrieben Lieder zum Besten gegeben – ist doch Ehrensache!

(An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der an diesem Abend anwesende und zuständige Tontechniker selbst für die nicht eben schlechte Akustik des Musikbunkers einen ganz ausgezeichneten Job gemacht hat, was nur noch mehr zu einem rundum gelungenen Konzertabend betrug… Danke.)

Tour 2014

 

 

Konzertimpressionen? Bekommt ihr hier:

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Hier kann man sich die Musikvideos zum „Eisenbahn“-Song „Was Machst du dann“…

 

…und das zu Desiree Klaeukens‘ Lied „Warm in meinem Herz“ (welches bei Gefallen aktuell sogar hier zum kostenlosen Download bereit steht) anschauen:

 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Die Höchste Eisenbahn – Schau in den Lauf Hase (2013)

Schau in den Lauf Hase (Cover)-erschienen bei Tapete/Indigo-

Immer diese Doppeldeutigkeiten! „Die Höchste Eisenbahn„? Sollte damit tatsächlich die „Lhasa-Bahn“ gemeint sein, der seit 2006 von Peking aus über einen 5000 Meter hohen Pass bis ins tibetanische Lhasa fährt? Wohl kaum. Obwohl auch das gerade bei dieser Truppe bunt musizierender Songwriterhunde kaum verwunderlich wäre…

Vielmehr haben hier Moritz Krämer, Tele-Kopf Francesco Wilking, Schlagzeuger und Heike Makatsch-Freund Max Schröder (u.a. Tomte, Olli Schulz & Der Hund Marie) sowie der multiinstrumentale Keyboarder Felix Weigt (u.a. Kid Kopphausen, Lena Meyer-Landrut) bereits den ersten doppelten Boden eingebaut. Denn natürlich war es für alle Wartenden sprichwörtlich „höchste Eisenbahn“, dass das Berliner Quartett mit dem ersten gemeinsamen Langspieler um die Ecke kam, immerhin bespielen die Jungs bereits seit Jahren – nebst Gästen wie Gisbert zu Knyphausen oder Judith „Wir sind Helden“ Holofernes – gemeinschaftlich Konzertbühnen, immerhin erschien der erste Albumvorbote – in Form der vielversprechenden „Unzufrieden EP„, bei der die beiden genannten Gäste dann auch kurze Gastauftritte hatten – bereits vor knapp einem Jahr. Und das ist erst der Anfang, denn bereits im Albumtitel „Schau in den Lauf Hase“ ist die nächste doppelte Spitze versteckt…

Die Höchste Eisenbahn #1

Dabei sagt das Cover bereits so viel: Die dreizehn neuen Stücke der Höchsten Eisenbahn sind ebenso hässlich wie faszinierend, ebenso gestrig wie modern, ebenso schlau ausstaffiert wie konventionell und dröge wie dieser abgrundtief bunt nach hipsterhafter Nostalgieschiene schreiende Pullover. Die Songs von Krämer und Wilking, die hier ihrem Talent als hervorragende deutsche Liedermacher (wird übrigens langsam Zeit, dass diese Bezeichnung ihre Reinhard Mey’sche Bräsigkeit verliert!) freien Lauf lassen, erzählen große Geschichten von kleinen Dingen, von alltäglichen Sachen, die hier zu neuem Glanz kommen. Fast scheint es, als seien die beiden tagelang mit Klampfe, Zettel und Stift (richtig: der „moderne Liedermacher“ hat gefälligst einen trocknen Reim auf Tablet- und Notebooktrends zu geben!) bewaffnet durch die Straßen der bundesdeutschen Hauptstadt gezogen, nur um mal an dieser Kreuzung, mal an jener Straßenecke oder im Café vor selbiger Halt zu machen, den Leute an der S-Bahn-Haltestelle zuzusehen oder dem Pärchen am Nachbartisch zuzuhören. Heraus kommt ein Abbild des ach so hippen, auch so allerlei Trends hinterher laufenden Großstadtmenschen – nur damit der, hasengleich, am Ende des Dauerlaufs in das Ende eines gesellschaftlichen Gewehrlaufs blicken darf…

“ ‚Allo, das ist die ‚öchste Eisenbahn“ – nach einer befremdlichen Ansage mit feinstem französischem Akzent (Frankophilie galore!) geht’s auch schon flux mit „Egal wohin“ los, in dem sich Francesco Wilking über „Traumreisen, Geldversprechen, schneeweiße Smartphonelächeln“, über „Prada, Visa, L’Oreal“, über „Morgan Stanley, Crédit Suisse“, über „Google, Apple, IBM“, über „Adidas, Danone, Siemens“, über… – ach, belassen wir’s dabei – echauffiert, während sich Moritz Krämer (noch) im Hintergrund hält. Klar, der Großstadtmensch ist die urbane Beute der gefräßigen Werbeindustrie, die ihn lenkt und schlussendlich fremdbestimmt, die ihm vorgaukelt, dass alles – Käufliche! -, Internet sei Dank, immerzu und in jedem Falle zu haben ist – „Niemand weiß so gut wie ich was gut für dich ist“. Gleich darauf gibt’s mit dem zurückgelehnten Mundharmonika-Regenbogenpopper „Body & Soul“ das Kontrastprogramm: Frühlingsgefühle statt Kommerzhatz, mediale Dauerberieselung statt ernsthaftem Diskurs, Einheit von Körper und Geist als egomaner Gegensatz zur Gemeinschaft („Ich will meinen Namen hören aus jeder Stadt und jedem Dorf“). In den folgenden Stücken erzählt das Gespann Geschichten, in denen „Isi“ im nächtelangen Alkoholrausch hoffnungslos dem Traumbild ihres Großstadtprinzen hinterher läuft – und der sich stets als grausam öde quakender, penetranter Frosch herausstellt. Oder vom befreienden Verlieben Hals über Kopf („Pullover“). Oder – in den beiden Ruhepolen „Alle gehen“ und „Blaue Augen“ – von Rastlosigkeit und dem Gefühl des Ankommens und Loslassens. Daneben kommt mit „Raus aufs Land“ auch ein Stück, welches sich schon seit Jahren im Liverepertoire von Krämer befindet, zu später verdienter Ehre und berichtet vom verzweifelten Versuch, eine längst am Alltag zerbrochene große Liebe durch die Flucht aufs Land noch einmal zu kitten – während der vermeintlich nette Nachbar von nebenan schon mit den triebhaften Hufen scharrt („Ich liebe Autofahren / Und du liebst inzwischen Kai /…/ Zu zweit mit heißem Kaffee auf der eigenen Terrasse / Keiner hat uns gewarnt, dass ich dich hier so schnell hasse / Dieses Haus ist nichts als Pappe / Ein Gerüst ist ein Gerüst ist ein Gerüst ist ein Gerüst… / Ist es das, was du nur wolltest, was immer stank? / In unserer Zwei-Zimmer-Wohnung / Meintest du das mit ‚raus aufs Land‘?“). Und natürlich sind die wahren „Aliens“ im gleichnamigen Song (ebenfalls ein längst bekannter Livefavorit von Krämer) nicht die befremdlichen Besucher, sondern diese sich gleichsam am Leben abrackernden und von A nach B hastenden Geschöpfe namens Menschen. Und freilich springt einen im exquisiten, vergroovt vom gesellschaftlichen Rattenrennen erzählenden Titelstück „Schau in den Lauf Hase“ der Wortwitz ebenso an wie die musikalischen Querverweise zu Grönemeyers „Mambo“ oder – meinetwegen – auch Paul Simons „Graceland“. Die Single „Was machst du dann“ irritiert zuerst mit fröhlich trällerndem „Schubidu“-Mädchenchor, stellt sich alsbald jedoch als große, von Wilking und Krämer im Duett durchgezogene „Scheißegal“-Hymne mit dem „Halt dich and einer Liebe fest“-Gestus eines Rio Reiser dar („Wenn eins und zwei nicht mehr drei ergibt / Wenn deine Liebe dich verlässt / Und du in die Freiheit fliehst / Was machst du dann?“). Nachdem Krämers „Allen gefallen“, mit seinen treibenden Synthieflächen der geheime Stehtänzer des Albums, aus Liebe alle gestrigen Wunschvorstellungen gen Norden fahren lässt („Ich sag‘ die Dinge, die du sagst, und / Ich mag die Dinge, die du magst, und / Ich hab‘ lachen gelernt / Seitdem lache ich gern“), versucht Wilking im Abschlussstück „Die Uhren am Hauptbahnhof“ schlussendlich, die Zeit stillstehen zu lassen – und das sogar auf Italienisch…

Die Höchste Eisenbahn #2

Zugegeben, man muss auf „Schau in den Lauf Hase“ schon so einiges in Kauf nehmen, denn die vier seltsam positiv verpeilten Musikerbestandteile der Höchsten Eisenbahn lassen ihrem Hang zum Experiment auf dem Albumdebüt freien Lauf. Natürlich dürfen Saxophone neben DX7-Keyboards, Casio-Flöten und Discobeats mit ins Studio, um sich nicht selten gleichberechtigt neben das übliche Instrumentarium (AkustikgitarreSchlagzeugBass) zu stellen. Und so klingen nicht wenige der knapp 60 Minuten nach den selig grauslichen Achtzigern, nach „La Boum“ und endlosen Großstadtsommern. Dass all das nicht zur hipsterexklusiven Revueshow oder – schlimmer noch – veritabel lahmarschen Nostalgieveranstaltung gerät, sondern – im Gegenteil! – frisch, beschwingt und lässig daherkommt, könnte kaum beruhigender sein. Denn Wilking, Krämer, Schröder und Weigt streuen ihre musikalischen guilty pleasures mit Bedacht ins Feld, das die beiden Erstgenannten mit höchster lyrischer Nonchalance beackern. Dabei präsentiert sich Francesco Wilking als deutsche Indiepop-Antwort auf Dylan (okay, mit Abstrichen…) und Moritz Krämer… ist eben Moritz Krämer, der verschlurfte Melanchozyniker, den man einfach liebhaben muss (man höre bei dieser Gelegenheit dessen zwei Jahre junges Solodebüt „Wir können nix dafür„, aber auch Wilkings Alleingangserstling „Die Zukunft liegt im Schlaf„). Gemeinsam schafft Die Höchste Eisenbahn eine höchst zeitgeistiges Portrait des ach so modernen Großstadtbewohners, oversexed und underfucked, rast-, ruhe- und ratlos, immer in Bewegung auf nach Nirgendwo, gemeinsam im Rattenrennen mit der Sichtweite von Legehennen. Dabei will doch jeder, ob nun in urbaner Enge oder auf ländlicher Weide, nur das eine: Liebe, Zuspruch und Geborgenheit… Nur gut, dass sich „Schau in den Lauf Hase“ mit allerlei väterlichen Tröstern und spitzbübischen Augenzwinkereien aus der Affäre zieht – und sich so als erstes großes popmusikalisches Berlin-Album seit Wir sind Heldens „Bring mich nach Hause“ herausputzt. Die Böden sind doppelt gesichert, es gilt, sich ein Ticket zu sichern! Und Lhasa ist weit…

„So wie ein Satz, der alles muss und nichts kann. Den hab‘ ich noch nicht gesagt, ich glaub‘, der ist jetzt mal dran.“ („Alle gehen“)

Tibet-Bahn

 

Wer die Gelegenheit hat, der sollte sich Die Höchste Eisenbahn im Zuge ihrer „Schau in den Lauf Hase-Tour 2014“ auf einer dieser Konzertbühnen gönnen…

DIE HÖCHSTE EISENBAHN
„Schau In Den Lauf Hase-Tour 2014“
(Support: Desiree Klaeukens)
08.01.14 Hamburg, Knust
09.01.14 Darmstadt, Centralstation
10.01.14 Köln, Studio 672
11.01.14 Stuttgart, Pop Freaks (Merlin)
05.02.14 Dresden, Groovestation
06.02.14 Wien, B72
07.02.14 München, Kranhalle
08.02.14 Erfurt, Museumkeller
09.02.14 Essen, Zeche Carl
11.02.14 Aachen, Musikbunker
12.02.14 Leipzig, NaTo
13.02.14 Hannover, Lux
14.02.14 Bremen, Tower
15.02.14 Osnabrück, Glanz&Gloria
16.02.14 Berlin, Lido

…und sich vorher mit diesem Interview von Eisenbahn-Viertel Francesco Wilking (geführt von jetzt.de, einem Webportal der „Süddeutschen Zeitung“), den Videos zur Single „Was machst du dann“…

 

…sowie von „Jan ist unzufrieden“ (zu finden auf der „Unzufrieden EP“)…

 

…und mit Hörproben der EP auf die Band einzustimmen:

 

 

P.S.: Ein Gruß geht mit diesem Album ins ferne Neuseeland an meinen Bruder, der ebenso die Soloalben von Moritz Krämer und Francesco Wilking mag. Ich bin mir sicher: Auch „Schau in den Lauf Hase“ wird dir gefallen…

 

 

Rock and Roll.

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